Theodor Fontane
Kriegsgefangen
Theodor Fontane

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5. Rückreise.

Am Ufer hielten Diligencen und Omnibusse, die bis Marennes und Rochefort gingen; keins dieser großen Gefährte aber hatte Lust, einen einzigen Passagier landeinwärts zu schaffen. Ich nahm also eine Art Postkutsche, nicht billig, aber doch immer noch nicht so teuer, wie wenn man in Mark Brandenburg von Buckow bis Werneuchen fährt, und rollte bei immer heller werdendem Wetter, die Hauptstraße von Marennes hindurch, in die dahinter gelegene Landschaft hinein. Ich erkannte all' die alten Punkte wieder. Dies war das Wäldchen, wo der Marketender die »Wacht am Rhein« angestimmt hatte; dies war die Wegebiegung, wo mein Ziegenfellkutscher und ein Telegraphenbeamter ihren großen Disput begonnen und eine Viertelmeile lang die Worte wiederholt hatten »vous êtes un malhonnête« und »vous êtes un grossier«Über diese Streitszene war ich in dem Kapitel Marennes absichtlich hingegangen, um den raschen Verlauf der Erzählung nicht zu unterbrechen. Ich muß aber dieses Vorganges doch noch nachträglich Erwähnung tun, weil er mir durchaus charakteristisch erscheint. Der Telegraphenbeamte, der sich aus einem Mischgefühl von Neugier und Freundlichkeit unserm Zuge anzuschließen gedachte, hatte nämlich auf dem zweirädrigen Karren meines Pelerinenkutschers Platz nehmen wollen, was diesem letzteren unbillig und eine Überbürdung seines Fuhrwerkes schien. Aus dieser Geringfügigkeit entspann sich nunmehr ein Disput, der mindestens eine Viertelstunde dauerte, und während dieser ganzen Zeit keine andre Steigerung erfuhr, als daß jeder der Streitenden erst ein je vous assure und schließlich (als höchsten Trumpf) ein je vous jure jenen oben zitierten, immer wiederholten Worten hinzusetzte. Es machte einen unglaublich ärmlichen Eindruck, und ich kann sagen, ich empfand einen gewissen Stolz darüber, in Gegenden zu Hause zu sein, denen man Reichtum und Produktionskraft nach dieser Seite hin nicht absprechen wird., und dies endlich war das Dorf und die Auberge, wo in das Gewirr der Stimmen und das Geklapper der Kaffeetassen hinein die Schlagtriller der Kanarienvögel erklungen waren. War jener Tag schön gewesen, so war dieser doch schöner, trotz eines leisen Druckes, den ich nach wie vor auf dem Herzen spürte.

Die französischen Kutscher fahren brillant; schon um 2 Uhr rasselte die Kutsche über das Vorstadtpflaster von Rochefort. An dem alten Stadttor, in Nähe einer großen Esplanade, hielten wir.

Ich hatte zwei Gänge in Rochefort zu machen, den einen um der Pietät, den andern um der Respektabilität willen, Diesen zweiten Gang macht' ich zuerst. Es war nämlich unmöglich, den blauen Kattunsack, diese in ihrer Art vollendete Leistung meines Rasumofsky, als Handgepäck eines première-classe-Reisenden beizubehalten; – dieser Sack allein schon wäre eine beständige Denunziation gewesen. Ein Tausch also mußte sich notwendig vollziehen. An einem squareartigen Platz, inmitten der Stadt, fand ich endlich eine Reiseeffektenhandlung, trat ein und hatte einen kleinen degenerierten Franzosen vor mir, der nicht aussah, als ob er die letzten Kraftanstrengungen der Republik seinerseits unterstützen wolle. Ich kaufte eine leidlich elegante Tasche, bat, den Prozeß des Umpackens sofort vornehmen zu können, und löste diese Aufgabe, die bei der Beschaffenheit meiner Effekten nicht eben leicht war, mit Geschick und Dezenz. Dann überreichte ich den Kattunsack mit der Bitte, diese blaue Trophäe zur Erinnerung an einen preußischen prisonnier de guerre aufbewahren zu wollen. Der kleine Mann konnte sich in diesen Worten nicht gleich zurechtfinden; nur drei Nähterinnen, die schon den Umpackungsprozeß mit Teilnahme verfolgt hatten, kicherten jetzt und blickten mich freundlich an. Dieser Erfolg genügte mir vollkommen. Ich grüßte und verschwand.

Mein nächster Gang in Rochefort galt dem Mr. Vignaud, dem Vorstande des Gefängnisses. Ich hatt' es noch dankbar in Erinnerung, daß seine sorgliche Pflege mich vielleicht vor einer ernstlichen Krankheit bewahrt hatte; so fragte ich mich denn durch Straßen und Gassen durch und zog alsbald an dem großen Holzgatter die weithin schallende Glocke. Man empfing mich wie einen alten Bekannten; »der Direktor habe eben von mir gesprochen«. Dieser saß, wie gewöhnlich, an seinem Pult und las im Moniteur universel den Meinungsaustausch zwischen dem Grafen Bismarck und dem Comte Chaudordy über Gefangenenbehandlung hüben und drüben. Ein sehr zeitgemäßes Thema. Er schob mir das Blatt zur Durchsicht hin; ein kurzes Gespräch knüpfte sich daran; ich fragte nach dem Sohn, dessen Zimmer ich bewohnt hatte; er zuckte mit den Achseln, – ein Ballonbrief war seit Wochen nicht eingetroffen. So schieden wir; ein jeder gut national und doch gute Freunde mitten im Kriege.

Der Bahnhof war ziemlich nah. Ich erfuhr, daß in dreißig Minuten ein Zug abgehe, der aber halben Wegs zwischen Rochefort und Bordeaux (in Angoulême) vier oder fünf Stunden liegen bleibe, um das Eintreffen des Hauptzuges von Orleans her abzuwarten. Mir brannte der Boden unter den Füßen. Also weiter!

Um 10 Uhr abends war ich in Angoulême. Ich nahm einen Imbiß; dann wurden die Gasflammen am Büfett gelöscht, und ein Kellner führte mich einem Bahnhofsbeamten zu, der nun den Wartesalon öffnete. Hinter mir wurde wieder zugeschlossen. Es war ein dunkler Raum; die dicht aufgeschüttete Kohlenmasse glühte nur; große Schatten gingen an der Decke hin, wenn draußen auf dem Perron sich irgend etwas regte, – es war die Infirmerie von Moulins ins Elegante übersetzt. An den Wänden entlang standen Plüschkanapees mit großen Kissen vom selben Stoff; alles bequem und einladend. Ich streckte mich, um ein paar Stunden zu schlafen. Es wollte aber nicht recht glücken, da ich bald wahrnehmen mußte, daß ich nicht der einzige Bewohner an dieser Stelle war. Auf einem zweiten Kanapee, das Kopf an Kopf mit dem meinigen stand, wurd' es unruhig, drehte und dehnte sich, gähnte dazwischen und gab allerhand andere Zeichen des Unbehagens. Endlich stand der Unruhige auf und setzte sich vor den Kamin. Die Kohlenglut gab gerade so viel Licht, daß ich ihn erkennen konnte. Es war ein junger Mann, wohlwollenden Gesichts, allem Anschein nach ein Kaufmann.

Nach einer halben Stunde waren wir im Gespräch, und ich darf wohl sagen, ich schulde ihm den glücklichen Verlauf einer Reise, von der er mir offen bekannte, daß er sie unter den obwaltenden Umständen für ein Wagnis halten müsse. »Sie müssen sich eilen; keine Aufenthalte, immer erster Klasse, – die Züge, zum Glück, greifen ineinander ein.« Sein ceterum censeo aber war: »Schlafen Sie viel, lesen Sie viel, sprechen Sie wenig!«

Etwa um 2 Uhr nachts traf der Zug von Orleans ein. An demselben Vormittage war auf dem Terrain zwischen Artenay und der Loirehauptstadt gekämpft worden; fünf oder sechs Waggons waren mit bayrischen Gefangenen und Verwundeten gefüllt, namentlich Artillerie. Sie befanden sich auf dem Wege nach Pau. Ich trennte mich von meinem freundlichen Berater, wiederholte ihm meinen Dank, und weiter ging es auf Bordeaux zu. Wir erreichten es 6 Uhr früh. Ein Fiaker führte mich über Brücken und Plätze an einem prächtigen Kai hin, von einem Bahnhof auf den andern. Nur eine halbe Stunde Rast!

Nun begann ein Fahren Tag und Nacht. Am Nachmittag in Toulouse, am Abend in Cette. Eine weite Wasserfläche dehnte sich zur Rechten; der Mond, in breitem Streifen, schimmerte drüber hin. »Was ist das?« Das Mittelländische Meer.

Weiter. Montpellier, Nismes, Tarascon. Hier gingen wir auf die Marseiller Linie über. Am Morgen in Lyon.

Lyon hat acht Bahnhöfe.

»Où est la gare de Genève?«

»C'est ici; voilà.«

»A quelle heure part le train?«

»A présent. Dans cinq minutes. Dépêchez vous.«

Im Fluge löste ich mein Billet, und weiter rasselte der Zug auf Genf zu. Nur noch zwanzig Meilen bis zur Grenze! Mir begann das Herz höher zu schlagen. Ich fing auch wieder an zu denken. Wie hatt' ich diese anderthalb Tage seit Angoulême zugebracht? Getreulich nach der Weisung meines Beraters. Die Augen geschlossen oder in ein Zeitungsblatt vertieft, so hatt' ich die langen Stunden über dagesessen. Auch in der Nacht war kein Schlaf über mich gekommen. Was geht in solchen Stunden in einer Menschenseele vor? Womit tötet man die Zeit hinweg? Hier liegen Fragen für einen Psychologen vor. Das Auge ist tot; die Landschaft spricht nicht zu ihm. Die Bilder fallen auf die Netzhaut, aber der Nerv, der uns das Bild zum Bewußtsein bringen soll, versagt seinen Dienst. Und wie keine Bilder zu uns sprechen, so sprechen auch keine Gedanken in uns. Schemen, ein geistlos-geisterhaftes Wesen, ein fieberhaft durch das Hirn gehetztes Nichts, ein Stunden- und Minutenzählen; immer dieselbe Frage: wie weit noch, wieviel Meilen noch?

Jetzt, auf dem Wege zwischen Lyon und Genf, war ich wenigstens so weit gediehen, über das Nichtdenken der vorhergehenden Stunden nachdenken zu können. Auch das schon war ein Gewinn. Dabei begann ich die letzte Nummer des »Salut public« auswendig zu lernen.

Nun waren wir in den Jura hinein; die Wälder bereift, die Häupter tief in Schnee. Ein Sturm pfiff; aber gleichviel, es ging vorwärts. Das war Bellegarde. Die letzte französische Schildwacht, den Kopf in der Kapuze, sah von der Felsenbrücke hoch oben auf unsern, ihm mutmaßlich wie Spielzeug erscheinenden Zug hernieder. Fünf Minuten rasselten wir an einem mit Holzbalkonen umschmückten Hause vorüber, das die Inschrift trug: »Café Guillaume Tell«. Also Schweiz!

Die »Bise« wehte von den Bergen her, die Maschine keuchte; unter einem hohlen Gebraus fuhren wir in die Bahnhofshalle ein.

Viktoria-Hôtel! Ich wählt' es mit gutem Vorbedacht.

Ein Blick des Oberkellners auf meinen Rochefort-Reisesack (wie hätte erst Rasumofskys Schöpfung gewirkt!) verurteilte mich zu drei Treppen. Als ich in den kleinen Raum eintrat, sang neben mir eine Pensions-Engländerin die Gnadenarie, und an dem schlecht eingehakten Fenster rüttelte und rasselte der Sturm. Gleichviel. Ich warf den Reisesack in die Ecke, mich selber aufs Sofa, kreuzte die Hände über der Brust, atmete hoch auf und sagte das eine Wort: »Frei!«

 


 


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