Theodor Fontane
Kriegsgefangen
Theodor Fontane

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4. Gueret.

Nach meiner Berechnung mußte die Weiterreise auf Tours gehen, also nach dem Sitz der »provisorischen Regierung«. Ich wünschte dies und hatte bereits eine Anrede an den Minister Cremieux fertig, der dann, dacht' ich, seinem Kollegen Gambetta ein paar Worte zuflüstern und nach zustimmendem Kopfnicken dieses letztern meine Freilassung anordnen würde. All dies scheiterte aber vorweg an einer unerbittlichen Tatsache: es ging nicht auf Tours. Die nächste Etappe hieß Gueret.

Die Fahrt dorthin war insoweit eine höchst angenehme, als das Landschaftsbild, das ich zum Beginn des vorigen Kapitels zu beschreiben versucht hatte, sich fortsetzte. Dicht ineinander geschobene Berg- und Hügelpartien, schmale Wiesengründe, Wasserläufe, dazwischen Tunnel, Brücken, Viadukte, die Kuppen und Abhänge mit Kastanien, Nußbaum und den verschiedensten Obstarten, aber nicht mit Weingeländen besetzt, – so ging es durch diese schönen, aber verhältnismäßig wenig fruchtbaren Landschaften hin, die den Namen des Departements »La Creuze« führen.

Am Mittag schon, bald nach 1 Uhr, trafen wir in Guéret ein. »Ein freundliches Städtchen,« hatten uns die Gendarmen gesagt, die ihrer Sache selbst so sicher waren, daß sie die Karabiner, die mir immer mehr fürs Volk als für uns da zu sein schienen, auf dem Bahnhof ließen, also uns nahezu unbewaffnet in die Stadt begleiteten. Diese steckte reizend in den Bergen; hier und dort wuchs ein Turm, eine Esse über die Pappeln hinaus, und graue Rauchwolken lagen wie schwebend, fast unbeweglich, in der stillen, regenschweren Luft. Wir passierten eine Plantage, einzelne Gehöfte; niemand zeigte sich; mit dem Eintreten in die Stadt aber gestaltete sich das Bild wie immer. Hunderte von Jungen, die in dem scheinbar menschenleeren Ort wie Pilze aus der Erde wuchsen, umdrängten uns im Nu; alte Weiber, von denen jedes einzelne in eine beliebige Macbethaufführung ohne die geringste Kostümveränderung hätte eintreten können, erschienen in allen Türen, und unter dem Geschrei: Bismaarck, Bismaarck (immer mit langgezogenem a) verschwanden wir endlich im Gefängnistore. Ich muß übrigens hinzufügen, daß das Ganze doch mehr den Charakter einer Volksbelustigung hatte. Gueret bezeichnete in dieser Beziehung die Grenze. Von da ab wurde es immer besser, bis zuletzt, auf dem Küstenstriche des Westens, jeder Beisatz von Verbissenheit aufhörte.

Das »Bureau« des Gefängnisses bestand aus drei Personen, aus dem Schließer, dem gardien-chef und der Frau dieses letzteren, einer großen braunäugigen Person von etwa sechsunddreißig, die nach der Art, wie sie uns musterte, eine Vergangenheit haben mußte. Selbst mit einer Lücke neben dem einen Augenzahn wußte sie geschickt zu kokettieren; sie gehörte eben zu denen, denen alles dienen muß, die oberen und die unteren Mächte. Ihr Beistand schien mir gewichtig. Ich machte einen Versuch, mich ihrer zu versichern, doch hatte sie Verstand und Erfahrung genug, um einen jungen Badenser mit Vollbart und roten Backen vorzuziehen.

Inzwischen war mein vielzitiertes Beglaubigungspapier (»comme officier supérieur«) wieder vorgezeigt worden und schuf hier eine völlige Verwirrung. Man wußte offenbar nicht, was man daraus machen sollte. Die ganze Szene erinnerte mich lebhaft an die Vorgänge, die sich in kleinen Badeörtern mit Filialapotheken regelmäßig zu wiederholen pflegen, wenn Lehrling, Gehilfe, Prinzipal das aus der großen Stadt kommende Rezept nicht entziffern, das neueste Modemittel nicht erraten können und nach langem Getuschel und Aufwand einiger Fremdwörter endlich erklären: ein solcher Arzneikörper existiere nicht. So schien auch der gardien-chef entschlossen, nicht gerade die Eristenz eines officier supérieur, aber doch die Verpflichtung seinerseits bestreiten zu wollen, in seinem Gefängnisse einen solchen unterzubringen. Man kam endlich überein, gar nichts zu tun und mir die Initiative zu überlassen.

Wir stiegen nunmehr die Treppe hinauf; ein großer viereckiger Raum wurde geöffnet, die Badenser traten ein, und man wartete ersichtlich, ob ich folgen würde. Ich folgte aber nicht. Dies machte einen Eindruck, und in rascher Ausnutzung des Moments bat ich jetzt um ein apartes Zimmer. Man weigerte sich auch nicht, blieb aber der Rolle treu, alles der historischen Entwicklung zu überlassen, und ließ mich zunächst, das weitere abwartend, in eine nebenangelegene Zelle eintreten. Sie war absolut kahl. Ich sagte ruhig: »Ah, c'est bon; seulement la fourniture là, – elle n'est pas très complete.« Dieser Hohn wirkte; der gardien-chef lächelte verlegen, und ehe er sich noch besinnen konnte, schob ich ein: »Du feu me paraît indispensable; naturellement je le payerai.« Das war das erlösende Wort, und ohne Säumen wurde ich nunmehr in ein drittes Zimmer geführt, das als Schmuckkästchen der Gesamtlokalität zu gelten schien. Es war gewiß auch das beste, was man hatte, aber immer noch trist genug. Das Bett bestand aus einem Strohsack, der Kamin war ein großes schwarzes Loch, und das Geflecht des Binsenstuhls hing wie ein Strohwisch nach unten. Es wirkte beinahe unheimlicher als der Nachbarraum; dennoch hatte ich nachgerade Erfahrung genug, um gleich zu erkennen, daß hier die Elemente zur Entwicklung gegeben waren. Es kam nur auf die rechte Hand an. Ich stellte mich also vor den Schließer hin, versicherte ihm, daß ich einen starken Appetit hätte und ihn bitten müsse, mir ein Diner und eine Flasche vom besten Wein zu bestellen. Ich fügte einen Frank für seine vorläufige Bemühung hinzu. Ersichtlich betroffen, willigte er ein. In der Tür rief ich ihn zurück und flüsterte vertraulich: »Sie sorgen wohl für ein Feuer und ein gutes Bett.« Er versprach alles. Ich hatte meinen Zweck erreicht. Diner und Wein, die mir gleichgültig waren, fielen ihm schließlich als gute Prise zu, aber drei wollene Decken sah ich sich über die Matratze breiten, und im Kamin flackerten und prasselten alsbald die großen Scheite von Kastanienholz. Eine Stunde später war das Zimmer wie umgewandelt. Ich saß auf dem Stuhl, der sein Geflecht wiedergewonnen hatte, wiegte mich hin und her und blickte träumend in die immer ruhiger werdende Flamme. Liebe, freundliche Gesichter traten mir entgegen; ich sah deutlich die großen klugen Augen meines Lieblings; es war mir, als spräch' es lieb und traut in mein Ohr. So saß ich im Gefängnis zu Gueret, schwere Tage hinter mir, schwere Tage vor mir, und schrieb Verse in mein Notizbuch.

O trübe diese Tage nicht,
Sie sind der letzte Sonnenschein,
Wie lange, und es lischt das Licht,
Und unser Winter bricht herein.

Dies ist die Zeit, wo jeder Tag
Viel Tage gilt in seinem Wert,
Weil man's nicht mehr erhoffen mag,
Daß so die Stunde wiederkehrt.

Die Flut des Lebens ist dahin,
Es ebbt in seinem Stolz und Reiz,
Und sieh', es schleicht in unsern Sinn
Ein banger, nie gekannter Geiz;

Ein süher Geiz, der Stunden zählt
Und jede prüft auf ihren Glanz.
O sorge, daß uns keine fehlt
Und gönn' uns jede Stunde ganz.

Der andere Morgen war hell und sonnig; aber ein scharfer Wind pfiff. Ich mußte trotzdem in den Hof hinunter, um meine Morgentoilette zu machen. Es war also immer noch dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wuchsen. An einem steinernen Brunnentrog badete ich den Oberkörper; eine »Brosse à dents« und ein geschliffenes Flacon mit Esprit de Menthe (Souvenirs von Langres her), die ich beide auf den breiten Rand des Steintrogs legte, nahmen sich in dieser Umgebung ziemlich wunderlich aus.

Etwa um 10 Uhr erhielt ich Besuch, der dann fast bis zum Moment meiner Weiterreise keinen Augenblick abriß. Der erste, der erschien, war ein Arzt, ein Mann von etwa sechzig, klugen Auges, mit Doktorhut und Doktorstock. Er habe gehört, so führte er sich ein, daß ich aus Berlin sei; »ob ich den berühmten Professor Wirscho kenne?« Ich stutzte einen Augenblick, fand mich aber schnell zurecht und erkannte, daß unser Virchow gemeint sei. Das gab nun ein Hin und Her. Er sprach lebhaft und voll Verbindlichkeit gegen die Deutschen, deren Wissenschaftlichkeit er auf allen Gebieten anerkannte. Auch in der Medizin. Nach soviel empfangenem Lob glaubte ich schließlich, auch ein übriges tun zu müssen und bemerkte, daß die Pariser Schule wohl ebenbürtig sei. Dies machte indessen gar keinen Eindruck auf ihn, und nur zum Zeichen, daß er meine Worte wohl verstanden habe, begann er seinen nächsten Satz mit der leicht hingeworfenen Bemerkung: »Naturellement, l'école de Paris c'est la première du monde« und fuhr dann in seinen Auseinandersetzungen, namentlich in einer Parallele zwischen Virchow und anderen deutschen Physiologen fort. Es war spezifisch französisch. Ich bemerke noch, daß er sich lebhaft nach dem Dr. Jacoby in Königsberg erkundigte, der überhaupt, neben Bismarck und Moltke, die in ganz Frankreich am meisten besprochene Persönlichkeit war. Jeder kannte ihn und jeder knüpfte Hoffnungen an ihn. Der Ertrinkende greift nach einem Strohhalm.

Sehr bald nach dem Doktor erschien der Vikar. Ein großer, schöner Mann, blond, von den freundlichsten Augen und dem gefälligsten Wesen. Überhaupt war ich von hier ab in keinem Gefängnis mehr, in dem ich nicht den Besuch eines Geistlichen, oft von zweien, empfangen hätte. Dies ist eine sehr schöne Sitte. Freilich müssen die Geistlichen danach sein. Wenn sie kommen, um einem die Hölle heiß zu machen, oder auch nur, um einen Sermon zu halten, steif, langweilig, salbungsvoll, so sind sie unerträglich; wenn sie kommen, wie diese französischen Aumoniers, so kann kein Herz so roh, so verschlossen, so religionslos sein, daß es nicht Freude empfände an so menschlich schönem Zuspruch.

Dieser Vikar war nun von einer ganz besonderen Liebenswürdigkeit, fein, klug, unterrichtet. Schade, daß ich erst um eine Stunde später erfuhr, wer er eigentlich war; unsere Unterhaltung würde sonst einen noch freieren Verlauf genommen haben. Er lenkte nämlich bald ins Politische hinüber, verwarf das Empire in lebhaften Ausdrücken, ein Bild zwanzigjähriger Korruption vor mir entrollend, beleuchtete dann die Republik, die in Frankreich eigentlich ohne wahren Boden, vielmehr abwechselnd ein Schatten oder ein Schrecken sei, und versicherte mich dann einmal über das andere, daß alles Heil lediglich in Wiederanknüpfung an den abgerissenen Faden, lediglich in Legitimismus, in Henri-Quint zu finden sei; der Orleanismus werde dann später (durch die Verhältnisse legitim geworden) die große Erbschaft antreten. Wie mir das im Ohr klang! Nach dem wüsten Geschrei in Lyon und Moulins endlich wieder eine Menschenstimme! Ich fühlte mich wie mir selbst zurückgegeben und vergaß fast, daß ich in einem Gefängnis sei. Ich sage »fast«. Es wäre besser gewesen, ich hätt' es ganz vergessen; neue weitere Aufschlüsse würden der Lohn gewesen sein. Aber ich konnte das alles in jenem Augenblick nicht wissen! Neben dem lebhaftesten Interesse, mit dem ich folgte, lief doch immer wieder die Frage her: Wer ist es, der diese Sprache führt? Will man dich aushorchen? Sollen sich neue Verlegenheiten für dich bereiten? So blieb ich vorsichtig, abwägend, auf meiner Hut; ich bekämpfte sogar einzelne seiner Sätze, Auslassungen über Henri-Quint, die ich wenigstens prinzipiell ohne weiteres hätte unterschreiben müssen. Wie gesagt, ich hätt' es rückhaltlos wagen können. Der junge Vikar, der anderthalb Stunden lang die Grundsätze der Legitimität vor mir verfochten hatte, war ein Vicomte d'Ussel, ein jüngerer Sohn der gleichnamigen, im Departement la Creuze begüterten Grafenfamilie. Der Legitimismus der Familie war übrigens kein Geheimnis, ihr Ansehen nur um so größer. Der Respekt, mit dem ich, noch am andern Tage, ein halbes Dutzend Personen darüber sprechen hörte, war sehr unrepublikanisch.

Dem Besuche des Vikars folgte der des Geistlichen selbst, eines Mannes von fünfzig, heiter wie jener (der Vicomte), aber von ersichtlich anderer politischer Richtung. Er kam vorwiegend, um mir mitzuteilen, daß er seit drei Monaten einen Berliner Gast auf seiner Pfarre beherberge: den Pater Rouard, Prior des Dominikanerklosters zu Moabit. Bei Ausbruch des Krieges habe derselbe Berlin verlassen, um nicht das von Konfessions wegen bereits Erlebte von Nationalitäts wegen noch einmal zu erleben. Wie gern hätte ich ihn gesehen! In solchen Momenten wiegt nicht das, was trennt, sondern nur das, was verbindet. Aber es war zu spät. Ehe sich eine Annäherung ermöglichte, waren wir bereits auf dem Wege nach Poitiers.

 


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