Theodor Fontane
Kriegsgefangen
Theodor Fontane

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3. Moulins.

Sieben Uhr am anderen Morgen nach Moulins. Die Stadt (Lyon) war noch ziemlich still; auf dem großen Platze, an dessen einer Seite unsere Straße mündete, sah ich jetzt das Reiterbild des ersten Kaisers im Morgenlichte aufragen; an der Stelle, aber, wo ich bei meiner Ankunft tausend im Wasser sich spiegelnde Lichter gesehen zu haben glaubte, exerzierte jetzt eine ganze Brigade Mobilgarde in breiten Zugfronten; was mir bei Dunkel und niederfallendem Regen als das Bett der Rhone erschienen war, war eine breite, mit Bäumen und Obelisken besetzte Esplanade. Man achtete unserer wenig; einige Hälse drehten und reckten sich nach uns; ein paar Minuten später hatten wir unsere Plätze im Coupé eingenommen.

Das Land war ziemlich reizlos auf viele Meilen hin. Ich begann schon die Ursache davon in mir selber zu suchen und einfach anzunehmen, daß das Auge des Gefangenen tot sei für die Schönheiten der Natur, als ich plötzlich, etwa an der Grenze des Departements Allier gewahr wurde, daß es doch an der Landschaft und nicht an mir selber gelegen haben müsse. Wir traten mehr und mehr in ein entzückendes Stück Natur ein, das ich vielleicht am besten als das »Land um Vichy« bezeichne, denn an diesem berühmten Brunnen- und Badeort kamen wir auf Entfernung von wenigen Stunden vorüber.

Ich muß die Szenerie dieses Departements Allier, die mir ganz eigentümlich zu sein schien, näher zu beschreiben suchen. Alle Landschaft, die ich bis dahin in Frankreich gesehen hatte, in Lothringen, Champagne, Franche Comté, war durch wenige Linien wiederzugeben: weite Höhenzüge und weite Täler dazwischen. Eine Landschaft derart entbehrt nicht eines gewissen großen Stiles, aber immer wiederkehrend, immer in derselben Weise mit Wein oder Laubholz besetzt, wirkt sie zuletzt monoton und gibt sich – weil alles große Flächen bietet, selbst die Berghänge – um vieles öder, trister, als sie in Wahrheit ist. Hier plötzlich nun traten wir in ein Gebiet ein, das sich vorgesetzt zu haben schien, diese bisherigen Eindrücke alle auf einen Schlag zu balancieren. Die Hügel schoben und drängten sich so dicht aneinander, als wären sie aus einer Riesenspielzeugschachtel genommen, während sie in Zahl und Form mich beständig an die endlosen Kuppen und Kegel des historischen Dreiecks zwischen Main und Tauber erinnerten. Aber diese Gedrängtheit der Landschaft war doch nur eine Seite derselben; schöner und charakteristischer noch berührte mich der tiefe, flußdurchschlängelte Wiesengrund, der sich um jeden Hügel sorglos herumlegte und diesen wie mit Bewußtsein zu einer kleinen Berginsel gestaltete. Dazu hatte alles einen satten, braungrünen Ton, der mich mehr als einmal an Ruysdael erinnerte, von dem ich noch vier Wochen vorher einiges Treffliche in Nancy gesehen hatte.

Bei St. Marie des Fosses war ein längerer Aufenthalt, wahrscheinlich die Station, von wo aus in ruhigen Zeiten die Diligencen und Journalieren nach Vichy hinüberfahren; riesige halbabgerissene Affichen deuteten darauf hin. Eine Stunde später fuhren wir in den Bahnhof des bischöflichen Moulins ein.

Ein Bischofssitz! Das war eins. Vor allem aber heimelte der Name mich an; was konnte reizender klingen als Moulins. Ich stellte es mir vor als von Wind- und Wassermühlen umgeben, die einen still und lauschig, die andern rasch und plauderhaft, und dazwischen eine Bevölkerung von Klosterschülern und Mühlknappen, die einen schwarz, die andern weiß, aber alle gleichmäßig heiter, ihr Leben teilend zwischen Singen und Angeln. Nie war eine Vorstellung falscher gewesen.

Schon auf dem Bahnhofe (es war 4 Uhr nachmittags) wurden wir umringt. Der Weg führte durch eine Vorstadt, die zu gutem Teile aus dem Stadtpark und ähnlichen Anlagen bestand; hier, auf zahllosen Bänken, war die Kindermuhme und ihr Anhang zu Hause. Hier tobte der Gamin statt des ermatteten stillen Klosterschülers, und ehe fünf Minuten um waren, hatten wir ein Gefolge, das nach Hunderten zählte. Allerhand Blaukittel gesellten sich hinzu, drohende Worte aussprechend, und während wir sonst daran gewöhnt waren, unsere Gendarmen das neugierig andrängende Volk beiseite schieben zu sehen, zeigten sie hier eine unverkennbare Verlegenheit und ließen den tobenden Menschenhaufen gewähren. So ging es in die Stadt hinein, ein paar steile Gassen hinan, dann hatten wir die Straßenfront des Gefängnisses, ein Stück Mauer mit einem eingebauten Conciergenhaus, erreicht. Unter Gezische und den üblichen Schmeichelworten verschwanden wir in dem niedrigen Portal.

Hier war kaum Aufenthalt. Wir traten alsbald auf einen Hof hinaus, der von verschiedenen Baulichkeiten, kreuz und quer und hoch und niedrig umstellt war, und warteten unseres Loses. Der Gendarmeriewachtmeister, dem ich meine mehrerwähnte »Bestallung« schon vorher überreicht hatte, machte inzwischen vor dem Bureaupersonal meinen Anwalt; einer der Herren zuckte verlegen die Achseln, kam mir aber bis zur Schwelle entgegen und bat mich, einzutreten. Ich folgte. Es zog auf dem Hofe empfindlich; nichtsdestoweniger wär' ich lieber draußen geblieben, so stickig war die Luft des kleinen Zimmers, in dessen einer Ecke ich Platz nahm. Ein eiserner Ofen, gegen dessen ganzes Geschlecht ich eine Todfeindschaft unterhalte, stand glühend in der Mitte, und das Kohlengas legte sich wie betäubend um meine Sinne. Ich wurde aber mit Gewalt aus diesem Zustand gerissen; ein elegant gekleideter Herr, stark, kurzhalsig, das Bild des Apoplektikus, erschien in der Tür und trat auf mich zu. Er musterte mich; das Kinn saß ihm in einem türkisch geblümten Schal, das bekannte rote Band blühte im Knopfloch; so entspann sich folgende knappe Unterhaltung:

»Vous êtes arreté?«

»Oui.«

»Où donc?«

»A Domremy.«

»Comme espion?«

»Oui.«

»Que vous êtes?!«

Ich hatte nicht Geistesgegenwart genug, einfach zu schweigen, sondern lehnte diese Bezeichnung kurz ab. Dies war offenbar ein Fehler. Indessen man ist klüger, wenn man vom Rathause kommt. Die Unterredung selbst habe ich hierher gesetzt, weil sie die einzige Insolenz ist, der ich während der ganzen Zeit meiner Gefangenschaft ausgesetzt gewesen bin. Ich hatte viel zu ertragen, auf noch mehr zu verzichten, aber nach dieser Seite hin wurde ich geschont.

Inzwischen hatten die Beamten, denen mein Patent wieder viel Sorge gemacht hatte, über mich »befunden« und waren schlüssig geworden, daß ich, in meiner Eigenschaft als »officier supérieur«, in der Infirmerie des Hauses untergebracht werden solle. Man entschuldigte sich einigermaßen, daß man nichts Besseres habe; das ganze Gefängnis sei ein alter Donjon der Grafen von Bourbon, sehr mittelalterlich, eine Art »Bastille«. »Tout-à-fait dans le style avant 1793,« setzte der eine lächelnd hinzu.

Wir stiegen nun eine Art Wendeltreppe hinauf, wie sie alle alten Türme haben, gerieten auf einen holprigen Steinflur, der von der Seite her durch ein kleines rundes Türfenster ein spärliches Licht erhielt, und tappten nun auf eben diese Lichtstelle zu. Es war die »Infirmerie«. Der Schließer schob einen Riegel zurück, und wir traten ein. Ich konnte im ersten Augenblick, bei dem Dunkel, das auch hier noch vorherrschte, nur wahrnehmen, daß wir uns in einem ungewöhnlich großen Raum befanden; ob Saal, Halle oder Kornboden, war zunächst nicht zu unterscheiden. Schreck und Heiterkeit wechselten in meiner Stimmung; alles war gespenstisch und lächerlich zugleich. E. T. A. Hoffmann hätte hier eine glückliche Stunde feiern können. Auch in mir überwog bald ein gewisses poetisches Interesse jede andere Regung. Der Schließer führte mich an einen Bettstand, der für mich hergerichtet worden war, legte mein Gepäck zu Füßen und wünschte mir gute Nacht.

Ich setzte mich neben mein Bündel auf die Eisenkante des Bettes, um zunächst einige Orientierung zu gewinnen. Dies dauerte auch nicht lange. Es war eine mächtige, quadratische Halle, in der ich mich befand, mit tiefen Fensternischen und zahlreichen Bettständen, alle mit dem Kopfende der Wand zu. Mitten durch den Raum, nach Art einer Brücke, war ein großer Bogen gespannt, der ein zweites Stock trug. Unter diesem Bogen, genau im Zentrum des Ganzen, stand ein flacher Kochofen, aus dessen drei Löchern ein Lichtschein aufstieg, derselbe, der uns, als wir noch draußen umhertappten, den Weg hierher gezeigt hatte. Jetzt sah ich, bei eben diesem Schimmer, daß drei vermummte Gestalten um den Ofen herumsaßen. Mitunter, wenn einer der drei mit einem Schüreisen in die Glut fuhr, wurd' es auf einen Moment etwas heller, und ich konnte dann erkennen, daß es blutjunge Leute waren, die hier fröstelnd und zusammengekauert sich an der spärlichen Glut zu wärmen suchten. Ich trat jetzt an sie heran. Einer erhob sich, um mir seinen Stuhl anzubieten, was ich auch annahm. Ich versuchte nun eine Konversation; die Antworten blieben aber einsilbig, bis aus einer Ecke am Fenster her endlich meine Unterhaltungsversuche aufgenommen und ich verbindlich eingeladen wurde, »doch mehr ins Licht zu rücken«.

Dies hätt' ich nun wohl gleich bei meinem Eintreten getan, wenn die Ecke am Fenster damals schon eine Lichtecke gewesen wäre; sie war es aber erst während der letzten Minute geworden, wo, nach mehreren gescheiterten Versuchen, eine Art Küchenlampe glücklich in Brand gesetzt worden war. Ich dankte jetzt dem Sprecher zunächst und rückte dann in den Lichtkreis ein, der einen Durchmesser von vier Schritt haben mochte; alles andere lag nach wie vor in Dämmer.

Ich befand mich nunmehr in dem Westend der Infirmerie, in dem »aristokratischen Viertel«, das, wie ich bald erfahren sollte, ausschließlich aus den beiden »cuisiniers« des Gefängnisses bestand. Im ersten Augenblicke wußte ich nicht, ob sie Hausbeamte oder Mitgefangene wären; doch ließen ihre eigenen Mitteilungen mich nicht lange im Zweifel darüber. Mein-und-dein-Fragen, falsche Wechsel, unmotivierte Schwüre, so schien es mir, hatten sie hierher geführt. Es war ein Junger und ein Alter. Der Junge war Koch von Fach, hatte in Homburg, Aachen, Baden-Baden die große Schule durchgemacht und peinigte mich durch lange Schilderungen des Koch- und Badelebens, die er mit Fistelstimme und einer unheimlich geschraubten Begeisterung vortrug. Gemütlicher war der Alte. Er war über sechzig, trug eine Brille mit ungewöhnlich großen Gläsern und war seines Zeichens ein lateinischer Sprachlehrer aus Moulins. Seit Jahr und Tag kochte er nun als Auxiliar-cuisinier die Gefangenensuppe und behandelte den Wechsel der Dinge en philosophe. Dabei republikanisierte er scharf. Ich mußte immer an »Vater Karbe« denken. Den Verdacht, daß er eigentlich ein verkleidetes altes Weib sei, was das Gespenstische steigerte, bin ich übrigens nie ganz los geworden. Doch mag das auf sich beruhn.

Dieser Alte dirigierte nun die Infirmerie. Er hatte Streichhölzer, Salz, zwei Handtücher und ähnliche Luxusartikel; sein eigentliches Ansehn beruhte aber doch auf seiner »Bibliothek« und vor allem auf jener Küchenlampe, die ich ihn eben hatte anzünden sehen. Diese Lampe wurde denn auch von ihm selber wie von allen Mitgefangenen gehegt und gepflegt; alles putzte an ihr herum, um sie hübsch blank zu erhalten, und rührend war es geradezu, mit welcher Liebe und Zartheit ihr defekter Zylinder behandelt wurde. Anderthalb Stunden lang, wie ich mich am andern Tage überzeugen konnte, drehte sich alles um ihn. Der Zylinder (ein sogenannter Bauchzylinder) hatte nämlich außer den ihm rechtmäßig zustehenden zwei Löchern oben und unten noch zwei Seitenlöcher gerade an der Bauchstelle, und diese Havarie immer wieder auszubessern war die Aufgabe aller Insassen der Infirmerie, besonders der beiden Cuisiniers. Es wurden zwei Stückchen Papier geschnitten von der Größe einer Kartoffelscheibe und am Rande hin mit angefeuchteten Oblatenschnitzeln besetzt. Dies kunstvoll hergerichtete Pflaster wurde dann auf die große Wunde gelegt; der gestörte Luftzug war nun wieder hergestellt, und alles drängte sich an den Tisch, um das abermals gelungene Werk zu begrüßen. So war es am zweiten Tag.

Auch gleich der erste Abend, trotzdem alles schon geschehen war, ließ mich noch Einblick gewinnen in eine »Reparatur«. Der Alte, der (schon von Metier wegen) an Klassizität meinem penseur libre in Besançon wenig nachstand, unterhielt mich eingängig noch eine halbe Stunde; dann ging ich zu Bett. Am Fenster brannte das Lämpchen und hatte seinen Lichtkreis. In diesem Lichtkreis saß der lateinische Lehrer und Auxiliarkoch und las in Rabous »La grande Armée«. Weißhaarig, die große Brille auf der großen Nase, sah er aus wie eine Eule. In dem weiten Rest des Zimmers herrschte Dämmerung. Das Feuer in dem Kochofen wurde immer kleiner; wenn einer der drei Umsitzenden aufstand und auf und ab schritt, tanzten riesige Schatten an Wand und Decke hin. Es war wie die Laterna magica in Kindertagen. Das Getrappel über uns, wo Gefangene auf und ab liefen, um sich zu erwärmen, hörte endlich auf; alles wurde still. Nur die Zylinderlampe brannte dankbar die Nacht hindurch.

Als ich aufstand, waren die Cuisiniers nicht mehr zugegen; der Küchendienst hatte sie bereits abgerufen. Statt ihrer machten sich jetzt die Drei, die am Abend vorher beim Kochofen so tapfer ausgehalten hatten, im Zimmer zu schaffen, wuschen, fegten, lüfteten und beeilten sich, mir meine Wünsche zu erfüllen, mein Leben erträglich zu machen. Ich ließ Wein und Kognak kommen und half dadurch ihrem Eifer nach. Sie versicherten sämtlich, daß ihre Krankheit (wir waren ja in einer »Infirmerie«) darunter nicht leiden würde. Der eine, ein Luxemburger, hatte die Gelbsucht. Ich lasse dahingestellt sein, ob der Hausarzt später die Zustände gerade dieses Patienten verbessert gefunden hat.

Um 10 Uhr war ich soweit, mich, ein Buch in der Hand, in eine der großen Fensternischen setzen zu können. Diese Nischen hatten über sieben Fuß Tiefe. Zu Füßen des alten Donjon lag Moulins, jetzt so schön und lachend, wie ich es mir vordem gedacht hatte. Um die goldenen Spitzen seiner Kathedrale spielte das Frühlicht, und durch den Schimmer hin flogen die Tauben.

Ich begann zu blättern. Es war das Buch, das der Alte bis spät in die Nacht hinein emsig studiert hatte: »La grande Armée«. Ich las fünfzig Seiten: das Lager bei Boulogne, die Kapitulation von Ulm, Austerlitz, zuletzt Jena, – nach diesem hatte ich genug; ich war verstimmt. Und ich glaube mit Grund. »Solche Bücher,« sagt' ich mir, »schreibst du selbst. Sind sie ebenso, so taugen sie nichts. Die bloße Verherrlichung des Militärischen ohne sittlichen Inhalt und großen Zweck ist widerlich.« Damit klappte ich das Buch zu und sah wieder auf die Kathedrale hinüber.

Dann machte ich meinen Spaziergang von Tür zu Fenster und von Fenster zu Tür, bis um Mittag die ersehnte Nachricht kam, »morgen früh weiter ins Land hinein«.

Wohin, wußte niemand.

 


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