Theodor Fontane
Kriegsgefangen
Theodor Fontane

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9. Regentage.

Sturm- und Regentage, und ihrer waren nicht wenige, unterbrachen den gewöhnlichen Tagesgang und gehörten vorwiegend der Arbeit und der Lektüre.

Der Lektüre! Unter gewöhnlichen Verhältnissen freilich hätte es notwendig schlecht damit stehen müssen, da ich nichts besaß als ein kleines, unterwegs aufgekauftes Eisenbahnkursbuch und eine drei Jahre alte Nummer des Witzblattes »La Lune«, die ich in einem Kommodenkasten leidlich wohlerhalten vorgefunden hatte. Der Leser mag sich berechnen, wie weit das reichte. Es hätte aber keinen Kommandanten auf Oléron geben müssen, wenn diese Verlegenheit eine dauernde hätte sein sollen; – Kapitän Forot hatte kaum von meinem Wunsche gehört, als auch schon Rasumofsky erschien, um mir mit Gruß und besten Empfehlungen drei Bücher zu überreichen: ein kleines, ein großes und ein sehr großes.

Mit dem kleinen wollte es nicht gehen. Ich glaube, es hieß »Eine Reise ins Freie« und schilderte in unangenehm pointierter Sprache eine rasche Reihenfolge von Kupeeaventüren: auflodernde Leidenschaft (natürlich immer von unwiderstehlicher Gewalt), intervenierende Gatten, Highlifeduelle, totgeschossene Grafen usw. Noch ehe ich bis Seite 100 gekommen war, warf ich das Zeug in die Ecke. Es war mir um einen Grad zu französisch.

Ich ging nun an das große Buch. Es war das »Memorial von St. Helena«, das bekannte Tagebuch des Grafen Las Cases. Ich sage »bekannt«, aber freilich wohl den meisten Menschen (wie mir selber) nur dem Namen nach. Man muß gefangen sein, um dergleichen nachzuexerzieren. Ich las mit dem größten Interesse. Gleich die ersten Kapitel (die Einschiffung Napoleons auf dem Bellerophon und die vorhergehenden Verhandlungen mit dem englischen Kapitän Maitland) versetzten mich genau in jene Insel- und Städtegruppe, innerhalb deren ich mich jetzt befand; einzelnes, was ich auf den ersten Seiten dieses dritten Abschnittes über Oléron gesagt habe, ist diesen Las Cases-Memoiren entnommen. Die Lektüre, neben manchem anderen, hatte den besonderen Reiz für mich, daß sie in einem gewissen, übrigens höchst pikanten Durcheinander des Stoffes zu einer Art Generalrevue meines historischen Wissens wurde, zu einer großen Repitition, bei der ich die Befriedigung hatte, leidlich gut zu bestehen. Dieser Reiz steigerte sich noch dadurch, daß ich mich fähig fühlte, mit Kritik zu lesen; selbst diesem Quellenbuche gegenüber glückte es mir, die Fehler, die Illusionen, die absichtlichen Täuschungen zu erkennen. Nicht Frankreich hatte diesen fünfundzwanzigjährigen Riesenkampf verschuldet, sondern England. Pitt hatte diesen Brand entzündet, halb aus nationalem Egoismus, halb aus Legitimitätsdonquichoterie. Das alles war so ruhig, so bestimmt gesagt, durch Las Cases so überzeugungsvoll bestätigt, daß ich tagelang in meinem Innersten wie beunruhigt war. Ich mußte, während draußen Sturm und Regen an die Fenster schlugen und Rasumofsky ein Scheit nach dem anderen auf den Herd legte, förmliche Kämpfe in mir durchmachen, hatte aber die Freude, mit gestärkter Überzeugung zu meinen alten Fahnen zurückkehren zu können. Das Nationalitätsprinzip hatte gegen den Napoleonischen Weltmonarchiegedanken gestritten; – es wird noch auf lange hin ein Ruhm Pitts bleiben, jenes siegreich verteidigt zu haben.

Meine eigentlichste Freude war aber doch das »sehr große« Buch, in dem sich nicht eigentlich lesen, sondern nur naschen ließ. Es war in reicher Schale das süßeste Dessert. Wenn mir Las Cases anfing, etwas zu substantiell zu werden, so schob ich diese pièce de résistance beiseite, um von dem Konfektteller und seinen Knallbonbons zu nehmen.

Dieses »sehr große Buch« hieß Autographenalbum, war in roten Maroquin gebunden und enthielt in Faksimiles die handschriftlichen Aufzeichnungen von mehr als tausend Personen, Zelebritäten aus aller Welt Enden, zu elf Zwölfteln natürlich Franzosen. Deutsche fast gar nicht. Ich gebe einiges aus diesem Schatz. Die Personen, die jene Aufzeichnungen gemacht, teilen sich, wie mir scheinen will, in sieben Gruppen: die Historischen, die Ernsthaften, die Heitergraziösen, die Falschbescheidenen, die Bequemen, die Geistreichen und die bedenklich Geistreichen.

Die Historischen. Den Reigen eröffnet hier Louis Napoleon selbst mit einem am 5. Dezember 1848 geschriebenen Briefe. Es heißt am Schlusse desselben: »Lorsque une révolution est dans le vrai, elle produit de grands hommes et de grandes choses, lorsqu'elle est dans le faux, elle ne produit que du bruit et des larmes.« Das war drei Jahre vor dem Staatsstreich. Was lag alles dazwischen! Ich mußte unwillkürlich auch an die jüngste Phase französischer Entwicklung denken: »Lorsqu'elle est dans le faux, elle ne produit que du bruit et des larmes.« Neben diesen Zeilen des Vaters befindet sich eine leicht hingeworfene Federzeichnung Lulus: alte Troupiers, die auf Wache ziehen. Darunter in schöner, fast schon ausgeschriebener Handschrift: »Louis Napoleon.«

Das nächste Blatt bringt folgendes von der Hand des Bürgerkönigs: »J'abdique cette couronne que la voix nationale m'avait appelé à porter, en faveur de mon petit-fils le Comte de Paris. Puisse-t-il réussir dans la grande tâche qui lui échoit aujourd'hui. 24 Février 1848. Louis Philippe.« Dies »aujourd'hui«, 23 Jahre vertagt, ist vielleicht heute.

Unmittelbar darunter: »Soldati. Ciò che offro a quanti vogliono seguirmi eccolo: fame, freddo, sole, non pane, non caserne, non munizioni, ma avvisaglie continue, stenti, battaglie, marcie forzate e fazioni alla bajonetta. Chi ama la patria mi seguite. Garibaldi.« So schrieb er 1849. Der Zauber auch dieses Namens ist verblaßt.

Die Ernsthaften. »La modestie est une grande lumière; elle laisse l'esprit toujours ouvert et le cœur toujours docile à la vérité. Guizot.«

»Le rationalisme! c'est l'homme fait Dieu à la place du Dieu fait homme. Molé.«

»Je ne puis refuser ma signature. Quant à la prose et aux vers, n'y comptez pas. J'adore Homère, Sophocle, Euripide, mais les ingrats ne m'ont rien révélé. J. Ingres.«

»Sancta Maria, mater Dei, ora pro nobis peccatoribus, nunc, et in hora mortis nostrae. Louis Veuillot.«

Dieser Aufruf an die heilige Jungfrau ist mir in einem Autographenalbum fast zu ernsthaft erschienen; das ostensive Karteabgeben als »Katholik quand même« verstößt gegen den guten Geschmack.

Viel beweglicher als diese Worte aus der kirchlichen Welt wirken die nachstehenden aus der Bühnenwelt. Das Profane schlägt das Heilige.

»Lorsqu'on a mis le pied une fois dans la fatale carrière du théâtre, il faut la parcourir jusqu'au bout, épuiser ses joies et ses douleurs, vider sa coupe et son calice, boire son miel et sa bile; il faut finir comme on a commencé, mourir comme on a vécu, mourir comme est mort Molière, au bruit des applaudissements, des sifflets et des bravos! Mais lorsqu'il est encore temps de ne pas prendre cette route, lorsqu'on n'a pas franchi sa barrière, il faut n'y pas entrer. Croyez-moi sur mon honneur, croyez-moi. Frédéric Lemaître.«

Hieran reihen sich noch zwei Aufzeichnungen Duclercs und Odilon Barrots, in denen sich zugleich eine tiefe politische Verstimmung, ein Haß gegen das kaiserliche Gouvernement ausspricht:

»Les meilleurs gouvernements tombent, mais – les pires aussi. Duclerc.«

»Silence, on nous écoute! l'an de grâce 1852. Odilon Barrot.«

Das Album erschien Anfang der sechziger Jahre, als das Kaisertum auf der Höhe seines Ansehens stand. Der Herausgeber hielt es deshalb für nötig, diesen Hohn Odilon Barrots mit einer spöttischen Bemerkung seinerseits zu begleiten, und fügte deshalb ziemlich witzig hinzu: »Mr. Odilon Barrot ist bekanntlich der einzige Odilon in Frankreich, der Herrn Barrot für ernsthaft nimmt.«

Die Heitergraziösen. In dieser Gruppe habe ich nur einen Namen zu verzeichnen: Eugène Scribe. Auf den verschiedensten Blättern des Albums fand ich seine Signatur; fast immer waren es vierzeilige Verschen, immer Ausdrücke des liebenswürdigsten Naturells.

»      Sur un parapluie.
Ami commode, ami nouveau,
Qui, contre l'ordinaire usage,
Reste à l'écart, quand il fait beau,
Et se montre les jours d'orage!
«

Seiner in der Nähe von Paris erbauten Villa hatte er folgende, in diesem Album von ihm wiederzitierte Inschrift gegeben:

»Le théâtre a payé cet asyle champêtre,
Vous qui passez, merci! je vous le dois peut-être.
«

Die Falschbescheidenen. Hier begegnen wir einigen Namen und Berühmtheiten ersten Ranges:

»Mon nom n'est point digne de figurer dans un recueil. V. Broglie.«

»Ni le mien non plus. George Sand.«

»Ni le mien non plus. Eugène Sue.«

 

Alle drei finden aber rasch ihre Verurteilung. Gleich der folgende (Viennet) schreibt unter die drei Bescheidenen: »O triple orgueil«, und Charles Filipon geht noch einen Schritt weiter und fügt hinzu: »Farceurs!«

Die Bequemen. Die Gruppe dieser ist sehr groß. Sie besteht zunächst aus solchen, die, kritiklos und mittelmäßig beanlagt, sich keinen Augenblick genieren, den allergrößten Gemeinplatz niederzuschreiben. Hier befindet sich denn auch der einzige Deutsche, der gewürdigt worden ist, einen Platz in diesem Album einzunehmen: Johannes Ronge. Er schrieb: »Saarbrücken, den 8. Februar 1863. Keine Verdammung, keine Ketzer mehr. Es gibt nur einen Gott für alle Kirchen und alle Völker.« Es ist nicht leicht möglich, trivialer zu sein. Einem Franzosen gelingt es aber schließlich doch: »Aimons-nous les uns les autres. Havin.« Hoffen wir, daß diese Worte wenigstens in Damengesellschaft geschrieben wurden.

»L'esprit n'est jamais vieux tant que le cœur est jeune. Paul Lacroix.«

»La jeunesse n'a pas assez souffert pour savoir consoler. Legouvé.«

Zu dieser Gruppe der »Bequemen« gehören aber vor allem auch diejenigen, die (weil beständig in Autographenkontribution genommen) ihren bestimmten Albumvers ein für allemal bei sich führen und jahraus jahrein mit denselben Vierzeilen debütieren.

»Au clair de la lune,
Mon ami Pierrot,
Prête-moi ta plume
Pour écrire un mot.   Jules Sandeau.
«

»C'était, dans la nuit brune
Sur le clocher jauni,
    La Lune
Comme un point sur un I.In Freiligraths vorzüglicher Übersetzung, die fast das Original schlägt:
Den Mond durch Nebel scheinen
Hoch überm Turme sieh',
Wie einen
Punkt über einem I!
  Alfred de Musset.
«

»La cigale ayant chanté
Tout l'été
Se trouva fort dépourvue
Quand la bise fut venue.   Jules Janin.
«

Der Herausgeber fügt in betreff dieser drei scherzhaft hinzu: »Se sont donnés le mot pour ne pas perdre de copie.«

Wir haben solche Albumversler, die das »Kopierecht nicht verlieren wollen«, namentlich auch in Deutschland. Einfälle, Impromptus sind nicht unsere starke Seite.

Die Geistreichen. Es hätte kein französisches Album sein müssen, wenn diese Gruppe nicht am stärksten vertreten gewesen wäre. Vieles war entzückend.

»Je me résigne et je signe.   Montalembert.«

»Je ne sais quoi dire et j'en fais l'aveu.   A. Thiers.«

»Le goût est le sentiment prompt d'un esprit bien fait.   Le Duc de Noailles.«

»L'esprit qu'on veut avoir, gâte celui qu'on a.   Le prince de la Moskowa.«

»J'en fais moi-même en ce moment la triste expérience.   de Persigny.«

»Ce n'est pas la fortune qui vient en dormant, c'est le terme.   Emile Marco de St. Hilaire.«

»Les hommes se suivent et ne se ressemblent pas.   Carnot (Sohn des alten).«

»L'or est une chimère pour celui qui n'a pas le Sou.   Peupin«, Uhrmacher, späterer Tresorier der Kaiserin.

»Quelle est la femme qui ne fait pas ce qu'elle dit? Celle qui jure de n'aimer jamais, ou d'aimer toujours.   Charles Briffault.«

 

Also etwa:

Welche Frau hält gewiß nicht, was sie verspricht? Die, die da schwört, niemals zu lieben oder immer.

»L'amour est comme l'opéra. On s'y ennuie, mais on y retourne.   Gustave Flaubert.« (Verfasser von »Madame Bovary« und »Salambo«.)

»Il est plus facile de faire ce qu'on doit que de le payer.   Jacques Herz, frère de Henri.«

»Rêver, c'est le bonheur; attendre c'est la vie.   Victor Hugo.«

 

Die Auswahl, die ich hier getroffen, ließe sich verzehnfachen. Nur sehr selten überschlägt sich die Geistreichigkeit. Ein Schriftsteller dritten Ranges schreibt einfach seinen Namen und fügt hinzu: »Mon nom est assez.« Noch weniger angenehm berühren die Worte der Rachel:

»Oh, réclames!! Avis aux lecteurs. Je rentrerai à la comédie française Samedi prochain par le rôle de Phèdre. Paris, 18. Novembre 1849.«

Die Rachel, deren häßliche, vor nichts zurückschreckende Gewinnsucht ein öffentliches Geheimnis war, durfte solchen Scherz nicht wagen.

Ich schließe mit den handschriftlichen Aufzeichnungen zweier Engländer: »All that I could say of my books, I have said in them. Charles Dickens.« Wie liebenswürdig!

In derselben Gesellschaft befand sich auch der »Vater der Friedens- und Manchesterschule«. Aufgefordert, sich ebenfalls einzutragen, schrieb er einfach:

»Richard Cobden. Paris, 30. Auguste 1849.«

Ganz charakteristisch. In allem der Matter-of-fact-Mann!

 


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