Theodor Fontane
Kriegsgefangen
Theodor Fontane

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6. Marennes.

Bedrückend wie der Traum war das Erwachen. Bleiern lag es um meine Stirn; als ich mich erheben wollte, fiel ich kraftlos zurück; das Gespenst des Nervenfiebers stand vor mir. Wer einmal das Heraufziehen dieses schweren Gewitters an sich beobachtet hat, behält eine Erinnerung auf Lebenszeit. Ich kam aber drüber hin; wahrscheinlich hatte mich der Kohlendampf vom Tage vorher nur betäubt und ließ meinen Zustand schlimmer erscheinen, als er war. Es war Mittag, als ich in den Hof hinunterstieg, um mich in frischer Luft zu erholen.

Ich mochte während dieses Spazierganges auf alle, die mich sahen, einen ziemlich tristen Eindruck gemacht haben, denn bei meiner Rückkehr in den großen Korridor überraschte mich die Meldung, daß ich umquartiert worden sei. Der Direktor habe es so angeordnet. Ich ging, um zunächst meinen Dank auszusprechen, und stieg dann treppauf in meine neue Behausung. Es war das Arbeits- und Wohnzimmer des Sohnes (jetzt bei der Armee in Paris), das man mir eingeräumt hatte, und der langentbehrte Anblick des Wohnlichen tat mir in diesem Augenblick der Erschöpfung und des Kleinmuts unendlich wohl. Der Gesunde kann diese Dinge leicht entbehren, dem Kranken sind sie ein Labsal. Ein Schreibtisch, ein Bücherbrett, ein paar Bilder. Über die Fliesen waren Teppichstreifen gelegt; im Kamin brannte ein hohes Feuer, auf dem Sims standen ein paar Vasen, dazwischen ein Spiegel. Ich sah hinein. Das erstemal seit fünf Wochen! Ich konnte nicht finden, mich verbessert zu haben.

Zu seiten des Kamins stand ein breiter Stuhl; ein gesticktes Kissen war in die Rückenlehne gelegt. Ich suchte unter den Büchern, wählte eine »Archéologie chrétienne« und rückte nun vor das Feuer. Von Notre Dame und der Reimser Kathedrale lesend, vergingen die Stunden; ehe noch der Abend kam, war ich genesen. Der Direktor erschien, um nach meinem Befinden zu fragen. Wir sprachen von unseren Söhnen, der seine in Paris, der meine davor; die Väter saßen hier friedfertig beieinander. Wir kamen auch auf das Gefängniswesen. »Das Reglement ist gut; aber kein Reglement erschöpft alle Fälle und Möglichkeiten; es heißt eben auch da: der Buchstabe tötet, der Geist macht lebendig.« Wie sehr empfand ich die Wahrheit alles dessen! Einer solchen ideellen Auffassung ihres schweren und wichtigen Berufs bin ich bei den französischen Gefängnisvorständen mehrfach begegnet. Sie erkannten ihre Pflicht darin, zu erheben, nicht niederzudrücken; keine Sentimentalität, aber Humanität. Alle diese Männer empfanden sich als Träger einer Aufgabe und nahmen eine Stellung zu dieser.

Die Insel Oléron, für die wir, meine badischen Mitgefangenen wie ich selbst, bestimmt waren, konnte von Rochefort aus zu Schiff, die Charente hinunter, ohne weitere Zwischenstationen in höchstens vier, fünf Stunden erreicht werden; die Behörden zogen es aber vor, uns – unter Ausschluß dieses Flußweges – so weit wie möglich den Landweg machen zu lassen, d. h. also, bis zu einem äußersten, vorspringenden Punkte hin, dem dann die Insel auf kaum Kanonenschußferne gegenüberliegt. Diese Bevorzugung des Landweges vor dem Wasserwege schuf uns noch eine Etappe. Diese Etappe war Marennes.

Der Weg von Rochefort bis Marennes betrug wenig über zwei Meilen; es war also eine gute Gelegenheit gegeben, unser durch Eisenbahnfahrten nur mäßig in Zirkulation gehaltenes Blut durch einen vierstündigen Marsch wieder frisch und umlaufslustig zu machen. Die Nachricht davon wurde auch mit allgemeinem Jubel aufgenommen; ich als »officier supérieur« indes erhielt die Zusicherung eines Wagens, womit ich denn auch, trotz aller Wertschätzung energischen Blutumlaufs, schließlich sehr einverstanden war.

Um 9 Uhr setzte sich die Kolonne in Bewegung. Ich sage absichtlich die Kolonne, denn wir waren am Tage vorher durch zwölf andere Gefangene, meist Matrosen und Schiffsjungen, verstärkt worden und musterten jetzt im ganzen achtzehn Mann. Es war ein vollständiger Zug. Erst zwei berittene Gendarmen, dann mein Fuhrwerk, dann die Kolonne, dann wieder Gendarmen, dann Volk. So ging es bei schönstem Wetter aus Rochefort hinaus; die Luft war frisch, aber nicht scharf; die Sonne fiel auf die generalsartigen Wachstuchhüte der Gendarmen und ließ diese hell erglänzen. Die Stimmung aller war wie der Morgen.

Ich marschierte eine Viertelmeile mit, weil ich, zunächst wenigstens, wie alle anderen das Bedürfnis nach Bewegung hatte; dann nahm ich meinen Platz auf dem Gefährt ein. Es war ein zweirädriger Bau, von dem ich unentschieden lasse, ob der Verbrecherkarren oder die norwegische Karriolpost in ihm vorwog; was das Balancierbrett anging, das dem Kutscher und mir als Sitz diente, so war es ganz und gar skandinavisch, nur der Skudsjunge fehlte. Statt dessen hatte auf dem rechten Brettflügel ein Alter in einem Schafpelz mit langhaariger Ziegenfellpelerine Platz genommen. Dies sah unendlich komisch aus. Er plauderte viel, aber sehr geschickt, und suchte namentlich alle langen Sätze zu vermeiden, ganz ersichtlich, um mir die Konversation zu erleichtern.

So ging es fast eine Meile, wo wir in einem großen Dorfe, ich glaube St. Agnair, eine erste Rast machten. Die Auberge hatte ganz den Charakter einer spanischen Posada; alles war räucherig und geschwärzt, ein Hängekessel über dem Feuer, Heiligenbilder, die Weiber alt und häßlich, und inmitten dieser Wüstheit einen großen Bauer mit Kanarienvögeln, deren hellgelbes Gefieder wunderbar kontrastierte mit dieser Fülle von Schwarz und Rauch. Ich bestellte Kaffee und geriet beim Anblick einer großen Kaffeemühle, die herbeigeschleppt wurde, in solche Freudigkeit, daß ich auf einem Schemel am Feuer Platz nahm und energisch zu drehen begann, während in das Gesumm des brodelnden Wassers hinein die Scheite knackten und die Kanarienvögel sangen.

Nach einer guten halben Stunde ging es weiter, immer in demselben Aufzuge. Das landschaftliche Bild aber wurde von hier ab ein völlig anderes. Bis St. Agnair hin waren wir durch eine einfache Flachlandgegend gezogen, die ebensogut auch bei Alt-Landsberg oder Jüterbog hätte liegen können; jetzt erst traten wir in ein Terrain ein, das diesen Küsten eigentümlich ist: in die »Marais« (Meersümpfe), angeschwemmtes, dem Meere entwachsenes Land, das aber immer noch zweilebig geblieben ist und in seinem Luch- und Sumpfcharakter nicht recht weiß, wozu es sich halten soll. In anderen Gegenden ist dies angeschwemmte Land, wie beispielsweise an der schleswig-holsteinischen Westküste, ein vorzüglicher, die besten Ernten gebender Boden; hier aber erweist er sich als stumpf, lehmarm, unfruchtbar und trägt nur eine kümmerliche Kruste, gerade stark genug, um ein mittelmäßiges Gras zu produzieren und eine ziemlich ausgedehnte Viehzucht zu gestatten. Dabei ungesund wie alle Sumpfgegenden.

Die schon mit südlicher Kraft wirkende Sonne an diesem Küstenstriche hat es aber doch ermöglicht, in diesen »Marais« eine eigene Industrie großzuziehen, die nicht nur vielfach die Bevölkerung nährt, sondern auch landschaftlich diesen Gegenden einen besonderen Stempel aufdrückt. Das ist die Seesalzfabrikation. In große, flache Teiche wird mit Hilfe der Flut, wenn ich nicht irre, das Seewasser geleitet und durch den einfachen Prozeß der Verdunstung auf Seesalz hin bearbeitet. Mit großen Krücken, den »râbles«, werden die Kristalle herausgefischt und dann in daneben befindlichen, meist backofenartigen Strohhütten aufbewahrt. Auf Meilen hin sieht das Auge nichts wie Wiesen, Teiche und Strohdächer. Sehr monoton, aber sehr eigentümlich.

Nach abermals anderthalb Stunden erreichten wir eine scharfe Biegung der Chaussee; die Straße begann ein wenig zu steigen, und der Turm von Marennes, eine hohe gotische Spitze, wurde sichtbar. Wir hatten von dieser Wegbiegung aus nur noch eine gute halbe Stunde; das belebte wieder. Die etwas aus Schritt und Tritt gekommene Kolonne ordnete sich; die Gendarmen, die sich nach deutschen Kommandos erkundigt hatten, kommandierten unter Lachen: »links, rechts, links, rechts«, und von der Front her erscholl jetzt der Ruf: singen. Ich drehte mich um und nickte ihnen zu, wurde aber in demselben Augenblick von dem bangen Gedanken erfaßt: Was wird es jetzt geben, was wird gesungen werden? Richtig, die Wahl überstieg noch meine kühnsten Erwartungen; ein Badenser intonierte: »Ich weiß nicht, was soll es bedeuten«, und die Matrosen fielen sofort heiser und wehmutsvoll ein: »daß ich so traurig bin.« Sie waren aber alles andere eher wie traurig; namentlich der eine, ein bildhübscher Kerl, der unserem Steffeck in seinen besten Tagen wie ein Zwillingsbruder ähnlich sah, hatte in St. Agnair dem »vin blanc« erheblich zugesprochen, und hin und her wankend, machte er jetzt allerdings den Eindruck einer gewissen Auflösung, aber nicht in Schmerz.

Endlich war man mit allen Versen durch, eine kleine Räusperungspause trat ein, die uns bis auf tausend Schritt an die im Mittagslichte hell daliegende Stadt führte. Ein Wäldchen, Birken und Eichen, eine sauber gehaltene »Plantage« lag uns bereits zur Rechten, und schon begannen einzelne Spaziergänger sich unserem Zuge anzuschließen. Das gab neuen Künstlermut, und siehe da, ein alter anhaltiner Marketender, der beim Butteraufkauf in der Nähe von Laon von Franktireurs gefangen genommen worden war, kommandierte jetzt mitten aus der Kolonne heraus: »Die Wacht am Rhein«. Ich mußte laut auflachen. Eine auf die größte Dummheit gesetzte Prämie hätte keine bessere Wahl zustande bringen können. Die Kolonne war aber so unkritisch wie möglich; ein halbes Dutzend Stimmen unterstützten die Forderung, und unter der in jeder Strophe aufs neue abgegebenen Versicherung, daß »lieb' Vaterland ruhig sein könne«, zogen wir hundert Meilen westwärts des Rheins als Kriegsgefangene in Marennes ein. Die halbe Stadt hatte sich schon vorher uns zugesellt. Es war, wie wenn die Puppenspieler irgendwo einziehen. Ich als Direktor. Mein Alter mit der Ziegenfellpelerine sah aus wie der Zauberer der Gesellschaft. Unzweifelhaft erstes Mitglied.

Das Gefängnis nahm uns auf; Besuche kamen; wir waren weit mehr eine Sehenswürdigkeit als Feinde. Der Souspräfekt begrüßte mich; ein feiner, blaß und kränklich aussehender Herr, der mich lebhaft an Mr. Cialandri, den Souspräfekten in Neufchateau, erinnerte. Was lag alles dazwischen! Tod und Leben.

Wir hatten ziemlich freie Bewegung, jede kleine Annehmlichkeit wurde gewährt, freilich für Summen, die ans Lächerliche grenzten. Ich bezahlte ein Hammelkotelett wie ein Diner bei Very. Gegen Abend erschienen der Maire und sein erster Sekretär in meiner Zelle. Es kam Licht. Die beiden Herren nahmen auf einer Bank Platz, ich auf dem Bettrand; so plauderten wir. Sie waren, als Schäfer verkleidet, bei Sedan von den Preußen gefangen genommen worden und hatten beide auf dem Punkte gestanden, ihre Schlachtenamateurschaft mit dem Leben zu bezahlen. Herzog Wilhelm von Mecklenburg hatte sie gerettet und freigegeben. Da waren sie nun wieder in Marennes. Als Dritter im Bunde saß ich daneben. Meine Amateurschaft für romantische Plätze hatte mich auf französischer Seite in dieselbe bedrohliche Situation gebracht. Wir tauschten unsere Erlebnisse aus, zugleich unsere Beftiedigung darüber, daß wir es überhaupt noch konnten.

Dann trennten wir uns; der Schließer entschuldigte sich, daß er »schließen« müsse; eine halbe Stunde später schloß ich die Augen.

In der Nacht horchte ich auf, ob ich nicht den Wogengang des »Atlantic« hörte, dem ich jetzt auf eine halbe Stunde nahe war. Mitunter schien es mir, als rausche und grüße es herüber.

Aber es war nur der Wind, der durch den Kamin fuhr.

 


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