Theodor Fontane
Kriegsgefangen
Theodor Fontane

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6. Le Rempart.

Um 8 Uhr früh oder wenig später trat ich allmorgendlich auf den Wallgang (»le Rempart«) hinaus, der sich auf dem fünfzehn Schritt breiten Terrain zwischen meiner Kaserne und dem Meere hinzog. Zehn Schritt von diesen fünfzehn gehörten einem langen, in zahllose Beete geteilten Gartenstreifen an; auf dem fünf Schritt breiten Rest erhob sich der »Rempart« selber. Dieser war nicht ein gewöhnlicher zugeschrägter Wall mit Grasdossierung und einem Fußsteig oben, sondern ein aus senkrechten Quadern aufgeführtes Mauerwerk, das, wahrscheinlich noch aus der Vaubanzeit stammend, mit Steinbrüstung und ausbuchtenden Banknischen zwischen zwei Bastionen hinlief. Die Entfernung zwischen diesen, also die ganze Länge des Rempart, betrug 150 Schritt. Das Bewegungsminimum, das ich mir Tag für Tag zum Gesetz gemacht hatte, bestand in einem zehnmaligen Auf und Ab, wodurch ich es auf 3000 Schritt brachte. Um nicht immer zählen zu müssen, hatte ich mir an einem Ende des Ganges zehn weiße Steinchen auf die Brüstung gelegt, von denen ich jedesmal eines zu mir steckte, bis ich durch war.

Diese Morgenspaziergänge, denen ich bei schönem Wetter noch eine kurze Mittags- oder Nachmittagspromenade folgen ließ, waren meine besondere Freude, und ich darf sagen, die schönsten und poetischsten Stunden meiner Oléron-Tage auf diesem prächtigen Rempart zugebracht zu haben. Je nach der Stunde, zu der ich heraustrat, fand ich Flut und Ebbe, begrüßte ich das steigende oder das schwindende Meer. War Ebbe, so lag der Wasserarm, der unsere Insel vom Festlande trennte, zur Hälfte wie eine Sandbank da; die Boote und Luggerschiffe standen wie Spielzeug auf dem von Rinnen und Wasserlachen durchzogenen Schlick; über diese Schlickfläche hin aber, die Rinnen und Tümpel mit allerhand Bretterwerk überbrückend, schritten die Schiffer und Schifferfrauen, ihren Fang heimtragend oder zu neuem Fange sich rüstend. Mehr dem Ufer zu, unmittelbar zu Füßen des Rempart, trieben die hochbeinigen Strandläufer ihr possierliches Spiel; mit weißer Brust und schwarzen Flügeln, trippelnd, pfeifend und nahrungsuchend liefen sie herdenweise über den lehmigen Grund hin.

Das war ein eigentümliches Bild; aber groß und erhebend war es, wenn nun die Flut unhörbar herankam, immer wachsend, immer steigend, bis die erste leise Brandungswelle das Mauerwerk des vorspringenden Bastions und eine Minute später den Quadernfuß des zurückgelegenen Rempart traf. War nun ein grauer Tag, oder kämpften noch die Morgennebel mit dem Licht, so zeigte das Meer, das in beständigem Kommen und Gehen den Schlick aufrührte, eine gelbe, wenig anmutende Farbe, und die Schönheit des Bildes begann erst jenseit der Wasserfläche, dort, wo das Ufer drüben in leiser Windung einen Kranz von Dünen und Dörfern und eingestreuten Kirchen flocht; zog aber die Sonne siegreich herauf, so begannen nun jene Licht- und Farbenwunder, wie sie nur der kennt, der von Stunde zu Stunde dem kaleidoskopischen Spiel des Meeres und dem Beleuchtungswechsel seiner Ufer folgt.

Die Landschaft drüben, graublau am Morgen, schimmerte mittags wie in Gold, bis sie bei untergehender Sonne tief in Rot sich tauchte; das Meer selber aber, in noch rascherem Changieren, lief alle Töne der Farbenskala durch, wenn diese Töne nicht gar (wie auch wohl geschah) regenbogenartig nebeneinander lagen; chamoisfarben, grasgrün, tiefdunkelblau glitzerte dann, wie eine Schlange, die leis sich hebende Flut.

Nicht müde wurde ich dieser Farben und Bilder, und selbst an Regentagen, die auch ihren Zauber hatten, versuchte ich es, auf kurze Minuten hin an dieser bevorzugten Stelle auszuhalten; nur die Sturmtage, an denen im Monat November nicht eben Mangel war, fegten mich gewaltsam vom Rempart hinunter und zwangen mich, meinen Morgenspaziergang unten auf dem zehn Schritt breiten Gartenstreifen zu machen. Der Sturm heulte dann über mich hin. Aber auch sein bloßes Drüberhingehen reichte schon aus, alles, was hier unten noch grünte, erzittern zu machen. Die letzte Malve, losgerissen vom Stock, schwankte hin und her, die gelbe Studentenblume duckte sich noch ängstlicher unter die in Samen geschossenen Salatstauden als an anderen Tagen, und der zarte Duft verspäteter Levkojen verflog unbeachtet in der vibrierenden, oft wie vom Donner durchrollten Luft. Die Blumen lebten hier Tag um Tag wie Gefangene; aber wenn der Sturm über sie hinfuhr, waren sie vollends wie niedergetreten.

Ein Gefangener ist empfindlich gegen solche Eindrücke. Sie loszuwerden, trat ich dann über die Treppenstufen rasch auf den Rempart hinaus. Es wetterte; ich hielt den Hut mit beiden Händen, und der Gischt sprang bis über die Brüstung. Aber ich atmete auf und sah nach Osten hin, wo mir die Heimat lag und die Freiheit.

 


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