Theodor Fontane
Kriegsgefangen
Theodor Fontane

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8. Teestunde.

Von sechs bis acht war Teestunde und – Empfang. Man wußte das schließlich in der ganzen Kaserne, und so hatt' ich denn meist um diese Zeit Besuch. Mitunter drängte es sich, und in diesem Falle war es nichts Kleines, mit drei Gläsern und einer Zuckerdüte das leibliche und mit Hilfe einer Unterhaltung, die vom Hundertsten aufs Tausendste sprang, das geistige Bedürfnis der Gäste zu bestreiten. Aber dies alles geschah doch im ganzen nur selten, so selten, daß ich beinahe glaube, es unterblieb aus Rücksicht, und sobald Neuankommende merkten, »es ist schon Besuch da«, kehrten sie einfach um.

In der Regel kam man zu zweien, so daß wir uns zu dritt an den Kamin setzen konnten; Rasumofsky als dienender Bruder im Hintergrunde. Das Hauptpaar waren zwei Einjährige, ein bayrischer Chevauleger, Graf A., und ein Frankfurter Dragoner, eines Großweinhändlers Sohn. Sie waren sehr verschieden, aber jeder angenehm und tüchtig in seiner Art. Der Dragoner, ein stattlicher Rheinfranke, hatte das Breite, Männliche des ganzen Stammes; jener, der Chevauleger, war heiter, liebenswürdig und vor allem ganz blond, was mich bei seinem italienischen Namen und seiner italienischen Mutter immer am meisten verwunderte. Beide sprachen vollkommen FranzösischUnter den Gefangenen, auch schon in Besançon, befanden sich stets sehr viele, die Französisch sprachen. Dies hatte darin seinen Grund, daß die meisten weggefangene Patrouillen waren, und daß zum Patrouillen- und Rekognoszierungsdienst, solange es sich ermöglichte, immer wenigstens ein Französischsprechender genommen wurde. und hatten, wie die sprachliche Fähigkeit, so auch den moralischen Mut, jederzeit für die Interessen ihrer Mitgefangenen einzutreten. Das machte sie natürlich beliebt. Bei dem jungen Grafen kam noch hinzu, daß er keine Spur von Standesdünkel zeigte; er half, unterstützte, interpretierte, aber in allem übrigen war er einfacher Reitersmann wie jeder andere. Es waren sehr liebenswürdige junge Männer, fein, rücksichtsvoll, unterrichtet; aber eines werden sie mir nicht übelnehmen: sie waren keine brillanten Unterhalter, so daß ich mitunter einen schweren Stand hatte. Die Konversation begann immer mit den Tagesfragen, die teils ihrer Einfachheit, teils ihrer geringen Zahl halber schnell erledigt waren. Der Mensch wird in solchen Zeiten auf einen gewissen Naturstandpunkt herabgedrückt; aller Luxus fällt ab. Es handelt sich für vornehm und gering um dieselben Dinge, und so nimmt auch die Unterhaltung entsprechende Formen an. Es war kein Unterschied, ob ich mit Rasumofsky oder mit diesen beiden feingebildeten Herren sprach; es wurden dieselben Fragen gestellt, dieselben Bedenken, Klagen und Hoffnungen laut. Es ist begreiflich, daß ein solches Fünf-Minuten-Material für anderthalb Stunden nicht ausreichte. Die Rede stockte; und da ich kein Freund der »Ausschweigesoireen« bin, so fiel mir, wie schon angedeutet, die nicht leichte Aufgabe zu, wie für den Tee, so auch für den Unterhaltungsstoff zu sorgen. Alle meine alten Steckenpferde mußten aus dem Stall, und nie hab' ich in Völkerpsychologie und vergleichender Stamm- und Rassenforschung so geschwelgt als an meinem Kamine in Oléron. Wenn ich dann über die Weltherrschaftsqualität der germanischen Rasse, über die Nichtgefahr des Panslawismus, über die Wellenbewegungen im Volksleben, über die eigentlichen und uneigentlichen Demokratien meine freien Vorträge gehalten und der Graf (darin ganz Graf) mit völligster Ungeniertheit sich ausgegähnt hatte, zogen sich gegen acht die beiden Herren zurück und ließen mich mit Rasumofsky und eine halbe Stunde später mit Blanche allein.

Diese zwei Volontärs waren die Aristokratie der Gesellschaft. Es kamen aber auch andere, gewöhnlich paarweise, ein Preuße und ein Bayer; immer beste Freunde.

Das erste Paar war Sergeant Polzin von den Schleswigschen Husaren und Unteroffizier Vollnhals vom 11. Bayrischen Regiment. Sie hatten den Überfall von Ablis gemeinschaftlich durchgemacht und sich bei jener Gelegenheit bewährt und gefunden. Es waren ein paar Typen norddeutscher und süddeutscher Soldatenschaft. Polzin, wie schon sein Name angibt, ganz Pommer, stammte im dritten oder vierten Gliede aus einer Sergeanten-, Gendarmen- und Steueraufseherfamilie (auch eine Art Adel), soldatisches Vollblut nach Abstammung und Trainierung. Wie so viele Kinder solcher Beamten, war er in Annaburg erzogen. Das sind die Plätze, die, wie sie aus einer Eigenart heraus entstanden, nun diese Eigenart auch weiter fortbilden. »Scharf aber jut«, dahin faßte Polzin selber sein Urteil über diese Militärerziehungsanstalt zusammen. Mit Vorliebe sprach er vom Jahre 48, wo er, damals zehn Jahre alt, jedesmal mit dem Gefühl auf Wache gezogen sei, daß sich die ganze Demokratie der Nachbarschaft an seiner kleinen Bajonettspitze brechen werde. Seitdem waren viele Jahre ins Land gegangen. Er hatte Provinzen und Armeekorps gewechselt; jetzt stand er in Schleswig. Er war stolz auf sein Regiment, aber doch noch stolzer auf Preußen. »Diese Schleswiger« – so sagte er wohl, wenn er ans Fenster trat und unten seine eigenen stattlichen Leute in Hellblau und Weiß über den Kasernenhof hinschreiten sah –, »diese Schleswiger, sehen Sie: ein richtiger Preuße is in solchen Kerl nicht 'reinzukriegen; nichts Adrettes, Strammes. Aber das muß wahr sein, tapfer sind sie; sie stehen wie die Mauern. So recht Kerle, auf die man sich verlassen kann. Sie halten aus bis zuletzt.« Übrigens hielt sich Polzin, auch darin altpreußischen Traditionen huldigend, nur selten mit Tee auf. Die Teestunde war für ihn ein bloßer Name. – Aus anderem Holze war Unteroffizier Vollnhals. Diese Bayern, wenn man sie zu nehmen versteht und ihren kleinen Schwächen etwas nachsieht, vor allem sich nicht über sie erheben will, sind überhaupt entzückend. Von ihrem Mut red' ich nicht erst. Er ist auch in diesem Kriege wieder sprichwörtlich geworden. Neben diesem Mute aber haben sie noch etwas Naives, das den Verkehr mit ihnen sehr angenehm macht. Sie haben alle etwas Männliches, individuell Freiheitliches und sind auf jede Gefahr hin widerstandsbereit, wenn man das Letzte in ihnen herausfordert; aber bis dahin sind sie wie die Kinder und haben vor jeder Potenz des Lebens, es sei Amt, Wissen, Vermögen, einen ungeheuchelten Respekt. Dies alles trat auch bei meinem Vollnhals hervor. Er wußte recht gut, daß er sich bei Ablis wie ein Held geschlagen hatte, und erzählte mir lächelnd, daß die französischen Offiziere sich untereinander angestoßen und sich zugeflüstert hätten: »Das ist er«, aber bei allem Heldentum und aller naiven Freude darüber war er bescheiden und dankbar für jeden Beweis von Aufmerksamkeit.

Das zweite Paar war ein Gefreiter vom 96. Regiment, ein Sachse (Altenburger), dessen Namen ich vergessen habe, und Sergeant Genzel von den 10. Ulanen. Der Gefreite war ein guter, umgänglicher Mensch, aber doch ein wahres Kreuz für mich. Man urteile selbst. Ich liebe die Sachsen, bin dankbar für glückliche Tage und Jahre, die ich unter ihnen verlebte, und habe vor ihrer Energie, Zähigkeit und Durchschnittsgebildetheit allen möglichen Respekt; aber in dieser letzteren Eigenschaft steckt doch auch wiederum ihr Schrecknis. Lebhaft und intelligent von Natur, gut erzogen und von Jugend auf mit Zeitungslektüre und Kannegießerweisheit vollgestopft, treten sie mit der größten Ungeniertheit an all und jede Frage heran und wissen ganz genau, daß Freiheit der Kirche vom Staat, oder Freiheit der Schule von beiden, oder Konfessionslosigkeit, oder Kindergärtnerei einzig und allein noch die Menschheit retten können. Sie haben immer eine Revalenta arabica oder einen Hoffschen Malzbonbon in petto, womit alle Schäden der Gesellschaft kuriert werden könnten. Während es in Norddeutschland, namentlich an den Küsten hin, immer noch eine Bauernweisheit gibt, gibt es in Sachsen einen allgemeinen Winkeladvokatenschnack, der nach unten hin imponiert, nach oben hin aber nervös macht. Von diesem Schnack leistete auch mein 96er sein vollgewogen Teil. Er hatte in dem Reisebündel eines später eingetroffenen Gefangenen ein »Dresdener Journal« vom 27. September gefunden, und mit Hilfe dieses zwei Monate alten Zeitungsblattes terrorisierte er seine Mitgefangenen und löste alle schwebenden Fragen. – Desto brillanter war Sergeant Genzel. Er war ein Halberstädter, also auch sehr gebildet, aber denn doch aus ganz anderem Holze geschnitten. Schon physisch. Ein großer, schöner Mann, breitschultrig, bärtig, der immer, um Haupteslänge alle anderen überragend, wie ein Halbgott über den Kasernenhof hinschritt. Als ich ihn das erstemal bei mir sah, sprach er wenig und erzählte nur, wie er gefangen nach Orleans hineingeschleppt worden sei. »Man warf mit Steinen, man spie vor mir aus, und Damen, nicht Weiber, stürzten auf mich los und hielten ihre kleinen weißen Fäuste mir drohend ins Gesicht. Ich schritt ruhig weiter, aber in mir dacht' ich unwillkürlich an unseren unsterblichen Schiller und sprach halblaut vor mich hin: ›Da werden Weiber zu Hyänen‹«. Dies Zitat hatte er wie eine Visitenkarte bei mir abgegeben, und ich wußte nun, woran ich war. Er war von der höheren Ordnung. – An anderen Abenden, die jenem ersten Besuche folgten, kam er dazu, seine Schicksale, seine Gefangennehmung und die Gefechte, die dieselbe begleiteten oder ihr vorausgingen, ausführlicher zu erzählen. Er tat dies ganz wie ein vornehmer Mann und legte in allem, was er vortrug, den Akzent immer auf die Gesinnung, nicht auf die Tat. Das bloße Totschlagen imponierte ihm gar nicht, im Gegenteil, alles Massaker verletzte nur sein ästhetisches Gefühl. Er hatte einen Einzelkampf mit einem Turko gehabt, der in eine Schmiede retirierte und sich hier mit außerordentlicher Bravour verteidigte. Endlich packte ihn Genzel und spaltete ihm den Nacken. Aber in seinem Vortrag ging er rasch drüber hin. Er liebte es nicht, auch noch seine Erzählungen rot zu färben. Wie unser Schicksal übrigens so oft an unserer Gesinnung hängt, so auch bei ihm: – sein chevalereskes Empfinden hatte ihn in Gefangenschaft geführt. Ein junger Offizier des Regiments verlor in der Attacke sein Pferd. Genzel, verbindlich wie immer, sprang aus dem Sattel und präsentierte das seine. Ein Dank, und weiter ging es in den Feind. Aber nach fünf Minuten schon riefen die Signale zurück; man war in Kartätschenfeuer hineingeraten; kehrt, rückwärts! Und der mächtige Genzel trabte nun zu Fuß nebenher. Endlich verließ ihn die Kraft; unter einem Blutsturz brach er zusammen. Er hatte in jener Unglücksstunde wie seine Freiheit, so auch seine Stimme eingebüßt; er sprach heiser seitdem. Man schleppte ihn nach Orleans hinein; Frauen insultierten ihn (wie schon erzählt). Endlich trat ein Elsässer Offizier an ihn heran und rief ihm zu: »Wißt Ihr, was wir jetzt mit Euch machen könnten?« »Mit mir machen?« schrie der empörte Genzel: »Gar nichts könnt ihr mit mir machen; totschießen könnt ihr mich, und dafür will ich euch noch dankbar sein. Geht erst hin und lernt wie man einen anständigen Soldaten behandelt.« Das half. Solche Anreden halfen immer. Wer zu reden verstand, war durch. Das Wort ist in Frankreich eine größere Macht als bei uns.

Das dritte Paar, das abends zum Tee kam, war Unteroffizier Janeke von den Gardeulanen und Sergeant Heglmaier vom 6. oder 9. Bayrischen Jägerbataillon. Doch bin ich der Zahl nicht sicher. Diese waren Inséparables geworden, liebten sich schwärmerisch und machten beständig Pläne, wie sie sich gegenseitig in München und Potsdam besuchen würden. Janeke, persönlich äußerst bescheiden, hatte doch, wenn er Potsdam nannte und seinem Freunde den großen Springbrunnen in Aussicht stellte, ein ungeheures Gefühl von Superiorität, etwa wie wenn er in der Lage wäre, den Vorhang von einer neuen Welt wegziehen zu können. Heglmaier, ein oberbayrischer, rotblonder Mann von besonderer Gutmütigkeit, ließ sich das alles gefallen. Er mochte denken: »Der Preuß ist fünfmal so stark als der Bayer, muß auch Berlin-Potsdam fünfmal so schön sein als München.« Vielleicht aber dacht' er auch gar nichts, ja, ich halte dies für das Wahrscheinlichere. Er war nämlich ein musikalisches Genie, und neben seiner Liebe zu Unteroffizier Janeke füllten nur Virtuosenträume und Konzertpassionen seine Seele aus. Ich wurde durch eine feierliche Morgenvisite, die mir Janeke noch in den letzten Tagen meiner Gefangenschaft machte, in diese Zustände seines Freundes eingeweiht. Nach einer Vorrede hieß es, »ich sei mit dem Kommandanten so gut wie befreundet; derselbe würde mir gewiß etwas zu Gefallen tun. Heglmaier könne es nicht mehr aushalten; ich möchte also den Antrag stellen, daß die Insel Oléron nach einer Zither durchsucht würde. Heglmaier wolle dann ein Konzert für die Verwundeten geben«.

So waren die Paare, die sich abwechselnd zum Tee bei mir versammelten. Mit herzlichem Vergnügen denke ich an jene Stunden zurück: Sie gönnten mir Einblick in das Leben unseres Volkes, in seine Kraft und seine Güte.

 


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