Theodor Fontane
Kriegsgefangen
Theodor Fontane

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14. Sturm im Glase Wasser.

Das Sterben wurde bald Tagesordnung auf Oléron. Es konnte kaum anders sein. Etwa Mitte November trafen siebenhundert Bayern auf der Zitadelle ein, die man nach Einnahme Orleans' durch General Aurelle de Paladines in den dortigen Lazaretten zusammengesucht und als »Gefangene« nach Oléron geschickt hatte. Etwa ebensoviele, nach anderen Angaben erheblich mehr, waren nach Pau dirigiert worden.

Dies Verfahren, lediglich um sich vor versammeltem Volk mit einer erträglich hohen Zahl von Gefangenen brüsten zu können, hatte wenig einer Gloire-Nation Entsprechendes; dennoch hätte man mit Rücksicht auf die Notwendigkeit, dem Volke einen Sporn zu geben, solche Maßregel verzeihlich oder meinetwegen selbst sehr verzeihlich finden können, wenn man bei diesem Zusammensuchen etwas humaner vorgegangen wäre. Es hätte sich dann darüber reden lassen. In solchen Zeiten (leider) muß zuletzt alles dem letzten großen Zwecke dienen. Aber ein ernster Vorwurf für die französischen Machthaber oder für diejenigen, die in ihrem Namen handelten, wird es bleiben, daß man nicht bloß wirkliche Rekonvaleszenten und leicht Verwundete, sondern auch Personen fortschleppte, die dicht vor dem Typhus standen oder ihn kaum erst überwunden hatten. Unter allen Umständen aber (und das ist das Geringste, das gefordert werden darf) mußte man, wenn man so tief in die Lazarettbestände hineingreifen wollte, vorher wissen, daß man auf Oléron imstande sein werde, diesen noch halb Kranken Pflege oder doch ein Bett oder doch eine Decke geben zu können. Statt dessen hatten die auf Oléron eintreffenden Siebenhundert in den ersten Nächten kaum Stroh. Das war natürlich kein Zustand, um Rekonvaleszenten aufzuhelfen; Rückfälle kamen vor, und der Geistliche, die Chorknaben und der Totengräber mußten Tag um Tag in dem Aufzuge, den ich geschildert, auf den Begräbnisplatz hinaus.

Eine Verstimmung über diese Zustände war unausbleiblich; besonders die Preußen, unter denen sich viele Unteroffiziere und Sergeanten befanden, waren empört und gaben nach ihrer heimatlichen Art (wer räsonnierte nicht in Preußen!) dieser Empörung einen unverhohlenen Ausdruck. Beim Kantinengrog, auch wohl in der Stadt beim Einkäufemachen, fielen Worte, »daß dies eine erbärmliche Wirtschaft und ein schlechter Dank für die Rücksicht sei, die man unsererseits gegen dreihunderttausend Franzosen bisher beobachtet habe«; Worte, die alsbald von Mund zu Mund gingen und im Weiterrollen folgende groteske Gestalt annahmen: die tausend Gefangenen der Zitadelle sind im Komplott. Sie haben vor, die Wachmannschaften zu entwaffnen, die Außenposten ins Meer zu werfen; man wird Chateau überfallen und von der ganzen Insel Besitz ergreifen. Preußische Kriegsschiffe kreuzen bereits in der Nähe. Man wird weitere Truppen landen, Rochefort einschließen und von dort aus das Land insurgieren. Ein napoleonischer Aufstand im Rücken der republikanischen Armee, – das ist der Plan. Der »Gefangene auf Wilhelmshöhe« ist mit im Komplott.

Wir erfuhren dies wieder und lachten herzlich. Die Heldenrolle, die uns zudiktiert wurde, hatte etwas Ehrendes und Schmeichelhaftes für uns; aber bald überzeugten wir uns, daß solche Gerüchte doch höchst gefährlich für uns seien und unser relatives Wohlleben arg gefährden könnten. Was aber namentlich dem engeren Kreise, der sich bei mir zu versammeln pflegte, das Allerpeinlichste war, war das, daß unser guter Kommandant mit in die Angelegenheit hineingezogen und um seiner Nachsicht und Güte willen (die übrigens nie in Schwäche ausartete) bezichtigt wurde, das eigentliche Haupt des Komplotts zu sein.

Wir beschlossen also, nicht nur äußerste Vorsicht zu üben, sondern namentlich auch die Anstandsbesuche, die wir von Zeit zu Zeit in der Kommandantur gemacht hatten, einzustellen. Ich wurde dazu noch durch einen besonderen Vorfall bestimmt, der, so klein und geringfügig er war, doch am besten zeigte, wie kritisch bereits die Lage geworden war.

Ich hatte bei einem Nachmittagsbesuche eben neben dem Kommandanten Platz genommen und ließ mir das Straßburger Bier schmecken, das in einer Steinkruke, wie immer, auf ein zwischen uns stehendes Tischchen gestellt worden war, als der eintretende Diener den Kapitän N. N. meldete. Den Namen überhörte ich. Es war, wie ich mich bald überzeugen sollte, ein Seekapitän, der zugleich das Kommando über die Nationalgarden der Insel übernommen hatte. Mein guter Kommandant nickte, zum Zeichen, daß er bereit sei, den Angemeldeten zu empfangen, sprang aber in demselben Augenblick, in dem der Diener das Zimmer verlassen hatte, vom Fauteuil auf, um mit geschwindester Geschwindigkeit einen großen Wandschrank zu öffnen und die Steinflasche sowie die beiden noch halbvollen Biergläser dahinter verschwinden zu lassen. Der Verschwindeakt war kaum ausgeführt, als der Seekapitän eintrat und das Dienstgespräch seinen Anfang nahm. Ich empfahl mich; mein halbes Glas Bier hatte ich eingebüßt. Dies war zu verschmerzen; der ganze Vorgang bekümmerte mich aber um des Kommandanten willen. Dieser war nicht nur ein liebenswürdiger, sondern vor allem auch ein sehr feinfühliger Mann, der notwendig eine Verlegenheit über die Komödie empfinden mußte, zu der er sich verurteilt sah.

Er empfand es auch wirklich, so vermute ich; vor allem aber sah er ein, daß etwas geschehen müsse, um ihn in seiner unhaltbar gewordenen Stellung neu zu befestigen. Dies zu erreichen, wählte er den klügsten Weg. Er bat um einen Auxiliarkommandanten, dem die Gefangenenangelegenheiten ausschließlich unterstellt werden möchten. Ein vorzüglicher Schachzug. Seinem Wunsche wurde nachgegeben, und auf einen Schlag war er den Verdacht und – die Arbeit los. Den Verdacht hatte das Gouvernement natürlich nie geteilt; aber das war ein geringer Trost. Überall im Lande stand das Volk auf dem Punkt, die Entscheidung selbst in die Hand zu nehmen. Der Einzug von »König Lynch« war jeden Augenblick möglich.

Wir erhielten infolge dieser Vorgänge und Gesuche denn auch wirklich einen Vizekommandanten, einen schönen Blaubart, den Baron de la Flotte, der in Straßburg als Chef eines Mobilgardebataillons mitkapituliert und sich, nach seiner Entlassung auf Ehrenwort, aus dem Lärm des Krieges in die westlichen Departements zurückgezogen hatte. Er war ein feiner Herr, von vornehmer Haltung, sehr artig und – sehr bestimmt. Unser »Sturm im Glase Wasser« beruhigte sich, und – die Gerüchte in der Stadt nahmen ein Ende.

Sie nahmen ein Ende in demselben Verhältnis, in dem das eigene Schuldbewußtsein der Behörden und Bewohner sich minderte und sich mindern durfte. Viele Übelstände, von denen man sehr wohl gewußt hatte, daß es Übelstände waren, sie wurden abgestellt. Man tat, was man konnte; man anerkannte gewisse Verpflichtungen und beeiferte sich, ehrlich und nachdrücklich diesen Verpflichtungen nachzukommen. Das half. Der eifrigste und tapferste dabei war der französische Arzt. Er fuhr nach La Rochelle hinüber, entwarf ein Bild der Lage und erklärte rund und nett, daß er entschlossen sei, seine Stellung sofort niederzulegen, wenn nicht die Hälfte seiner Kranken in die großen Lazarette von La Rochelle aufgenommen und die ihm verbleibende andere Hälfte mit allem Nötigen versehen würde. Drei Tage später fuhren dreißig Kranke in einem großen Seedampfer nach La Rochelle hinüber. Alle seine Forderungen waren bewilligt worden.

So endigte dieser Zwischenfall, der uns, wenigstens in den Augen unserer Inselbevölkerung, bis an die Grenzen der Meuterei geführt hatte. In Wahrheit aber hieß es selbst von den Verwegensten und Abenteuerlustigsten unter uns: »Kühn war das Wort, weil es die Tat nicht war,« und während man die Neuerklärung des Kaiserreichs von uns erwartete, beschäftigte uns vorwiegend die Frage, ob der verd . . . Kantinier nicht endlich einen besseren Wein anschaffen oder mit Rücksicht auf seine Kunden in Hellblau »a Bierche« auflegen würde.

 


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