Theodor Fontane
Kriegsgefangen
Theodor Fontane

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2. Lyon.

In aller Frühe war ich wach, machte meine Toilette und sah alsbald eine junge Frau, die Besitzerin eines nahegelegenen Cafés, erscheinen, die nach meinen Befehlen fragte. Ich bestellte möglichst viel, da ich nachgerade einzusehen begann, daß der officier supérieur sein Patent weniger aus dem Portefeuille als aus dem Portemonnaie zu beweisen habe, und daß überall rätselvoll-geheime Beziehungen zwischen den Gefängnisautoritäten und den nahegelegenen Restaurants beständen. Wer diese für sich hatte, hatte sich alsbald auch die Geneigtheit jener erworben; mit Liberalität gelangte man fast bis an die Grenzen der Libertät.

Die Freundlichkeit der jungen Frau, die all die Tage über fast immer selbst kam und an der fremdländischen Unterhaltungsweise ersichtlich einen Gefallen fand, tat mir wohl und war jederzeit wie ein Lichtschein, der in den grauen Dämmer meines Gefängnisses fiel. Ich sog mir noch einen besonderen Trost daraus, da ich offen bekennen will, die Tage meines Aufenthaltes in Lyon unter einem beständigen Herzschlagen zugebracht zu haben. Ich war durch lange Unterhaltungen, die ich in Besançon geführt, noch mehr durch die Lyoner Journale, die ich während der letzten Tage auf der Zitadelle regelmäßig zu lesen pflegte, über die Stimmung der Rhonehauptstadt vollkommen aufgeklärt und hatte mit allem Fug und Recht das bange Gefühl, mich auf einem Krater zu befinden. In Besançon hatten die Obrigkeiten geherrscht; hier herrschte bereits die Masse oder stand doch jeden Augenblick auf dem Punkt, die Herrschaft an sich zu reißen. Vor drei Tagen war das Redaktionslokal des »Salut public«, vor fünf Tagen die Wohnung des für imperialistisch geltenden Divisionsgenerals vom Volke gestürmt worden; ich konnte angesichts dieser Tatsachen die Frage nicht los werden: »Was nun, wenn diese Septembriseurs in die Gefängnisse einbrechen und furchtbare Musterung halten?« Hinterher ist über solche Anwandlungen von Furcht gut lachen, im Moment selbst aber war die Situation alles andere eher als lächerlich.

Es geschah überdies allerhand, das nicht gerade angetan war, das fehlende Gefühl der Sicherheit mir wiederzugeben. Verschiedene Leute aus der Stadt, vielleicht Freunde des Gefängnisvorstandes, kamen, um mit mir zu politisieren; sie waren fast alle artig, fast verbindlich in ihren Formen, aber ersichtlich aufgeregt und zerstreut.

Endlich sollte ich erfahren, was die Ursache war: »Bazaine hatte kapituliert«; die Nachricht drang bis in meine vergitterte Zelle. Einige Stunden später ward es mir gegenüber wieder bestritten, aber nur, weil man es bestreiten wollte. Ich war übrigens fast ebenso aufgeregt als die Franzosen, die kamen und gingen.

Die letzten Besucher hatten mich eben verlassen, und ich suchte es mir in einer Art Gartenstuhl, während ich die Füße auf den aufgeplatzten Sack mit Kalbshaar stellte, möglichst bequem zu machen, als draußen von den Türmen der unmittelbar anstoßenden Kathedrale hernieder ein Läuten begann, wie ich es all mein Lebtag nicht gehört habe, vielleicht auch nicht wieder hören werde. Eine tiefgestimmte Riesenglocke gab alle zehn Sekunden einen Schlag; eine zweite Glocke, in regelmäßigen Schwingungen, rollte klangvoll und gewaltig dazwischen; hinein aber in dies großartig ernste und zugleich melodische Konzert klang das disharmonische Geschrei und Geächz kleiner und allerkleinster Glocken, wie wenn in Posaunentöne hinein ein halbes Dutzend Pickelflöten kreischt. Es war tiefe Klage, lauter Hilferuf, leises Gewimmer; eine unbeschreibliche Angst bemächtigte sich meiner; hörbar schlug mir das Herz. Was war es? War ein Feuer ausgebrochen? Nein! Kein Lichtschein rötete den Himmel, keine Wagen und Spritzen rasselten über das Pflaster hin; nur ein lautes Geschrei von Menschenstimmen kam die Straße herauf, immer näher. Ich war ganz sicher, daß sich ein Volksaufstand vorbereitete, daß »la terreur« heranziehe und seine Herrschaft proklamiere. Was war zu tun? Ich sah stumm vor mich hin und wartete ab. So ging es eine Viertelstunde, dann war alles wie abgeschnitten; die Glocken schwiegen, das Gekreisch war draußen vorübergezogen, alles still.

In Fieberhast lief ich alle Möglichkeiten durch; endlich hatte ich es: der andere Tag (2. November) war Totentag. Dies Glockenwehklagen hatte den Tag aller Seelen eingeläutet.

Der Allerseelentag verlief ruhig; weniger Geräusch als sonst war äußerlich wahrnehmbar; nur im Gefängnis selber belebte sich's über den Alltagsverkehr hinaus. Das machte, sieben norddeutsche Schiffskapitäne waren von Marseille her als Gefangene eingetroffen und warteten in einem kleinen Bureauzimmer auf den Bescheid des Lyoner Divisionsgenerals, der über ihren weiteren Verbleib entscheiden sollte. Man schwankte zwischen Tours, Clermont und Moulins. Es war um die Mittagsstunde, als ich durch freundliche Vermittlung des gardien-chef Gelegenheit fand, meinen Landsleuten mich vorzustellen. Wir verplauderten eine angenehme halbe Stunde, gegenseitig unsere Herzen ausschüttend. Es waren sämtlich Pommern und Mecklenburger, der Mehrzahl nach große, breitschultrige Leute, aber alle von jenem sentimentalen Zug, dem man bei starken Naturen, namentlich auch bei Seeleuten, so oft begegnet. Sie hatten alle etwas Trauriges, Verschleiertes im Auge, und nur die Wahrnehmung beruhigte mich (sie waren eben beim zweiten Frühstück), daß ihr frischer, meerentstiegener Appetit unter dieser Stimmung keinen Augenblick gelitten habe. Mehrere Limburger Käse, die sie in flachen runden Schachteln, genau so wie man Feigen verschickt, mit sich führten, verschwanden im Umsehen. Einer, ein Kleiner, mit geniertem Blick, nahm an der allgemeinen Sentimentalität nicht teil; er war offenbar der Klügste und hatte sich auf mir unerklärliche Weise sogar mit neuen deutschen Zeitungen auszurüsten gewußt. Vielleicht ein kühner Griff in ein Marseiller Lesekabinett! Als die Reihe des Erzählens an mich kam und mein herkömmliches Sprüchel: »Toul, Jungfrau von Orleans, Vaucouleurs und Domremy« diesmal in deutscher Sprache von mir aufgesagt worden war, fragte der Kleine nach meinem Namen. Ich nannte ihn. Er lächelte listig-vertraulich und überreichte mir gleich darauf eine neueste, höchstens fünf oder sechs Tage alte Nummer der »Hamburger Börsenhalle«, worin ich in einer Berliner Korrespondenz die Geschichte meiner Verhaftung las. Ich kann wohl sagen, daß das einen sonderbaren Eindruck auf mich machte.

Wir politisierten auch ein wenig. Das Hauptgespräch drehte sich natürlich um die Kapitulation von Metz. Ich sagte ihnen, die Sache würde neuerdings wieder bestritten, worauf der Kleine mir zuflüsterte: »Wir wissen nur zu gut, daß es wahr ist; wir haben es sozusagen an uns selber erfahren. Die Nachricht war noch keine zwei Stunden in Marseille bekannt, als wir von Oran her landeten und durch die Stadt mußten. An diesen Marsch will ich denken. Die Aufregung war furchtbar; das Hafenvolk drohte uns, drängte sich an uns, warf mit Steinen; neben uns her aber, in dichten Kolonnen, zogen die Mobil- und Nationalgarden und trugen große schwarze Fahnen zum Zeichen der Trauer. Wir waren froh, als wir unter Dach und Fach waren.«

Einer der Kapitäne, ein großer, schöner Mann mit einem langen schwarzen Sappeurbarte, war nicht nur verheiratet, sondern hatte auch seine kleine blonde Frau, eine Rostockerin, mit auf die Fahrt genommen; eine »Hochzeitsreise nach Konstantinopel« in glücklicher Mischung des Nützlichen mit dem Angenehmen. Die Frau regierte natürlich, und zwar nicht nur ihren Mann, sondern auch die sechs anderen, was bei der besonderen Stellung, die sie einnahm, keinen Augenblick zu verwundern war. Sie sprach ein leidliches Französisch, machte deshalb den Interpreten und focht für die Gesamtheit alle Kämpfe siegreich durch. Ihr Ehegespons war ihr eigentlich nur »beigegeben«. Dies hatte seine gute Seite, aber doch auch seine schlimme. Überall, wo die sieben Kapitäne eintrafen, wurden sechs ins Militärgefängnis abgeführt; der siebente aber, der junge Gemahl, folgte seiner Frau in das beste Hotel der Stadt und bezog Zimmer mit ihr. Er war ihr Adlatus. Dies, um es zu wiederholen, hatte unzweifelhaft sein Angenehmes, aber ebensowenig ließ sich verkennen, daß der so Bevorzugte seiner Königin gegenüber einer gewissen hofstaatlichen Abhängigkeit bereits völlig verfallen war. Er wußte es übrigens selbst und trug es mit ritterlichem Anstand.

Wir trennten uns, nachdem wir einen gemeinschaftlichen Café noir eingenommen hatten, der in richtiger Rollenverteilung meinerseits aus Kaffee und Kognak, seitens der Kapitäne aus Kognak und Kaffee hergerichtet worden war.

Unter allen Gefangenen, mit denen ich durch Monate hin in Berührung gekommen bin, waren die Schiffskapitäne (diese wie andere, denen ich später begegnete) immer die behäbigsten, die am besten situierten, und dennoch flößten sie mir stets eine ganz besondere Teilnahme ein. Dies mochte darin seinen Grund haben, daß jeden einzelnen sein Schicksal völlig unvorbereitet, wie ein Blitz aus heiterem Himmel, getroffen hatte. Selbst ich, bei aller Friedfertigkeit meines Berufs, war doch immerhin mit dem Bewußtsein in Frankreich eingerückt, daß eben Krieg sei, und daß ich die Chancen und Gefahren des Krieges bis zu einem gewissen Grade zu teilen haben würde. Anders diese Kapitäne. Sie hatten in tiefem Frieden ihren heimatlichen Hafen verlassen, in tiefem Frieden Gibraltar und die Dardanellen passiert und sahen sich, ohne die geringste Kenntnis von dem, was sich inzwischen in der Welt zugetragen hatte, plötzlich unter Breitseiten genommen und fortgeführt. Man kann sagen, sie waren noch eher Kriegsgefangene, als sie vom Kriege selber wußten.

Noch am Abend des Allerseelentages teilte mir mein gardien-chef mit, daß ich am anderen Morgen weiter eskortiert werden würde, wahrscheinlich nach Moulins. Er lud mich zugleich ein, ihn auf eine halbe Stunde in seiner Wohnung zu besuchen. Ich folgte der Einladung und erfuhr die Auszeichnung, daß mir zu Ehren eine große papperne Kathedrale, die von einem Zellengefangenen angefertigt worden war, durch ein kleines Wachslicht erleuchtet wurde. Ich bewunderte alles, verbreitete mich ausführlicher über Architekturformen, Wachslichte und Isolierhaft und nahm dann Abschied von meinem freundlichen Wirt und Chef.

Ich kroch zum letzten Male unter das Plumeau und schlief wie in meinen besten Tagen.

 


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