Frederik van Eeden
Der kleine Johannes
Frederik van Eeden

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Zweimal bereits waren sie an den Besuchstagen im Krankenhaus gewesen. An einem Mittwoch und an einem Sonnabend. Aber man wollte sie nicht zu Markus lassen.

Er sei noch stets bewußtlos, und der Arzt wisse noch nicht, ob eine Operation notwendig sein würde, so lautete der Bescheid.

Und wie sehr Johannes auch bat und flehte, man möge ihn doch nur für einen flüchtigen Augenblick des Freundes Gesicht sehen lassen, damit er die Sicherheit gewänne, daß er noch am Leben sei – es nützte alles nichts. Daß er Dr. Ziffer und Professor Bommeldoos kannte, machte hier nicht den geringsten Eindruck. Man war nicht zu dem allerleisesten Entgegenkommen geneigt. Die feindliche Gesinnung gegen seinen Bruder war allgemein und drang sogar bis in die humane und wissenschaftliche Sphäre des Siechenhauses, so daß man auch Johannes kühler behandelte, weil er mit dem Manne verwandt zu sein schien. Denn sogar Ärzte und Krankenpflegerinnen mögen nicht in den Verdacht geraten, daß sie anders empfinden als die große Menge.

Johannes und Marions Erregung und Traurigkeit waren so groß, daß jeder sich um den andern sorgte, ob er nicht krank werden würde; so wenig aßen sie, und so schlecht sahen sie aus, und so hohl wurden ihre Wangen, die doch niemals allzu frisch und blühend gewesen.

Dann endlich durften sie das dritte Mal mit dem Strom der Besucher eintreten, an einem Mittwoch nachmittag zwischen zwei und vier Uhr. Marion mit ein paar weißen und violettfarbigen Astern, Johannes mit einer Weintraube, die er für sein mühsam Pfennig um Pfennig zusammengespartes Geld erstanden hatte.

Angstvoll überschauten sie beim Eintreten den Saal mit den zwei langen Bettreihen. Sie suchten nach dem bekannten Antlitz, allein sie fanden es nicht. Schüchtern wandten sie sich an die Pflegerin, die schreibend mitten im Saal an einem kleinen Tischchen saß, auf dem allerhand Verbandszeug umher lag. Ohne zu antworten, zeigte sie auf ein Bett. Da erst sahen sie die dunklen Augen und das freundliche Lächeln auf sich gerichtet.

Sie hatten ihn nicht erkannt, weil sein Haar ganz kurz abgeschnitten und sein Kopf verbunden, und sein Gesicht mit Pflastern bedeckt war.

Er winkte ihnen mit seiner mageren weißen Hand und streckte sie ihnen entgegen.

Sie eilten auf ihn zu.

Zwei junge Männer standen an seinem Bett, Studenten. Der eine, der Markus soeben untersucht zu haben schien, sah plump und derb aus und hatte ein aufgedunsenes Gesicht. Die Schweißtropfen perlten ihm auf der Stirn. Der andere stand, die Hände in den Taschen, gleichgültig daneben.

»Hast du es schon raus?« fragte der letztere.

»Gott bewahre, nein,« antwortete der andere, während er sich mit seinem Ärmel über die Stirn fuhr. »Es ist ein verflucht komplizierter Fall. Ein Schädelbruch ist zweifellos vorhanden, aber das mit der Paralyse begreife ich nicht im geringsten. Ein ekelhafter Streich von Snyman, daß er mir gerade so was aussucht, natürlich nur um mich reinzulegen. Du sollst es sehen, ich falle mit Pauken und Trompeten durch.«

»Ach was, Mensch, du bist wohl verrückt. Dies ist ja gerade ein schöner Fall. Damit läßt sich renommieren. Komm' du nur heute Abend zu mir, dann wollen wir die Gehirnanatomie noch mal zusammen durchnehmen. Bring' dein großes Werk mit. Ich werde dir's so einpauken, daß sie alle perplex sind. Aber jetzt mußt du mit, denn da ist Besuch.«

Und dabei nahm er seinen Kommilitonen, der seufzend seine Instrumente einpackte, unter den Arm und verließ mit ihm den Saal.

»Na, Kinder, was sagt ihr dazu, wie sie mich zugerichtet haben?« sagte Markus heiter, während er Marions Blumen in die linke Hand nahm, weil er die rechte nicht bewegen konnte.

Aber weder Marion noch Johannes vermochten zu sprechen. Sie standen da und schluckten, und um ihre Lippen zuckte es. Da setzten sie sich jeder an eine Seite des Bettes, und Marion legte ihre Stirn auf seine bleiche kraftlose Hand.

Johannes streckte ihm die Trauben hin und versuchte einen Gruß zu sprechen, allein er konnte es nicht.

»Kinder«, sagte Markus, sanft und strenge zugleich. »Ich sehe euch viel zu viel weinen. Weißt du noch Johannes, wie du damals auf der Straße neben dem Schleifwagen niedersaßest, und wie ich es dir verbot. Wenn man gar so rasch weint, dann will es fast so scheinen, als ob man das große Leid der Menschheit nicht empfände. Wer das einmal empfunden hat, weint nicht mehr um eigenen Kummer, denn dann würde er sich wohl um des großen Leides willen Tag und Nacht in Tränen baden müssen.«

Bei diesen Worten ermannten sich die beiden, und Marion sagte:

»Aber dies ist doch keine Kleinigkeit, was man dir angetan hat.«

»Daß die Welt so ist, daß dies geschehen mußte, das ist keine Kleinigkeit. Das ist entsetzlich. Aber es ist und bleibt ebenso entsetzlich, ob dies mich nun betroffen hat, oder nicht. Und daß ich es getan und ertragen habe, das ist ein Grund zur Freude und nicht zum Weinen.«

Und darauf Johannes: »Aber lieber Markus, was hat es genützt und was wird es nützen? Niemand empfindet Reue darüber, niemand wird jemals einsehen, was dies alles zu bedeuten hatte. Niemand denkt in diesem Augenblick mehr an dich, noch an deine Worte.«

Und während Markus seinen Blick mit innigem Ausdruck auf ihn heftete, gleichsam um ihn zu tieferem Nachdenken zu ermahnen, sagte er:

»Aber Johannes, entsinnst du dich denn nicht mehr der Geschichte jener kleinen Saat, der nichtigsten unter allen Saaten? Sie fällt zu Boden, sie wird zertreten, niemand achtet ihrer, sie scheint in der schmutzigen Erde gänzlich verloren und vernichtet zu sein. Allein, wenn ihre Zeit gekommen, beginnt sie zu keimen und wird zur Pflanze, und die Pflanze trägt neue Saaten, die der Wind mit sich führt. Und aus den neuen Saaten entstehen neue Pflanzen, und die ganze Erde wird zu klein für die gewaltige Macht dessen, was aus jener winzig kleinen Saat hervorgegangen. Hat Johannes mich und meine Worte vergessen?«

Johannes schüttelte den Kopf:

»Nun wohl, Johannes und Marion sind doch nicht die einzigen Menschen mit Ohren um zu hören. Das Fünkchen ist gefallen und im Verborgnen glimmt es weiter; die kleine Saat liegt in der dunklen Erde und harret ihrer Zeit.«

Allmählich begann der Saal sich zu füllen. An jedem Bett saßen jetzt Anverwandte, Frauen und Mütter mit kleinen und großen Kindern, einzelne auch mit Säuglingen an der Brust. Und ein dumpfes Murmeln erfüllte den Saal, in dem sich der Gestank von alten und lange getragenen Kleidern mit dem scharfen Geruch der Desinfizierstoffe vermengte.

»Bleibt bei mir, ihr Kinder,« sagte Markus, »solange es euch vergönnt ist. Das Instrument ist geborsten und wird binnen kurzem keinen Ton mehr hören lassen. So lauscht denn, solange es klingt.«

»Wirst du uns verlassen, Markus?« fragte Johannes, die Zähne fest zusammenbeißend, um tapfer zu bleiben.

»Ich habe meine Aufgabe erfüllt«, sagte Markus.

»Jetzt schon? jetzt schon?« fragten die beiden fast gleichzeitig. »Aber wir können dich nicht missen, wohl für eine Weile, aber nicht für immer.«

»Wo ist dein Gedächtnis, Johannes? Du hast mich für immer. Und einstmals noch viel näher als jetzt.«

»Aber Markus, wie kann ich denn ohne dich den Menschen in ihrem Kummer beistehen? Weiß ich doch den Weg noch lange nicht. Mir ist es, als ob ich wochenlang, Tag und Nacht würde fragen müssen.«

»Lieber Johannes, ich habe genug gesagt. Tag und Nacht fragen würde dir nicht mehr nützen, als Tag und Nacht nachdenken über alles das was ich dir gesagt habe. Es scheint so, als hätte ich wenig gesprochen und unter den Menschen wenig ausgerichtet, nicht wahr? Aber bedenke wohl, daß dasselbe seit uralten Zeiten gesagt wurde und daß es niemals klarer geworden ist durch viel Worte, sondern stets nur dunkler. Wo die einfachen Gebote nicht schwer genug gewogen haben, da haben auch schwülstige Reden zu nichts geführt. Ist das Beste nicht schon vor zweitausend Jahren gesagt worden? Und Millionen haben einander bekämpft und gefoltert, wegen der Erläuterungen und Verdrehungen und Erklärungen. Und das einfache Gebot, das sie alle kannten, das haben sie nicht befolgt. Um die Kleidchen haben sie sich gerissen und das Kindlein haben sie bei den Hunden und den Säuen gelassen.«

Sie blieben den ganzen Tag, denn man hatte ihnen erlaubt, ihren Besuch auszudehnen; und Johannes erzählte, wo er in jener Nacht gewesen, die dem Hochzeitstage folgte.

Und Marion, die dies mit angehört hatte, fragte: »Markus, wenn er wirklich die Welt gesehen, die kommen wird, warum sah er denn nichts von Markus?«

Aber Markus schloß die Augen, gleichsam vom Zuhören ermüdet, und legte friedlich lächelnd den Kopf zurück, während er leise die Worte sprach: »Einem guten Baumeister liegt nicht sein eigener Name, sondern das schöne Werk am Herzen.«

Darauf gab er ihnen durch einen Wink zu verstehen, daß er ruhen wolle, und nachdem sie heimlich einen Blick ausgetauscht, standen sie langsam auf und gingen fort, langsamen Schrittes und in schweigendem Grübeln.

Als sie am Sonnabend wiederkamen, richteten sie sofort ihren Blick auf sein Bett, nun wissend, wo er lag. Und ein eisiger Schrecken durchfuhr ihre Glieder, als sie unter dem weißen Verband sein Gesicht sahen, wachsgelb, mit den geschlossenen, eingesunkenen Augen. Sie glaubten, daß er tot sei.

Aber als sie zaghaft und zitternd näher traten, winkte ihnen der Patient, der auf der Pritsche neben Markus lag, daß sie nur kommen sollten.

»Kommt ihr nur«, sagte der Mann, ein alter verkommener Kerl mit einem Verband um den kahlen Kopf, einer halb weggezehrten Nase und einem struppigen Bart, der gelblich-braun war vom Tabakkauen.

»Er ist noch nicht kalt, aber er schläft fortwährend fest wie ein neugeborenes Kind. Nicht wahr, Isaak?«

Und Isaak, der Kranke, der an der andern Seite neben ihm lag, ein Trunkenbold mit einem gebrochenen Bein und dem Gesicht voll roter Pickeln, rief aus: »Na und ob, ich kann's nach zwei Maß nicht besser.«

»Wartet nur einen Augenblick«, sagte der Alte. »Macht 's euch bequem. Es würde mir leid tun, wenn ihr wieder wegginget.«

»Ein bißchen ruhig da, Numero acht!« rief die Wärterin, »leise sprechen!«

»Ist's euer Bruder?« fragte Isaak, jetzt flüsternd.

Johannes nickte.

»Sie haben ihn verdammt zugerichtet«, sagte der Alte. »Genau so wie mich. Aber ich glaube doch, daß sie bei mir mehr an den Rechten gekommen sind.«

»Viel wünsche ich mir nicht mehr,« sagte Isaak. »Aber wenn wir beide hier jetzt doch für immer in der Kost liegen müssen, er und ich, dann möcht' ich wohl zu unserm lieben Gott beten, daß er ihn nicht vor mir krepieren läßt. Denn wenn ich hier allein bleiben muß mit der alten Faulnase und meinem eigenen sündigen, auf ewig verdammten Wanst, dann ... hi! hi! hi!«

Und dann kam ein plötzlicher laut schluchzender Ausbruch der Trunkenboldsreue, der durch die ihm auferlegte Totalabstinenz hervorgerufen wurde.

»Ruhe!« rief die Schwester streng.

Markus erwachte und grüßte seine beiden Teuren. Darauf blickte er auf seinen Nachbar zur Linken und sagte:

»Warst du schon wieder am Flennen, Isaak? Ich habe dich wohl gehört. Niemand ist für allzeit verdammt, du nicht und der alte Bram auch nicht. Wenn du nur sorgst, daß du künftighin nur Wasser heulst und keinen Schnaps.«

»Das schwör' ich dir, Markus; bei Gott und Vater,« sagte Isaak, während er sich auf die Brust schlug.

»Das kannst du nicht, und das hilft auch nichts. Nach einem halben Glas Bier hast du all deine Schwüre vergessen.«

»Auch kein Bier«, sagte Isaak, »bei Gott und ...«

»Sei jetzt nur still, Isaak, nicht sprechen, sondern handeln«

»Marrekus«, sagte der alte Bram mit heiserer, zitternder Stimme, während er sich mühsam aufrichtete und mit der knochigen Hand in die Wolldecke griff, »sprich jetzt mal frisch von der Leber weg – kann es das wohl geben, daß ein altes Luder wie ich nicht für ewig verdammt sein sollte? Die Pastoren haß' ich wie die Pest, aber ich bin doch als Christenmensch großgezogen, und weil ich hier jetzt keinen hinter die Binde gießen kann, schwitze ich jede Nacht in meinem Bett und schüttle mich wie ein Rammgerüst. Denn wenn ich nicht hinein soll, dann können sie sich mit ihrer ganzen glühenden Verdammnis fortscheren, oder die Engelshemdchen davor trocknen, oder Kuchen drin backen ...«

»Na, Alter, jetzt hör' du mich mal gut an«, sagte Markus freundlich. »Ich werde ganz nach meinem Herzen sprechen, wirst du mir dann auch glauben?«

»Das werde ich, Markus«, fügte der Alte ernsthaft, während er eine seiner dürren Klauen emporstreckte.

»Wenn ich droben vor dem Vater stehe, und er will mich in den Himmel einlassen, dann werde ich sagen: ich will nicht hinein, bevor der alte Bram auch aus der Hölle erlöst ist, und wenn er auch zu allerletzt an die Reihe kommen sollte.«

Der Alte blickte Markus eine Weile zweifelnd in die ernsten Augen, dann verzog er sein Gesicht zu einem wunderlichen Grinsen und ließ sich mit einem Ruck hintenüber auf sein Kissen fallen. So blieb er liegen, während er starr auf die Decke blickte, grinsend, murmelnd und kopfschüttelnd.

Johannes hörte ihn flüstern: »Gott soll mich – Jesus Christus! – Jesus Maria! – Gott soll mich ewig!« – und so fort.

Marion fragte leise und nicht ohne Verstimmung:

»Aber Marius, ist der das nun wirklich wert? Der Kerl ist ja schon halb stumpfsinnig.«

Markus antwortete: »Und Keesje? Hast du denn um den keine Tränen geweint? Hier aber ist mehr.«

Das brachte die zwei zu grübelndem Schweigen. Endlich seufzte Johannes tief auf und sagte: »O wie viele Rätsel gibt es doch! Das goldene Schlüsselein scheint mir jetzt viel ferner als einst.«

»Doch bist du ihm näher gekommen«, sagte Markus, »weil du Mich erwählt hast und das Leben, statt Windekind und den Tod.

»Die Lilie der ewigen Weisheit ist eine zarte Blume, die langsam und aus sich selber wachsen muß.

»Vater hat uns alle ausgeschickt, um sie zu suchen, aber niemand vermag sie allein zu finden.

»Die ewige Weisheit ist wie eine schüchterne Frau. Wer ihr zu ungestüm nachjagt, dem entflieht sie. Wer sich abwendet und erst der Liebe folgt, den wird sie heimlich suchen.«

Nachdem Markus diese Worte gesprochen, sagte Marion kurz:

»Johannes und ich werden Mann und Frau.«

Markus nickte, ohne Verwunderung.

»Willst du uns trauen, Markus?« fragte Johannes.

»Kann ich Treue geben, Johannes, wo die nicht ist?« fragte Markus.

»So meine ich das nicht«, sagte Johannes verlegen. »Aber ich will versprechen, ihr treu zu bleiben, in deinem Beisein.«

»Überlege deine Worte wohl, Johannes. Ein Versprechen ist wie eine Prophezeiung. Aber wer vermöchte wohl ohne vollkommene Kenntnis zu prophezeien? Er dort neben mir versprach nicht mehr zu trinken. Es war ihm ernst. Aber was ist sein Versprechen wert ohne die Kenntnis? Und hast du von deiner dauerhaften Treue Kenntnis? So sage denn: »ich will treu sein« und sei es. Aber versprich nicht, denn wer ein eitles Versprechen gibt, ist schuldig und wer ein lügenhaftes Versprechen hält, ist schuldiger als der, welcher es bricht.«

Darauf sagte Marion zu Johannes: »Ich will von dir keine Versprechungen, aber ich will deine Treue. Wenn deine Treue nicht ohne Versprechungen stand hält, dann will ich sie nicht. Kannst du jemanden lieben, nur weil du es versprochen hast? An solcher Liebe ist mir nichts gelegen.«

»So will ich doch sagen, daß ich Treue fühle, so tief, wie ich mich selber kenne«, sagte Johannes, »und ich will dennoch versprechen, daß ich alles tun werde, was in meiner Macht liegt, um treu zu bleiben.«

»Das ist schon bedachtsamer gesprochen«, sagte Markus.

»Aber wovon unser kleiner Haushalt bestehen soll, das sehe ich noch nicht«, sagte Marion. »Er Piccolo und ich Dienstmädchen, aber das bringt nicht viel ein. Ich denke, daß wir schließlich noch in einem Tingeltangel landen werden.«

»Mir ist es gleich, wo wir landen, wenn ich nur weiß, daß ich etwas zu dem guten Leben beitrage, zu dem Glück all dieser schönen und teuren Menschen, die ich habe leben sehen. Und dazu bietet sich mir doch wenig Aussicht als Piccolo oder in einem Tingeltangel.«

»Kinder«, sagte Markus. »Aus dem Wort wächst die Tat, und aus der Tat das Leben. Und ein jeder, der das Wort spricht, läßt die Tat entstehen und das Leben erblühen!«

»Gut«, sagte Johannes, »wir werden das Wort sprechen zu allen denen, die Ohren haben, so lange wir leben, und wo immer wir uns auch aufhalten mögen. Aber ich habe doch nicht nur einen Mund, sondern auch Hände, die etwas tun wollen.«

»Die Hände werden stets etwas zu tun finden, und immer mehr und mehr, denn Wort und Tat sind wie der Wald und der Regen. Der Wald zieht den Regen an, und der Regen bringt Wachstum dem Walde.«

»Aber wie? wie denn?« rief Johannes aus. »Ich sehe noch nicht den rechten Weg für meine Taten.«

»Entsinnst du dich, was ich dir von den Feldarbeitern erzählte? Darin liegt der ganze Weg vorgezeichnet. Und dies sage ich dir Johannes: Unüberwindlich macht die gleichmäßige Liebe, das feste Gedächtnis und die Geduld. Einem, der zu dem Vater gelangen will und der dessen eingedenk ist und stets denselben Willen besitzt, solch Einem, und möge er auch noch so schwach sein, zeigt Gott allzeit die Wege trotz aller Wirrsal und allen Widerstandes. Er ist wie einer, der allgemach und unablässig in die gleiche Richtung weiter drängt, durch Scharen, die nicht wissen, wohin. Er wird Fortschritt zeitigen, da, wo die andern zurückbleiben. Und bedenket, Kinder! das Höchste und Herrlichste, was ihr euch wünschen könnt, das ist immer noch armselig und traurig im Vergleich zu dem, was ihr durch ruhige und standhaft wollende Liebe erreichen könnt.«

Die Vier-Uhr-Glocke, die den Besuchern kund getan, daß es zum Gehen Zeit sei, war längst verklungen, und der Saal beinahe leer. Die Oberwärterin klatschte leise in die Hände, um Johannes und Marion zu bedeuten, daß sie fort müßten. Widerwillig erhoben sie sich.

Da wurde die Türe geöffnet und Professor Snyman trat ein, von zwei Assistenten gefolgt. Professor Snyman war ein großer Mann mit bartlosem Gesicht und braunem lockigem Haar. Er hatte einen herausfordernden harten Blick, über dem nur zum Schein etwas wie vornehme Liebenswürdigkeit gebreitet lag. Mit kleinen Schritten ging er auf Markus' Bett zu, gefolgt von zwei Männern mit blonden Spitzbärten, seinen Assistenten, die blitzsaubere weiße Leinenkittel trugen.

»So! so! noch Besuch?« sagte der Professor. »Geht's so ziemlich? Ja, wir machen nur langsame Fortschritte, nicht wahr?«

Dabei musterte er Markus mit dem kühlen berechnenden Blick eines Gärtners, der im Stillen überlegt, ob er den Baum ausgraben oder stehen lassen soll. Da nahm er Markus' halbgelähmte Hand in die seine, umfaßte sie und dachte nach.

»Mir scheint, meine Herren, wir sollten doch ruhig mal versuchen, was das Messer hier vermag, meinen Sie nicht auch? – Es ist ja doch ein casus perditus. – Und wer weiß? ... Entfernung des Knochensplitters ... Aufhebung des Druckes auf das motorische Zentrum ... wir werden vielleicht ein glänzendes Resultat erzielen, sind Sie nicht auch meiner Ansicht?«

Die Assistenten nickten einander und dann dem Professor flüsternd zu.

Markus sagte:

»Herr Professor, möchten Sie mich nicht lieber in Ruhe lassen. Ich habe mich vollständig mit meinem Zustand abgefunden. Ich weiß doch, daß es verlorene Mühe ist, und ich lasse mich nicht gern betäuben.«

»Ach was, ach was!« sagte der Professor, in halb befehlendem, halb erkünstelt freundlichem Ton. »Nicht so mutlos, nicht so schwarzseherisch! Wir wollen mal sehen, ob Sie die Hand nicht doch wieder gebrauchen können. Sie brauchen sich nicht zu fürchten; alles schmerzlos. Möchten Sie das denn nicht, daß Sie sich wieder selbst Ihren Kittel anziehen und Ihr Fleisch schneiden und Ihre Pfeife stopfen könnten? Nur Mut! nur Mut! – Schwester, morgen um zehn Uhr im Operationssaal.«

Und dann zu Marion und Johannes gewandt:

»Vorwärts! vorwärts! es ist schon nach Vier. Ihr müßt schleunigst fort.«

Markus streckte seine Hand aus, die sie beide küßten, und sagte:

»Auf Wiedersehen, ihr Kinder.«


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