Frederik van Eeden
Der kleine Johannes
Frederik van Eeden

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»Wollen wir an den Strand gehen heute Morgen?« fragte Gräfin Dolores beim Frühstück, »es wird dort gewiß kühl und erfrischend sein.«

Es wurde ein lustiger Morgenausflug. Die beiden Mädchen gingen mit, und Johannes trug einen Klappstuhl und das Buch seiner Freundin. Dann setzte sie sich in einen Strandstuhl, und Johannes ließ sich zu ihren Füßen nieder und las ihr vor, während die beiden Mädchen mit ihren Eimern und Schippen mit Sand und Wasser spielten, die Kleidchen hochgeschürzt und die Beine und Füßchen nackt, weiß und rosenfarbig schimmernd im strahlenden Licht.

Rings umher war alles Licht und Sonnenschein, und alles zeigte feine helle Farben, das aufgebundene Haar der Kinderköpfchen gegen den zartblauen Horizont, ihre großen weißen Strandhüte und das Meer ein etwas tieferes Blau und darin die bunten Gestalten der Badenden in ihren roten und blauen Schwimmanzügen, und links und rechts der reine weiße Sand und der schneeige Schaum.

Er hatte sich an das, was ihn anfangs so sehr gestört: die Entweihung des Meeres durch die Menschen, – allmählich gewöhnt, und es waren jetzt glückliche Stunden für ihn. Er hatte die Absicht, sich an diesem Morgen wieder nach Markus zu erkundigen, sobald er dazu auch nur die Möglichkeit sähe.

Aber sie hatten noch nicht allzulange am Strand gesessen, als van Lieverlee dahergeschlendert kam; er war in weißen Flanell gekleidet, trug keine Weste, dafür aber einen breiten schwarzseidenen Gürtel, ein violettes Oberhemd und einen Strohhut.

Er grüßte die Gräfin schwungvoll und vertraulich und wandte sich darauf an Johannes, jetzt ohne den geringsten Spott:

»Ich habe mich heute Morgen schon bei meinem Onkel erkundigen lassen. Aber dein Freund ist nicht mehr da. Er hat gerade am vorigen Sonnabend den Laufpaß bekommen, wegen seines rebellischen Auftretens.«

»Was hat er getan?« fragte Johannes.

»Er hat in der Börse eine Ansprache gehalten, während er dort notabene einen geschäftlichen Auftrag auszuführen hatte. Nun..« sagte van Lieverlee, während er die Gräfin lächelnd anblickte, »und daß ein Geschäftsmann solche Angestellten nicht in seinen Diensten behalten kann, ist wohl ziemlich klar, und noch dazu mein Onkel van Trigt, der sich vor jedem kleinsten Skandal fürchtet.«

»Ich verstehe das ganz gut,« sagte Dolores, »es hängt aber doch ein wenig davon ab, was er gesagt hat.«

»Nein, in der Börse spricht man über Geschäfte, nicht über Verstand oder Moral. Alles zur rechten Zeit und am rechten Ort. Mein Onkel war im übrigen ganz zufrieden mit ihm. Er hätte ihn zu solchen Dingen für viel zu anständig gehalten, sagte er mir. Aber der Mann hat eine ganz besondere Neigung, auf öffentlichen Plätzen Ansprachen zu halten.«

»Und wo ist er jetzt?«

»Wo ist ein Arbeitsloser, der soeben den Laufpaß bekommen hat? Doch wohl unterwegs, um eine neue Stellung zu suchen, sollte ich meinen.«

»Ist dein Freund so arm?« fragte Gräfin Dolores mit geheimnisvollem Flüstern, so wie man über die Schande eines Blutsverwandten zu sprechen pflegt.

»Natürlich,« antwortete Johannes mit herausfordernder Miene. »Und er würde sich schämen, wenn er nicht arm wäre.«

»Diese Art Menschen kann ich nicht ausstehen,« sagte van Lieverlee. »Man sieht ihnen, um mit Sokrates zu sprechen, die Eitelkeit durch die Löcher ihrer Kleider an. Bevor sie auch nur den Mund geöffnet haben, scheinen sie einen jeden schon zu tadeln und zu maßregeln. Ich hasse diese Sorte. Es sind die ekelhaftesten und gefährlichsten Menschen.«

Johannes hatte van Lieverlee noch nie so zornig gesehen. Er aber blieb ganz gelassen und ärgerte sich nicht im mindesten.

Die Gräfin sagte gedehnt:

»Auf jeden Fall ist es sehr übertrieben. Ich kann auch nicht behaupten, daß ich diesen Typus besonders goutiere.«

Johannes schwieg, während die beiden anderen eine Weile miteinander plauderten.

Die Kinder kamen herbei und legten sich in den Sand, das Gespräch belauschend. Es war ein heller, freundlicher Kreis, denn alle waren weiß gekleidet – mit Ausnahme von Johannes.

Endlich verabschiedete sich van Lieverlee, und Dolores hielt seine Hand in der ihren, während sie ihn mit vielsagender Freundlichkeit fragte:

»Sie kommen doch zum Diner heute?«

»Ganz sicher,« erwiderte van Lieverlee.

Nachdem er gegangen, herrschte während einiger Augenblicke eine gezwungene Stille. Eine gewisse Spannung, die sich so deutlich bemerkbar machte, daß sich sogar die Kinder, ihrer sonstigen Gewohnheit entgegen, schweigend verhielten, und, still im Sande spielend, auf ein Etwas warteten, das gesagt werden müsse.

Johannes begann allmählich auch zu begreifen, daß irgend etwas im Werke war. Aber er hatte nicht die geringste Vermutung, was es wohl sein könne.

Endlich sagte die Gräfin, ein wenig zögernd, während sie mit ihrem spitzengarnierten Sonnenschirm allerlei Figuren in den Sand zeichnete:

»Hast du noch nichts gemerkt, Johannes?«

»Gemerkt? Nein, Frau Gräfin,« antwortete Johannes, ein wenig verlegen. Er hatte in der Tat noch nichts gemerkt.

»Ich wohl,« sagte Olga resolut, ohne aufzublicken.

»Und ich auch,« lispelte Frieda ihr nach.

»Man höre doch bloß mal solch naseweise Dinger an,« sagte die Gräfin, während sie verlegen lächelte und errötete.

»Nun, und was habt ihr denn gemerkt?«

»Einen neuen Papa,« sagte Frieda.

Johannes blickte seiner Freundin erstaunt und verständnislos in die schönen lächelnden Augen und das feine errötende Gesicht.

Ihr Lachen war Zustimmung, und mit fragendem Kopfschütteln fuhr sie fort:

»Hast du es wirklich noch nicht erraten?«

»Nein,« antwortete Johannes allen Ernstes. »Wer ist denn der neue Papa?«

»Dort geht er,« sagte Olga, während sie mit ihrem kleinen Finger auf van Lieverlees weiße Gestalt wies; und auch Frieda streckte ihre Händchen in dieselbe Richtung.

»Pfui, Kinder, nicht mit Fingern zeigen!« sagte die Gräfin vorwurfsvoll.

Jetzt begann Johannes zu begreifen, genau so wie jemand, der aus dem Fenster gefallen ist oder einen Stein auf den Kopf bekommen hat, langsam wieder zu denken und zu begreifen anfängt. Und seine erste Verwunderung galt, wie stets in solchem Fall, einzig und allein der Betrachtung, aus welchem Grunde er wohl solch eine entsetzliche Erschütterung verspüre, und wie es nur möglich sei, daß er noch am Leben war.

Der blaue Himmel, das Meer, der Sand, die leuchtende Dünenkette, die Häuser, die weißen Gestalten, alles tanzte und wirbelte durcheinander und wurde endlich gänzlich schwarz. Er vermochte zu guterletzt nicht mehr zu denken, und begriff nur noch das Eine, daß er sich sehr wenig wohlfühle und schleunigst fortgehen müsse.

Während er aufstand, hörte er noch die Worte: »Wie blaß du wirst!« Das war das Letzte. Dann eilte er davon, am Strande entlang, und hörte nichts mehr als Rauschen, Rauschen, Rauschen: das Rauschen des Wassers und das Rauschen des Blutes in seinen Ohren.

Er ging unsicher und schwankenden Schrittes, gleich als habe er zu viel getrunken, und fragte sich verwundert, woher das wohl kommen möge.

Endlich sah er keine Menschen mehr um sich her und keine Häuser, sondern nur noch Wasser, Sand und Himmel.

Das schien seine Absicht gewesen zu sein, denn matt und kraftlos streckte er sich in den weichen Sand und schlief ein.


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