Frederik van Eeden
Der kleine Johannes
Frederik van Eeden

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Seht, das kommt nun davon, wenn man das nicht tut, um was ich so ausdrücklich gebeten hatte. Herr van Lieverlee wußte recht wohl, daß ich den kleinen Johannes darüber nicht angesprochen wissen wollte, und nun geschah es dennoch und hatte, wie ihr hören werdet, die bedenklichsten Folgen.

Herr van Lieverlee war nur um etwa sechs Jahre älter als Johannes. Er hatte große blaue Augen, ein weißes, zartes Gesicht, ein kleines blondes Spitzbärtchen und dickes gelblich blondes Haar, das kunstvoll in die Stirne gekämmt war. Eine Busennadel mit funkelnden blauen Saphiren blitzte auf seiner breiten dunkelvioletten Krawatte, ein hoher schneeweißer Kragen reichte bis über sein Nackenhaar, und seine beringten Hände ruhten auf dem schön geschnitzten Elfenbeinknopf eines Spazierstockes aus kostbarem Ebenholz. Vor ihm auf dem Tisch lag ein feiner hellgrauer Filzhut, und sein Beinkleid war von derselben Farbe.

Nachdem Johannes sein Bekenntnis abgelegt, schwiegen sie alle während einiger Augenblicke. Dann holte Herr van Lieverlee ein elegantes Taschenbuch zum Vorschein, auf dem ein zierliches Monogramm aus kleinen Diamanten prangte, machte ein paar Notizen und sagte zu der Dame:

»Wir dürfen wohl mit Bestimmtheit behaupten, daß dies kein Zufall ist. Sein Karma ist allem Anschein nach sehr günstig. Daß er gerade hierher kommt, zu uns, die wir seine Geschichte kennen und seine Seele begreifen, ist das Werk der erstklassigen Intelligenzen, die ihn leiten. Wir müssen den Wink verstehen.«

»Der Fall ist sicherlich interessant genug, um darüber nachzudenken«, sagte die Dame zögernd, »wo wohnt Ihr?«

»Dort drüben, über das Bahngeleise weg, im Volkslogis«, sagte Marion rasch.

Die Dame schaute ein wenig streng vor sich hin und sagte dann: »So, so, geht dann jetzt nur nach Hause! Hier habt ihr jeder drei Mark. Und willst du dann das Liedchen mal für mich aufschreiben, Johannes? es spricht wirklich eine reizende Wehmut daraus, sehr sympathisch.«

»Ja, gnädige Frau, das werde ich tun. Und darf ich es Ihnen dann selbst bringen?«

»Gewiß, gewiß«, sagte die Dame, während sie gleichzeitig seine Kleidung scharf prüfend durch die langstielige Lorgnette betrachtete.

Als sie gegangen und außer Sehweite waren, lief Marion sofort nach dem hintern Eingang des Hotels zurück und begann sich mit dem dort beschäftigten Personal zu unterhalten, so lange, bis sie jemanden fand, der über die vornehme Dame und die beiden hübschen Mädchen etwas Genaueres zu berichten wußte.

»Meinst du die Gräfin?« fragte ein hochmütiger Oberkellner höhnisch. »Gehörst du etwa auch zur Familie?«

»Nun, und warum denn nicht?« sagte Marion sehr selbstbewußt, »es sind schon mehr als einmal Gräfinnen mit Oberkellnern durchgebrannt.«

Der Koch und die Zimmermädchen lachten.

»Scher' dich fort«, sagte der Kellner.

»Was für Landsleute sind es denn?« fragte Marion weiter.

»Die haben kein Vaterland. Der Graf war ein Pole, und sie ist aus Amerika. Jetzt wohnt sie in Holland.«

»Witwe oder geschieden?« fragte eines der Zimmermädchen.

»Geschieden natürlich, das ist viel vornehmer.«

»Und der junge Holländer? ist der mit ihr verwandt?«

»Ach was, das ist ein Reisefreund, den hat sie hier kennen gelernt.« –

»Wollen wir jetzt nur weiterziehen, Hanni?« fragte Marion, während sie zu ihrer Abendmahlzeit Graubrot und Käse verspeisten, in derselben muffigen, rauchigen Stube, in der auch der Herkules mit seinem Töchterchen saß; sie trugen jetzt beide ärmliche bürgerliche Kleidung, und hatten jeder ein Glas Bier vor sich stehen.

»Ich sollte ja mein Liedchen noch hinbringen«, sagte Johannes.

»Schick' ihnen das nur lieber, ich habe mit solchem Volk nichts im Sinn.«

Johannes verzehrte schweigend sein Abendbrot. Sein Gefühl für Marion war indessen durchaus nicht herzlicher geworden, und seine Meinung über sie sank bedenklich. Sie war entweder eifersüchtig oder für das Schöne und Edle bei den Menschen durchaus nicht empfänglich. Sie hatte auch schon gar so lange unter schmutzigem und rohem Volk gelebt. O, die beiden lieben Mädchen, das waren edlere und feinere Geschöpfe! Und leise und innig wiederholte Johannes ihre Namen: »Olga!« »Frieda!«

Da kam wahrhaftig ein galonierter kleiner Bursche aus dem Hotel und brachte einen Brief, der so stark duftete, daß das muffige Zimmer im Nu ganz von dem Duft erfüllt war, und die Biertrinker verwundert zu schnüffeln begannen. Er war von Herrn van Lieverlee, der Johannes ersuchte, zu ihm zu kommen – aber ohne den Affen.

»Geh' du nur«, sagte Marion. »Kees darf nicht mit, weil er ein anderes Parfüm an sich hat. Und sage ihnen, daß ich das von Kees vorziehe.« –

Herr van Lieverlee trank gerade starken schwarzen Kaffee aus einer kleinen silbernen Tasse und rauchte dazu eine türkische Pfeife mit Bernsteinmundstück. Das Wasser gurgelte bei jedem Zuge. Er trug schwarze Seidenstrümpfe und Lackschuhe und ließ Johannes neben sich auf dem breiten Diwan Platz nehmen. Dann hielt er ihm, nachdem er eine Weile geschwiegen, die folgende Ansprache:

»So, Johannes, setz' dich jetzt mal ruhig hierher und versuche dich – solange wir nicht miteinander reden – in der obersten Seelensphäre zu halten.«

Danach hielt Herr van Lieverlee seine gurgelnde Pfeife eine Zeitlang schweigend in der Hand. »Bist du jetzt da?«

Johannes war seiner Sache zwar nicht ganz sicher, nickte aber dennoch bejahend, weil er viel zu gerne wissen wollte, was jetzt wohl kommen würde.

»Dich kann ich das fragen, Johannes, weil wir beide uns sofort verstehen. – Du und ich ... weißt du ..., du und ich, wir kannten einander schon, bevor wir in unserem jetzigen Körper steckten. Nun brauchen wir nicht erst Bekanntschaft zu machen wie gewöhnliche banale Menschen. Wir können gleich so tun wie Windekind und du. Wir lernen uns nicht kennen, sondern wir kennen uns.«

Voller Andacht lauschte Johannes diesen hochgewichtigen und außergewöhnlichen Berichten. Er blickte den also Sprechenden ehrfurchtsvoll an und versuchte, ihn in der Tat zu erkennen; jedoch ohne Erfolg.

»Du wirst dich gewiß schon darüber gewundert haben, daß ich um dein Lebensschicksal wußte. Nun ist das allerdings nicht gar so verwunderlich, denn es gibt jemanden, dem du davon erzählt zu haben scheinst. Weißt du, wen ich meine?«

Johannes wußte sehr wohl, wen er meinte.

»Das hättest du eigentlich nicht tun sollen. Als ich es hörte, sagte ich sofort, daß das sehr schade sei. Die Welt ist dazu viel zu grob und zu oberflächlich. Die Menschen begreifen doch nichts davon. Man muß das Allerzarteste und Seltsamste nicht von den schmutzigen Fingern der blöden Menge entweihen und besudeln lassen. Verstehst du mich?«

Johannes nickte. Während die Pfeife noch stärker gurgelte als zuvor, nahm Herr van Lieverlee einen kleinen Schluck Kaffee. Darauf fuhr er fort, mit lebhafterer Stimme jetzt, und indem er seine schlanken weißen Hände nervös hin und her bewegte:

»Majas Schleier, Johannes, umhüllt den Blick alles dessen, was erschaffen ist, alles dessen, was da atmet und sich sehnt, alles dessen, was da genießt und leidet. Wir müssen uns davon befreien – trinkst du auch Kaffee?«

»Ich bitte sehr«, sagte Johannes.

»Eine Zigarette? oder rauchst du noch nicht?«

»Nein, noch nicht.«

»Ach so, 's ist ja wahr, Windekind liebte den Tabaksqualm nicht. Aber ich tue es auch nicht so wie das gewöhnliche Volk, etwa weil es mir gut schmeckt oder weil es mir Spaß macht. Nein, ich lasse es durch meine niedrigsten Bestandteile, durch die achten und neunten Glieder, die Kama-Rupa, tun. Meine höheren Bestandteile, der vierte und fünfte, haben nichts damit zu schaffen, genau so gut wie ein Herr von dem Balkon seines Landhauses aus sein Vieh weiden sieht. Die Kühe tun nichts anderes als das Gras fressen, wiederkäuen und was dann darauf folgt. Der Herr macht daraus ein Gedicht oder ein Gemälde.«

Eine Pause, von lautem Pfeifengegurgel ausgefüllt.

»Nun, und wir – ich sagte dir das bereits – wir müssen die Perlen unserer höheren Stimmungen und Sensationen nicht vor die Säue werfen. Wir, Johannes, du und ich, die wir schon sehr viel Inkarnationen hinter uns haben, wir sind alte Seelen und haben den Schleier bereits so lange getragen, daß er fadenscheinig zu werden beginnt. Wir blicken hindurch. – Jetzt müssen wir uns aber auch mit den jungen Neulingen, die eben erst dahinter treten, nicht allzusehr einlassen. Wir würden sonst Rückschritte machen und unsere köstlichsten Errungenschaften langsam wieder einbüßen.«

Das alles erschien Johannes sehr einleuchtend und äußerst schmeichelhaft. Jetzt ward es ihm auch klar, warum er mit den Menschen nicht besser fertig werden konnte. Er war eine bejahrte Seele unter lauter Unmündigen.

»Wir, Johannes«, begann van Lieverlee darauf von neuem, »wir gehören sozusagen zu den Lebensveteranen. Wir tragen die Narben zahlloser Inkarnationen, die Tressen vieljährigen – oder sagen wir lieber Jahrhunderte alten Dienstes. Wir müssen unsern Rang hochhalten und dürfen unsere Würde und unser Ansehen nicht leichtfertig preisgeben. Das aber tut man, wenn man all seine intimsten Regungen an die große Glocke hängt, und dazu besitzest du, wenn ich nicht irre, noch stets eine recht kindliche und sehr bedenkliche Neigung.«

Johannes dachte an seine vielen Mißgriffe und Unbesonnenheiten, wie er in der Schule ganz arglos seine Weisheiten ausgeplaudert und vor den Menschen Windekinds Namen genannt, und beschämt starrte er in seine leere Kaffeetasse.

»Enfin! – diesmal hat das allem Anschein nach so sein sollen, damit du uns begegnetest – mir und der Gräfin Dolores. Du mußt nämlich wissen, daß du ein paar Seelen von äußerster Feinheit gefunden hast. Gerade das, was du brauchst.«

»Ja, sie ist so vornehm und ihre Kinder sind so entzückend«, sagte Johannes, ihm eifrig beipflichtend.

»Nicht etwa, weil sie eine Gräfin ist«, sagte van Lieverlee mit verächtlicher Geberde. In unsern Augen bedeuten diese Titel nichts. Mein Geschlecht ist vielleicht noch vornehmer als das ihre. Aber sie ist unsere Seelenschwester, und in ihr ist eine seltsame Mischung von wilder, glutroter Leidenschaft und keuscher, lilienweißer Reinheit.«

Bei diesen schönen Worten, die van Lieverlee wohlgefällig und nachdrücklich betonte, fühlte Johannes, daß er vor Verlegenheit errötete. Wie konnte ein Mensch es doch nur wagen, solche Worte wie etwas ganz Selbstverständliches auszusprechen!

»Sind Sie ein Dichter?« fragte er schüchtern.

»Gewiß bin ich das. Aber das bist du auch, mein Junge. Wußtest du das nicht? Nun, so will ich es dir sagen. Sieh' mal, du bist jetzt das häßliche junge Entchen, das zum erstenmal einem Schwan begegnet. Weißt du das wohl? Fürchte nichts, Johannes, fürchte ihn nicht, den Bruder Schwan! Richte du deinen gelben Schnabel nur empor, ich werde dich nicht töten, sondern umarmen.«

Johannes richtete seinen gelben Schnabel auf, aber statt ihn zu umarmen, holte van Lieverlee das brillantengeschmückte Taschenbuch zum Vorschein und begann eifrig zu schreiben. Darauf sagte er lächelnd, während er Buch und Bleistift wieder einsteckte: »Gute Einfälle muß man festhalten. Die sind kostbar.«

»Nun wohl«, fuhr er dann fort, während er seine Pfeife von neuem an die Lippen führte: »Du hättest wirklich nirgends besser zurechtkommen können, um dein großes Ziel zu erreichen, als bei uns. Wir wissen die Erklärung für all die seltsamen Ereignisse mit Windekind, und wir können dir den sicheren Weg weisen zu dem, was du suchst. Wir gehen nämlich zusammen.«

War dies nun keine erfreuliche Neuigkeit für Johannes? Wie dumm von Marion, daß sie nicht mitgewollt! Gespannt lauschte er weiter:

»Höre mir gut zu, Johannes, dann werde ich dir erzählen, wer all die Wesen sind, denen du begegnet bist: ich werde dir ihre Macht enträtseln und dir sagen, was uns weiter zu tun bleibt.«

Da öffnete sich die Tür und Gräfin Dolores trat mit ihren Kindern ein. Sie war blendend schön mit ihrem entblößten Nacken, auf dem prächtige Juwelen funkelten. Die Kinder waren in Weiß gekleidet. Die große Table d'hôte war soeben abgelaufen und jetzt kamen sie zu van Lieverlee, um mit ihm seinen arabischen Kaffee zu trinken.

»Ah«, sagte die Gräfin, während sie Johannes scharf lorgnettierte, »Sie haben Besuch? – wir stören doch nicht? Aber Sie bereiten solch delikaten Kaffee. Den Hotelkaffee kann ich nun einmal nicht vertragen.«

»Wo ist der Affe? wo ist der Affe?« riefen die beiden Kinder wie aus einem Munde, während sie auf Johannes zueilten.

Johannes erhob sich verwirrt. Die beiden anmutigen Kinder umringten ihn und er roch den feinen Duft ihres üppigen Haares und ihrer kostbaren Kleider. Er fühlte ihren warmen Atem und ihre weichen Händchen. Er war gänzlich bezaubert, von so viel köstlichen Empfindungen völlig überwältigt. Die kleinen Mädchen schmiegten sich schmeichelnd an ihn und fragten immerfort nach dem Affen, bis wieder das sanfte ermahnende »Olga!« »Frieda!« erklang.

Darauf setzten sie sich neben Johannes auf den Diwan, jede an eine Seite. Die Mutter zündete sich eine Zigarette an.

»Fahren Sie nun, bitte, in Ihrer Unterhaltung fort«, sagte sie, »damit ich etwas lernen kann.« Und dann auf Englisch: »Wenn ihr artig sein und ruhig zuhören wollt, Kinder, dann dürft ihr dableiben.«

Van Lieverlee war aufgestanden, hatte seine türkische Pfeife weggelegt, hielt mit der linken Hand den Aufschlag seines schoßlosen Dinerrockes und gestikulierte mit der Rechten vor Johannes und der Gräfin umher.

»Ich wollte ihm gerade erklären, wer Windekind, Wistik und Klauber sind, gnädige Frau. Sie kennen doch diese Figuren aus Johannes' Leben?«

»Ich ... ich entsinne mich nicht mehr ganz genau«, sagte die Dame, »aber das schadet nichts. Sprechen Sie nur ruhig, kümmern Sie sich nicht um mich. Ich zähle nicht mit, ich bin nur ein dummes Geschöpf.«

»Ach, wenn die Menschen doch erst alle zu Ihrer Dummheit gelangt wären! – Also Johannes, Windekind, Wistik und Klauber sind nichts anderes als Dewas oder Elementare, die durch eine höchste Willensäußerung materialisiert wurden. Es sind personifizierte oder besser gesagt personalisierte Naturkräfte, die plasmatisch aus der kristallklaren Ureinheit auftauchen. Windekind ist die harmonische Poesie oder vielmehr die poetische Harmonie, das ursprüngliche Aufblühen, oder besser gesagt die aufblühende Ursprünglichkeit unseres planetarischen Urbewußtseins. Wistik dagegen oder Klauber verkörpern die dämonische Antithese, die ewig skeptische Verneinung oder die verneinende Skepsis. Sie sind wie Ebbe und Flut, wie der hin und her schwingende Pendel, wie Winter und Sommer, sich ewiglich bekämpfend. Sie sind allzeit mordende und stets wieder neuschaffende Lebenselemente, die unentbehrlichen, sich gegenseitig ausschließenden und sich doch auch wieder ergänzenden Urprinzipien des dualistischen Monismus oder des monistischen Dualismus.«

»Wie interessant«, sagte die Gräfin, und sich dann lebhaft an Johannes wendend. »Und bist du diesen Elementaren wirklich begegnet?«

»Ich, ich ... ich glaube es wohl«, sagte Johannes.

»Aber, Herr van Lieverlee, dann gehört er höchst wahrscheinlich zu den Sensitiven, meinen Sie nicht auch?«

»Zu denen zweiten Grades, gnädige Frau, zweifellos. Und es ist sogar möglich, daß er durch Studium und sorgfältige Kultur den ersten Grad erreicht.«

»Aber wäre es dann nicht gut, wenn wir ihn in die Plejaden einführten?«

Und dann ließ sie, sich liebenswürdig an Johannes wendend, darauf folgen: »Wir haben nämlich einen Verein gegründet, weißt du, zur Ausübung der höheren Wissenschaften und zur gemeinsamen Verbesserung unseres Karma.«

»Eine ideale Gemeinschaft mit einem gemeinschaftlichen Ideal«, fügte van Lieverlee ergänzend hinzu.

Das klang Johannes äußerst verlockend. Ob Frieda und Olga wohl auch dazu gehörten? Indessen sagte er nur, so höflich und bescheiden wie möglich:

»Aber, Frau Gräfin, sollte ich denn da wohl am Platze sein?«

Seine Art gefiel der Gräfin. Sie lächelte anmutig und sagte:

»Gewiß, mein Junge, da, wo es die höheren Wissenschaften gilt, kommen Standesunterschiede nicht in Frage.«

Und darauf sagte sie in der eigentümlich kühlen hoheitsvollen Art der Engländer, die stets glauben, daß der Zuhörer ihre Sprache nicht versteht, auf Englisch zu van Lieverlee: »Er ist wirklich nicht übel, gar nicht so sehr vulgär.«

Johannes aber hatte in der Schule Englisch gelernt, und weil er noch ein kleiner Kerl war, ohne viel Selbstbewußtsein, fühlte er sich geschmeichelt, anstatt gekränkt. Er sagte jetzt auch auf Englisch: »Ich bin noch nicht gut, aber ich will mir gerne alle Mühe geben, es zu werden.«

Auch dieses Wort fiel bei Mutter und Töchtern wieder auf guten Boden. Johannes war gänzlich erfüllt von dem glorreichen Gefühl, daß er Eroberungen machte, er, der kleine Johannes, vor kurzem noch Scherenschleifergehilfe, jetzt Straßenfänger, in einer Welt von höchst verfeinerten Seelen, bei einer schönen juwelengeschmückten Gräfin und ihren beiden entzückenden Töchterchen. Und das nicht infolge von Herkunft oder Protektion, sondern einzig und allein durch seine eigene persönliche Macht. Wenn er jetzt Wistik wiedersähe, wollte er sich ihm gegenüber mal tüchtig aufspielen.

Da fiel ihm – zu seiner Ehre muß es gesagt sein – plötzlich etwas ein.

»Aber, mein Kamerad, Frau Gräfin, darf der mit?«

Die Gräfin sah ein wenig verstimmt aus und fragte:

»Wer ist jener Kamerad? wie bist du zu dem gekommen?«

Wer Johannes jetzt hätte sprechen hören, der würde nicht geglaubt haben, daß er kurz zuvor etwas weniger freundlich über seine kleine Freundin gedacht hatte. Voll inniger Wärme verteidigte er sie, schilderte ihre natürliche Güte und ihre außergewöhnliche Begabung und spielte sogar auf ihre vermutlich gräfliche Herkunft an, bis er das Herz der Gräfin Dolores völlig erweicht hatte. Aber in seinem Feuereifer sprach er abwechselnd von »ihm« und von »ihr«, so daß eines der Mädchen plötzlich aufhorchend fragte:

»Warum sagst du sie? ist es denn ein Mädchen?«

Da gestand Johannes alles, in der festen Überzeugung, daß das hier, bei solchen edeln Menschen, nichts schaden könne. Heftiger denn je errötend, sagte er: »Ja, sie ist eigentlich ein Mädchen, sie hat sich verkleidet, um nicht erwischt zu werden.«

Van Lieverlee richtete, ohne ein Wort zu sagen, einen langen bedenklichen Blick auf Johannes, während die Mädchen voller Begeisterung ausriefen: »Wie spaßig! Oh wie spaßig!« Die Gräfin lächelte ein wenig nervös.

»So, so, das ist aber romantisch, beinahe pikant. Nun, laß sie dann nur kommen, aber ohne Verkleidung, wenn ich bitten darf.«

»Und der Affe, Mammi, kommt der Affe auch?« fragte Olga, die Älteste.

»O wie wundervoll, wie wundervoll!« rief Frieda, freudig in die Händchen klatschend.

»Nein, Kinder, daran ist nicht zu denken. Daß du uns nur recht verstehst, Johannes: der Affe darf auf keinen Fall mitkommen. Das würde einen sehr schädlichen Einfluß ausüben, nicht wahr, Herr van Lieverlee?«

Der also Angeredete schüttelte nachdenklich den Kopf und sagte dann mit feierlich abwehrender Handbewegung:

»Es würde ganz einfach vernichtend auf alle höheren Einflüsse wirken. Wir müssen jedes niedere und unreine Fluidum sorgfältig ausschließen. Der Affe, Johannes, hat im allgemeinen eine sehr niedere und ungünstige Aura oder medianimische Sphäre, was man schon an seinem fatalen Geruch bemerken kann.«

»Ich würde krank werden«, sagte die Gräfin, die sich schon bei dem bloßen Gedanken das Taschentuch vor die Nase preßte.

So wanderte Johannes denn an jenem Abend nach Hause, den Kopf voll stillen Glückes und leuchtender Vorstellungen – gleichzeitig aber mit einem Auftrag für Marion belastet, der ihn immer mehr und mehr zu bedrücken begann, je weiter er sich von dem großen Hotel entfernte und je mehr er sich dem kleinen Volksasyl näherte.


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