Frederik van Eeden
Der kleine Johannes
Frederik van Eeden

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Nun müßt ihr tapfer sein, denn meine Geschichte wird jetzt gar düster und schauerlich. Die Wahrheit kann manchmal recht finster dreinschauen. Aber wenn wir ihr nur fest in die Augen zu blicken wagen, dann lächelt sie zuguterletzt doch licht und freundlich.

Nur wer sich vor ihr fürchtet und auf halbem Wege umkehrt, der wird in die Fesseln der Finsternis und der Häßlichkeit geschlagen und darin festgehalten.

Daß es mit Johannes' schönem, neuem Leben vollständig verfehlt war, und daß er sich gründlich geirrt und die Spur völlig verloren hatte, habt ihr gewiß schon längst begriffen. Nun, und er selber begriff es auch, wenngleich er es sich auch noch nicht eingestehen mochte. So war sie doch nicht des Vaters Stimme gewesen, jene hoffnungsfreudige Erwartung, und er wußte jetzt, daß auch das sicherste Gefühl trügerisch sein kann.

Aber damit war ihm noch nicht geholfen. Jetzt wiederum bekennen, daß er sich geirrt hatte, dies Leben aufgeben und zu Markus und Marion zurückkehren, das ging so leicht nicht. Hier waren weit mächtigere Anziehungskräfte, als die Himbeeren und frischen Brötchen bei Tante Serena einst für ihn gewesen. Wenn er an den Garten bei »Bredebest« dachte, ach, wie gerne würde er wieder dort sein. Aber was ihn hier lockte, das fesselte ihn mit stärkeren Banden, denn er wollte es sich selber nicht einmal eingestehen, daß es wohl besser sein würde, dies alles zu verlassen. Und vor allem anderen erfüllte ihn Tag und Nacht der Gedanke, daß er ein vertrauter kleiner Freund dieser schönen, vornehmen Frau zu werden begann.

Habt Ihr wohl einmal des Abends spät ein sehr spannendes Buch gelesen, zu einer Zeit, da Ihr schon längst hättet schlafen sollen? Dann wißt Ihr recht wohl, daß das nicht gut ist und daß Ihr es späterhin bereuen werdet. Ja, am Ende findet Ihr das Buch sogar dumm und häßlich. Aber Ihr könnt dennoch nicht aufhören und wollt immer wieder ein Kapitel weiter lesen, um zu wissen, wie wohl alles enden wird.

So erging es Johannes in dem schönen Landhause der Gräfin Dolores.

Er blieb dort eine Woche nach der andern, einen Monat nach dem andern. Und schrieb nicht nach Holland, weder an Tante Serena, noch an seinen Bruder, noch an Marion. Es sei, weil er nicht wußte, was er schreiben sollte, es sei, daß er sich schämte.

Denn immerfort waren all seine Gedanken nur auf eines gerichtet: wann er wieder mit der Gräfin Dolores sprechen, und was sie ihm dann sagen, und was er antworten würde. Und ob sie ihm dann die Hand geben würde, und ihm übers Haar streichen, oder ihn gar küssen, wie sie das schon einmal getan hatte, zugleich mit ihren beiden Töchterchen.

Vielleicht seid Ihr noch niemals verliebt gewesen. Und dann wißt Ihr auch nicht, was das alles zu bedeuten hat. Aber, glaubt mir, es ist keine Kleinigkeit und wahrlich, es ist Spott damit zu treiben.

Was in seinem Innern vorging, begriff Johannes selber nicht recht. Er wußte nur, daß er sich in seinem ganzen Leben noch niemals so beklommen und so verwirrt gefühlt hatte.

Es war auch alles gar so wunderlich.

Es bereitete Schmerz, heftigen Schmerz sogar, und dennoch war es süß, und er wollte es haben. Es bedrückte und beängstigte, und dennoch wollte er ihm nicht entgehen. Es war so widersinnig, so völlig verwirrend.

An einem schwülen stürmischen Abend ging er allein über die Klippen am Strande entlang, auf dem schmalen Pfad, der dicht an dem steilen grauen Abhang vorüberführt, gegen den die Brandung donnernd schlägt. Er sah die Sonne untergehen hinter den großen wilden Wolkenzügen, so, wie er es auch früher stets so gerne sah. Aber wie anders erschien es ihm jetzt! wie fremd und kalt! Er stand jetzt gänzlich außerhalb, denn das Leben, das erbarmungslose Menschenleben hatte ihn mit all seinen Leidenschaften und Verworrenheiten in seinen Bann geschlagen.

Es erschien ihm beängstigend und entsetzlich wie ein großes Ungeheuer, das ihn verfolgt und bis an den Rand des Meeres weitergehetzt hatte. Und jetzt war ihm die Natur fremd und unwirtlich geworden.

Er streckte seine Hände aus und rief die Wolken an:

»So helft mir doch, ihr Wolken, ihr silbern-umsäumten!«

Aber die Wolken zogen ruhig weiter, gleich als seien sie gänzlich in das Spiel vertieft, neue wunderliche Gestalten zu bilden, immer wieder fremd und seltsam, mit glitzerndem Gold verziert. Auch die See rauschte unablässig weiter, gleich als kenne sie Johannes gar nicht mehr.

Nachdem Johannes die Worte ausgerufen hatte:

»So helft mir doch, ihr Wolken, ihr silbern-umsäumten!« blieben sie ihm im Geiste haften. Und wie lichte Engel winkten sie andere Worte herbei, ihre Schwestern, die noch in den Tiefen von Johannes' Seele zauderten, daß sie gleichfalls ans Licht kommen sollten. Und so kamen sie eines nach dem andern in leuchtenden Reihen und scharten sich zueinander. Und ihr Antlitz war so ernst, wie er es an seinen eigenen Worten noch nimmer gesehen.

»O, helft mir, ihr Wolken mit dem Silberrand!
»Rettet mich, Sonne, sturmgepeitschtes Meer!
»ich flüchte mich zu euch aus engem Menschenland!
»Mich traf mit seiner roten Flammenhand
»das grause Leben, ach, so bitter schwer.

»Ich war doch Freund euch einst, der euch vertraute,
»der glücklich war in eurer Einsamkeit,
»der ohne Furcht den ew'gen Raum durchschaute,
»ätherische Paläste drin erbaute,
»aus lauter Sternenglanz und Sturmgeläut.

»In eurer strengen Hoheit fand ich Frieden
»an eurer weiten Wildnis rauher Brust,
»jetzt schleppt mich fort des Lebens Zorn hinieden,
»ein siedender Vulkan ward mir beschieden
»anstatt des klaren Meeres eurer Lust.

»Weh mir, ihr liegt in eigener Pracht versunken,
»kühl wie ein Leu, der sich die Klauen leckt,
»träg wandelt sich die Wolke, lichtestrunken,
»der Seeleib wälzt sich unter grellen Funken,
»mit goldnem Panzer scheint er überdeckt.

»Ach, schönste Welt! wie treulos, wie uneigen
»schwebst du dahin vor meinem trüben Blick!
»Still rauscht das Meer, und Sonn' und Wolken schweigen,
»seh' ohne Trost des Tages Licht sich neigen,
»es läßt mich in noch bangrer Nacht Zurück.

»Wann werd' ich meines Vaters Seele finden,
»die hinter Sonne, Meer und Wolken thront,
»muß an der Freudlosen, unsel'ger Blinden
»verlorener Schar ich nun mein Schicksal binden
»bis Alles-Schlichter zeigt wo Frieden wohnt.«

Wen Johannes mit dem »Alles-Schlichter« meinte, war ihm selber nicht klar. Auch war er sich keineswegs dessen bewußt, daß er mehr gegeben habe als früher. Während der Nacht aber begann er es zu begreifen, daß er wohl den Tod gemeint habe, und auch, daß in ihm etwas erstanden sei wie eine aufblühende Blume.

Er fühlte, daß das Gedicht als Lied gesungen werden könne, aber die Melodie hörte er nicht, oder doch nur ganz matt, wie einen vom Wind verwehten Klang aus weiter Ferne. Des Nachts in seinem Traum hörte er den volltönenden Sang, aber des Morgens hatte er ihn völlig wieder vergessen, und Marion war nicht da, um ihm zu helfen.

Bedenkt nun wohl, daß der kleine Johannes nicht mehr gar so klein war. Es waren schon etwa vier Jahre verflossen seit jenem Tage, da er in den Dünen erwacht war, mit dem goldenen Schlüsselein in der Hand.

Er konnte es nicht lassen, das Gedicht am folgenden Tage der Gräfin vorzulesen. Nachdem er es gemacht und geschrieben und nochmals abgeschrieben, war die Unruhe, aus der es entstanden war, von ihm gewichen. Jetzt war er begierig, was andere wohl dazu sagen würden, vor allem aber sie, an die er stets denken mußte.

»Ach ja«, sagte sie, nachdem er es vorgelesen hatte, »das Leben ist entsetzlich, und ich vermag mich nur noch nach jenem Allerletzten zu sehnen. Ich stimme vollkommen mit dir überein.«

Diese Worte vermochten Johannes zu seiner eigenen Verwunderung nur wenig zu erfreuen, so freundlich sie auch gemeint sein mochten. Er wollte etwas anderes hören.

»Finden Sie es schön?« fragte er darauf, von dem unbestimmten Empfinden erfüllt, daß er so etwas eigentlich gar nicht fragen solle, weil ihm das Gedicht so recht von Herzen gekommen war. Und wenn einem etwas so recht von Herzen kommt, dann fragt man nicht, ob es schön ist, ebensowenig, wie es einem Menschen einfallen würde, zu fragen, ob er schön geweint habe.

Allein, er wollte es doch gar zu gern wissen.

»Das weiß ich nicht, Johannes. Du mußt von mir keine Kritik verlangen. Den Gedanken finde ich sehr sympathisch und die Form scheint mir auch recht dichterisch. Aber ob es gute Poesie ist oder nicht, danach müßtest du Herrn van Lieverlee fragen. Der ist ein Dichter.«

»Kommt Herr van Lieverlee bald?«

»Ja, ich erwarte ihn binnen kurzem.«

Eines schönen Tages traf Herr van Lieverlee denn auch wirklich ein mit sehr vielen neuen, angenehm knarrenden und köstlich nach Leder duftenden gelben Koffern, einem dito Zylinderfutteral, einem gewandten, glattrasierten Bedienten und einer dunkelroten Rose mit mattgrünem Nelkenlaub im Knopfloch.

Er war sehr gut gelaunt und aufgeräumt und schien sich des Johannes nicht mehr ganz genau zu erinnern.

Am Abend las Johannes ihm das Gedicht vor. Van Lieverlee hörte ihn zerstreut an, während er nervös mit den Fingern auf die Lehne des niedrigen Sessels trommelte, auf dem er sich bequem hingestreckt hatte. Es wollte fast scheinen, als ob ihn das Gedicht sehr ungeduldig mache.

Als es aus war und Johannes voll peinlicher Spannung wartete, schüttelte er sehr energisch den Kopf.

»Das ist alles Rhetorik, mein werter Freund, Bombast. »Oh« und »weh« und »ach«, das sind lauter machtlose Schreie, die beweisen, daß die Sache deine Kraft übersteigt. Hat man die Stimmung bewältigt, dann schreit man nicht so, dann bildet und formt und knetet und schafft man. Plastik! Plastik! – Die Plastik, Johannes, das ist das Wahre. Die Vision, die Farbe, das Bildnern. – Bei diesem Gedicht sehe ich nichts, ich will was sehen und tasten, denk mal an das Sonett von mir: jede Zeile voll Gestaltung, voll Leben, voll wirklicher Dinge. Bei dir lauter unbestimmte Äußerungen, kraftloses Geschwätz, über die Seele deines Vaters und so weiter, bei dem man sich rein gar nichts denken kann. Und um den Effekt herbeizuführen, rufst du bei jedem zweiten Wort »ach« und »weh« und »oh!« als ob das was helfen könnte. Das kann jeder Trottel rufen, wenn er ins Wasser fällt, das ist keine Poesie!«

Johannes fühlte sich gänzlich geschlagen, und ob auch seine liebenswürdige Wirtin ihn zu trösten versuchte, indem sie ihm versicherte, daß es später wohl besser gehen würde, wenn er sich nur rechte Mühe gäbe, denn er sei doch noch gar so jung – es half alles nichts, denn Johannes wußte bereits, daß es völlig fruchtlos ist, sich Mühe zu geben, solange nicht etwas anderes mithilft, und zwar etwas, dem sich nicht befehlen läßt.

Seine Nacht war trübe, denn die ernsten Versworte kamen ihm beständig wieder in den Sinn, und die Schmach, die man diesen Worten angetan, quälte ihn. Sie ließen sich nicht abweisen, sondern handhabten standhaft ihre Würde, und daher wollte er, daß auch andere sie ebenso schätzen sollten wie er selber. Und seine Machtlosigkeit und sein Zweifel wurden ihm zu bitterer Qual.

Nach Mitternacht fiel er in einen leichten Schlaf. Wohl nur auf wenige Minuten. Aber als er wiederum erwachte, da war es ihm, als ob sein Zimmer gänzlich voll sei. Voll Gesellschaft. Aber was für eine Gesellschaft das war, ob Menschen oder andere Wesen, das vermochte er nicht zu sagen. Er sah sie nicht, denn gerade dort, wohin er blickte, war niemand. Und er konnte auch nicht dorthin schauen, wohin er schauen wollte; es war ihm beinahe, als würde er daran durch eine fremde Macht gehindert.

Er hörte Lachen, und der Klang dieses Lachens war ihm wohlbekannt. Eine häßliche Erinnerung aus alter Zeit. Es war Klaubers Lachen.

Ob Klauber sich etwa im Zimmer aufhielt?

Mit aller Anstrengung versuchte Johannes dorthin zu blicken, von wo das Lachen kam. Mit großer Mühe vermochte er endlich etwas zu erkennen: keine ganze Gestalt, sondern lauter Händchen, zwei, vier, sechs Händchen, die eifrig dabei waren, etwas zu untersuchen. Höher hinauf, zu dem, was über diesen Händchen war, konnte er nicht schauen – aber daß Klaubers Händchen dabei waren, das wußte er ganz gewiß.

Diese Händchen hielten etwas fest, ein kleines weißes Band, und waren emsig damit beschäftigt, auf allerlei Weise Knoten hinein zu legen: und dabei wurde fortwährend gelacht und gekichert, voll heimlicher Freude.

Was mochte das wohl zu bedeuten haben? Johannes fühlte, daß ihn etwas bedrohte. Das Spiel dieser Händchen bedeutete für ihn Gefahr. Das weiße Band sah er am deutlichsten von allem, ein ganz gewöhnliches weißes Schnürband.

Da verließen die Händchen das Zimmer und Johannes mußte ihnen nach. Und in einem andern Zimmer, das Helenens Pflegerin bewohnte, sah er sie wiederum an der Arbeit, diesmal mit einer Schere. Die Schere war neben den Toilettentisch gefallen und stak mit einer Spitze im Teppich, und da lachten die Unsichtbaren wieder und grinsten und kicherten, und all die sechs Händchen deuteten gleichzeitig auf die Schere.

In Helenens Zimmer brannte Licht, aber das arme, kranke Mädchen klagte jetzt nicht. Es war still dort. Die Tür wurde geöffnet, die Pflegerin trat heraus und ließ die Türe offen stehen. Darauf ging sie in ihr eigenes Zimmer und suchte etwas. Sie suchte sehr lange und konnte es nicht finden. Sicherlich die Schere. Diese stak noch immer mit einer Spitze im Teppich hinter dem Toilettentisch, und die sechs Händchen wiesen auf sie. Allein die Suchende sah das nicht und schien auch das Lachen nicht zu hören. Johannes konnte ihr nicht helfen. Er mußte den Händchen folgen. Er hörte wiederum lebhaftes Flüstern und Kichern und sah sie dann fortgehen. Die Treppe hinunter, durch die Halle und hinaus.

Draußen war es noch sehr dunkel. Nur die Sterne funkelten hell und unbeweglich am nachtschwarzen Himmel.

Da ward auf der Terrasse eine Gestalt sichtbar, eine große dunkle Gestalt. Nach ihr vermochte er wohl zu schauen, besser als nach all den kichernden Wesen, und er erkannte sie sofort. Er war es, mit dem er über See gereist war.

Diese dunkle Gestalt ging jetzt langsamen und sicheren Schrittes vor ihm her. Klauber neben ihm. Aber zwischen diesen beiden da war ein Drittes, und nach diesem Dritten vermochte Johannes gar nicht zu schauen. Sobald er es versuchte, befiel ihn eine namenlose Angst.

Dies Dritte – ja! ihr werdet es sicherlich wohl kennen, das war ES, wißt ihr, ES, das hinter der Türe wartet, wenn ihr träumt oder in einem dunklen Zimmer allein seid und um Hilfe rufen wollt und doch nicht dazu imstande seid. ES, das Allergrausigste, so grausig, daß kein Mensch es anzusehen noch zu schildern vermag.

Diese Drei gingen nun durch die dunklen Alleen des Parkes, bis sie an den düsteren Teich kamen, der tödlich starr und in stiller Erwartung unter dem Sternenlicht schimmerte.

Dort ließen sie sich nieder und warteten.

Es war vollkommen still, kein Blatt raschelte. Die Sternenbilder im Wasser hoben sich scharf wie feine Lichtpünktchen aus abgrundtiefem Schwarz.

»Hübsch ausgedacht, nicht wahr?« sagte Klauber.

ES grinste brummend.

Darauf sagte der gute Tod mit sanfter ruhiger Stimme:

»Es wird doch alles gut!«

Dann saßen sie wiederum sehr still. Johannes wartete, gleich ihnen, er konnte nicht anders.

Und dann, plötzlich, hörte man das Knarren einer Tür durch die stille Nacht, und eine weiße Gestalt näherte sich raschen und unhörbaren Schrittes. Johannes erkannte in dem matten Schein der Sterne das schlanke Mädchen in dem weißen Nachtgewand mit ihrem üppigen schwarzen Haar.

Nur einen Augenblick machte sie Halt am Ufer des Teiches. Johannes sah ihre Augen flüchtig aufblitzen, angstvoll und freudig zugleich. Wie ein zu Tode gehetzter Mensch war sie, dem Rettung winkt. Er wollte rufen, sich rühren, allein er vermochte es nicht.

Da schritt das Mädchen ins Wasser, die Arme ausgebreitet, gleich als wolle sie es umschlingen. Sie ging behutsam, so daß das Wasser weder klatschte noch aufspritzte. Nur die funkelnden Sterne brachen erschreckt auseinander in langen Streifen und kleinen Lichtschlangen, die noch lange auf und nieder tanzten, bis von dem Weißen nichts mehr sichtbar war.

»So, die hätten wir,« sagte Klauber.

»Das bleibt noch abzuwarten,« antwortete der gute Tod ...

Plötzlich fühlte Johannes, daß er in seinem eigenen Bett erwachte. Er wurde durch einen lauten Lärm geweckt, durch Rufen ängstlicher Stimmen, eiliges Hin- und Herlaufen in den Gängen des Hauses, durch das Geräusch von Türen, die eiligst geöffnet und geschlossen wurden.

»Helene! Helene!« klang es durch die Gänge, durch den Garten, durch den Park. »Helene! Helene!«

Johannes kleidete sich an, nicht übereilt, denn er wußte, daß es zu spät war.

Die Hausgenossen hatten sich bereits in der großen Vorhalle versammelt. Die arme Pflegerin kam totenblaß aus dem Garten zurück.

»Nicht zu finden,« jammerte sie, »und es ist meine Schuld, meine Schuld!«

Sie setzte sich und begann zu schluchzen.

»Aber ich bitte Sie, Liebste, machen Sie sich doch keine Vorwürfe. Es ist ja möglich, daß sie gleich wieder zurückkommt, oder daß die Diener sie im Dorf finden.«

»Nein, nein,« erwiderte die Ärmste schluchzend, »sie hat es schon lange tun wollen. Ich wußte es. Niemals ließ ich ihre Türe unverschlossen, aber heute – ich glaubte nur wenige Augenblicke fortzubleiben – sie hatte ein Band verknotet und ich wollte meine Schere holen, aber die konnte ich nicht finden ... und da ... o Gott, wie konnte ich auch nur so unvorsichtig sein! Ich verzeihe es mir nie, niemals, mein ganzes Leben nicht. O Gott! o Gott!«

Konnte Johannes denn jetzt nicht schleunigst nach dem Teich laufen und sagen, was er wußte? Nein. Denn er wußte eben so sicher, daß es zu spät war, und bevor er es noch hatte tun können, kamen die Männer auch schon und berichteten, daß sie gefunden sei. Er sah sie ganz flüchtig, während man sie in einen buntkarrierten Schal eingewickelt ins Haus trug. Und als er sah, wie man sich bemühte, sie ins Leben zurückzurufen, da sagte er, daß er fürchte, das würde wohl alles nichts nützen, und ließ gleich darauf folgen: »Eigentlich fürchte ich es nicht, sondern ich hoffe es.«

»Für sie,« sagte die Gräfin.

»Natürlich für sie,« antwortete Johannes, beinahe verwundert.

Van Lieverlee hatte sich nicht blicken lassen. Aber als das schöne Mädchen auf ihrem Totenbette lag, die schlanken Hände über der Brust gefaltet, die noch feuchten Haare in schwarzen Flechten um das seine gelblich-weiße Gesichtchen gelegt, die dunklen Wimpern beinahe geschlossen, und weiße Lilien und Schneeglöckchen rings um sie her, da kam er, um sie zu sehen.

»Sieh,« fagte er zu Johannes, »dies ist sehr schön. Das Auffischen wollte ich nicht sehen, Ertrunkene sind beinahe immer häßlich. Sogar das schönste Mädchen wirkt abstoßend und possierlich zugleich, wenn sie an einem Bein aus dem Wasser gezogen wird, die Haare und das Gesicht voller Schlamm und Schmutz. Aber dies ist der Mühe wert. Paß' mal auf, was ich dir sage, Johannes: echte Künstler haben immer Glück. Die Schönheit kommt ihnen überall entgegen. So etwas wie dies hier, das ist ein ganz außergewöhnlicher Glücksfall für einen Dichter.« –

Während der folgenden Tage schrieb Johannes eifrig Verse. Aber seine Seele blieb verschlossen und voller Angst. Er vermochte keine Worte zu finden für das, was ihn quälte.


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