Frederik van Eeden
Der kleine Johannes
Frederik van Eeden

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»Sapperlot, wie ist solch ein Sommer doch schauderhaft langweilig!« seufzte einer der großen Öfen, die auf dem Boden des alten Hauses in einem dunklen Winkel griesgrämig beisammen standen. »Seit Wochen schon habe ich keine lebende Seele mehr gesehen und kein vernünftiges Wort gehört. Und dazu diese innere Leere! Es ist geradezu abscheulich.«

»Ich bin ganz mit Spinngeweben bedeckt,« sagte der zweite, »das könnte mir während des Winters auch nicht passieren.«

»Und ich bin so staubig, daß ich mich zu Tode schämen muß, wenn zu Anfang des Winters der schwarze Mann wieder erscheint.« – Diese Weisheit hatte der dritte Ofen natürlich von Johannes aufgeschnappt, wenn dieser, an langen Winterabenden beim Ofen sitzend, seine Verslein hersagte.

»Du mußt nicht so respektlos von dem Schmied sprechen,« sagte der erste Ofen, der älteste von den Dreien, »ich kann das nicht leiden.«

Auch einige Feuerhaken und Schippen, die hier und dort am Boden lagen, sorgfältig mit Papier umwickelt, damit sie nicht rostig würden, gaben ihre Entrüstung über diese leichtfertige Ausdrucksweise deutlich zu erkennen.

Plötzlich aber verstummte das Gespräch, denn die Dachluke wurde geöffnet und bis in den dunklen Winkel drang ein Lichtstrahl, der die ganze Gesellschaft in ihrem staubigen Durcheinander hell beleuchtete.

Es war Johannes, der sie in ihrer Unterhaltung störte. Der Bodenraum hatte für ihn stets eine ganz besondere Anziehungskraft besessen. Jetzt, nach all den seltsamen Ereignissen der letzten Zeit, flüchtete er sich gar häufig dorthin. Hier fand er Ruhe und Einsamkeit. Auch gab es da ein Fenster, das durch eine Luke verschlossen war und das nach der Dünenseite hinausging. Es war köstlich, diese Luke aufzustoßen und nach dem geheimnisvollen Halbdunkel des Bodenraums plötzlich die weite, lichtüberstrahlte, von der weißleuchtenden, sandwogenden Dünenreihe begrenzte Landschaft vor sich zu sehen.

Seit jenem Freitag Abend waren drei Wochen verflossen, ohne daß Johannes etwas von seinem Freunde gemerkt hätte. Das Schlüsselein war nun auch fort, und somit hatte er keinen einzigen sicheren Beweis mehr dafür, daß er nicht geträumt hatte. Oftmals vermochte er die Furcht, daß das alles doch nur Einbildung gewesen, kaum zu bannen. Er ward still und in sich gekehrt, und besorgt meinte sein Vater, daß Johannes sich in jener Nacht in den Dünen sicherlich eine Krankheit geholt habe. Johannes indessen sehnte sich nach Windekind.

»Ob er mich wohl ebenso lieb hat wie ich ihn?« dachte er sinnend, während er auf dem Bodenraum vor dem Fenster stand und über den grünen blumenreichen Garten schaute. »Warum er denn wohl nicht öfter und nicht länger zu mir kommt? Wenn ich könnte ... Aber vielleicht hat er auch noch andere Freunde. Ob er die auch lieb hat? Und mehr als mich? Ich habe keine andern Freunde ... keinen einzigen. Nur ihn habe ich lieb. So sehr, ach so sehr!«

An dem tiefblauen Himmel sah er eine Schar weißer Tauben vorüberziehen, die mit klapperndem Flügelschlag langsam über das Haus dahinschwebten. Es schien fast, als würden sie von einem einzigen Gedanken getrieben, so rasch und so gleichzeitig änderten sie immer wieder ihren Kurs, als wollten sie das Meer von Sonnenlicht, darinnen sie schwebten, voll und ganz genießen.

Da plötzlich flogen sie auf Johannes' kleines Dachfensterchen zu und strichen mit vielem Geflatter und lautem Flügelschlagen auf die Dachrinne nieder, wo sie geschäftig kirrend unablässig hin und her trippelten. Eine von ihnen trug in ihrem Flügel eine kleine rote Feder. Sie zog und zupfte so lange daran, bis sie sie im Schnabel hielt. Dann flog sie auf Johannes zu und gab sie ihm.

Kaum hatte Johannes sie genommen, da fühlte er auch schon, daß er so leicht und so behende ward wie der Tauben eine. Er streckte die Glieder – der Taubenschwarm flog auf, und Johannes schwebte mit ihnen durch die freie frische Luft und den hellen Sonnenschein. Um ihn war nichts als das reine Blau und der leuchtende Glanz der weißen Flügel.

Sie flogen über den großen Garten zu dem Walde, dessen dichte Baumwipfel in der Ferne hin- und herwogten wie die Wellen eines grünen Meeres. Johannes schaute hinunter und sah seinen Vater, der in dem Wohnzimmer vor dem offenen Fenster saß. Simon lag friedlich auf dem Fenstersims und sonnte sich voller Wohlbehagen. »Ob sie mich wohl sehen?« dachte er bei sich – allein er wagte nicht zu rufen.

Presto rannte kreuz und quer über die Pfade des Gartens, schnüffelte an jedem Strauch und hinter jeden Zaun und kratzte ungeduldig an jeder der kleinen Türen, die in das Treibhaus oder in die Orangerie führten, um sein Herrchen zu suchen.

»Presto, Presto!« rief Johannes. Das Hündchen blickte auf und begann schwanzwedelnd kläglich zu wimmern.

»Ich komme zurück, Presto, warte nur,« rief Johannes. Allein er war schon zu weit fort.

Sie schwebten über dem Walde, und die Krähen flogen krächzend aus den hohen Wipfeln, darinnen sie ihre Nester hatten. Es war mitten im Sommer, und voll und schwer stieg der Duft der blühenden Linden aus dem grünen Walde auf.

In einem leeren Nest, in dem höchsten Wipfel einer hohen Linde saß Windekind, um die Stirn den Kranz aus Windenkelchen. Er nickte Johannes zu.

»Bist du da? Das ist recht,« sagte er. »Ich habe dich holen lassen. Jetzt können wir lange zusammen bleiben – wenn du willst.«

»Ich möchte schon gerne,« sagte Johannes.

Darauf dankte er den freundlichen Tauben, die ihm das Geleit gegeben und schwebte mit Windekind in den Wald hinab.

Dort war es kühl und schattig. Die Goldamsel sang – immerfort das Gleiche und dennoch stets ein wenig anders.

»Der arme Vogel,« sagte Windekind, »einst war er ein Paradiesvogel, das kannst du noch jetzt an seinem seltsamen gelben Gefieder erkennen – aber er hat sich gewandelt und ist aus dem Paradiese verjagt worden. Es gibt ein Wort, das ihm sein einstiges, wunderbares Gewand wiedergeben und ihn in das Paradies zurückführen kann. Das Wort aber hat er vergessen. Jetzt versucht er Tag für Tag es wieder zu finden. Es gleicht dem andern zwar wohl, aber das rechte ist es nicht.«

Unzählige Fliegen glitzerten wie schwebende Kristalle in den Sonnenstrahlen, die das dunkle Laubwerk durchzitterten. Wenn man aufmerksam lauschte, konnte man ihr Summen hören wie ein großes eintöniges Konzert, das den ganzen Wald erfüllte. Es war als sängen die Sonnenstrahlen.

Dichtes dunkelgrünes Moos bedeckte die Erde, und Johannes war wiederum so klein geworden, daß es ihm schien, als sei aus dem Boden des großen Waldes ein neuer Wald erstanden. Was für zierliche kleine Stämme! – und wie dicht wuchsen sie nebeneinander! Es war schwer hindurch zu gelangen, und der Mooswald schien ungeheuer groß zu sein.

Da kamen sie an einen Ameisenweg. Hunderte von Ameisen liefen geschäftig hin und her – einige von ihnen trugen Holzstäbchen oder Blättlein oder Grashalme im Kiefer. Es war solch ein Gewimmel, daß es Johannes beinahe schwindelte.

Es dauerte lange, bevor ihnen eine der Ameisen Rede und Antwort stehen wollte. Sie waren alle gar so beschäftigt. – Endlich trafen sie eine Alte, deren Amt es war, die kleinen Blattläuse zu bewachen, aus denen die Ameisen den Honigtau ziehen. Da ihre Herde sich ganz ruhig verhielt, konnte sie sich schon ein Weilchen um die Fremden kümmern und ihnen das große Nest zeigen. Es war, am Fuß eines alten Baumstammes angelegt, sehr groß und enthielt hunderte von kleinen Gängen und Kammern. Der Blattlaushirt gab Auskunft und führte die Besucher überall umher, sogar bis in die Kinderstuben, wo die jungen Larven aus ihrer weißen Hülle hervorkrochen. Johannes war erstaunt und entzückt.

Die alte Ameise erzählte, daß man in großer Unruhe lebe wegen des Feldzuges, der binnen kurzem bevorstehe. Man wolle eine andere Ameisenkolonie unweit von hier mit starker Übermacht angreifen, das Nest vernichten und die Larven rauben oder töten; das würde sicherlich alle Kräfte vollständig in Anspruch nehmen, und man müsse daher zunächst die dringlichste Arbeit verrichten.

»Wozu soll der Feldzug unternommen werden?« fragte Johannes. »Ich finde das gar nicht schön.«

»O doch,« sagte der Laushirt, »es ist ein sehr schönes und verdienstliches Unternehmen. Bedenkt doch nur, daß es die Kriegsameisen sind, die wir angreifen wollen – wir wollen ihr Geschlecht ausrotten, und das ist ein sehr gutes Werk.«

»Seid ihr denn keine Kriegsameisen?«

»O Gott bewahre, wo denkt ihr hin? Wir sind Friedensameisen.«

»Aber was bedeutet denn das Alles?«

»Wißt ihr das nicht? So werde ich es euch erklären. Einst lebten sämtliche Ameisen in beständigem Kampf – es verging kein Tag, ohne daß große Schlachten geschlagen wurden. Da kam eine gute kluge Ameise, die sich ausgedacht hatte, wie viel Mühe man sich sparen könne, wenn die Ameisen untereinander das Abkommen träfen, sich nicht mehr zu bekämpfen.

Als sie das sagte, fand man es sehr sonderbar und begann sie in lauter kleine Stückchen zu zerbeißen. Später tauchten dann noch einige andere Ameisen auf, die derselben Ansicht waren. Auch die wurden in lauter kleine Stückchen zerbissen. Endlich gab es ihrer so viele, daß das Zerbeißen den Andern zu mühsam wurde.

Da nannten sie sich Friedensameisen und behaupteten sämtlich, daß die erste Friedensameise Recht gehabt habe; und wer das bestritt, der wurde seinerseits in Stücke zerbissen. Auf diese Weise sind heutzutage beinahe alle Ameisen Friedensameisen geworden, und die Überreste der ersten Friedensameise werden sorgfältig und voller Ehrerbietung aufbewahrt. Wir haben den Kopf der echten. Wir haben schon zwölf andere Kolonien vernichtet, die behaupteten den echten Kopf zu besitzen. Jetzt gibt es ihrer nur noch vier, die das tun. Sie nennen sich Friedensameisen, aber es sind natürlich Kriegsameisen, denn wir haben den echten Kopf und die Friedensameise hatte nur einen. Nun machen wir uns demnächst auf, um die dreizehnte Kolonie zu verheeren. Das ist doch gewiß ein gutes Werk.«

»Ja, ja,« sagte Johannes, »es ist sehr merkwürdig.«

Im Grunde genommen war ihm ein wenig ängstlich zu Mute geworden, – und er fühlte sich erst ruhiger, als sie dem diensteifrigen Hirten dankend lebewohl gesagt hatten und fern von dem Ameisenvolk auf einem Grashalm im Schatten eines zierlichen Farrenblattes rasteten.

»Huh,« seufzte Johannes, »das war aber eine blutdürstige und dumme Gesellschaft.«

Windekind wiegte sich lächelnd auf seinem Grashalm.

»O,« sagte er, »du mußt sie nicht dumm nennen. Menschen gehen zu den Ameisen, um klug zu werden.«

So zeigte Windekind Johannes all die Wunder des Waldes – sie flogen bis zu den Vögeln, die in den Baumwipfeln und in den dichten Gebüschen nisteten, stiegen in die kunstvollen Wohnungen der Maulwürfe hinab und betrachteten das Bienennest in dem alten Baumstamm.

Endlich gelangten sie an eine Lichtung, die von niedrigem Buschholz umgeben war. Geißblatt wuchs dort in Hülle und Fülle. Allüberall wanden sich die üppigen Zweige durch die Sträucher, prangten die duftenden Blumenkränze zwischen dem Grün. Ein Meisenschwarm flog aus und flatterte, laut piepend und zwitschernd, unruhig zwischen den Blättchen umher.

»Laß uns hier ein wenig bleiben,« bat Johannes, »hier ist es köstlich.«

»Schön,« sagte Windekind, »dann wirst du auch etwas Spaßiges sehen.«

Am Boden wuchsen blaue Glöckchen im Grase. Johannes setzte sich neben eines von ihnen und begann eine Unterhaltung über die Bienen und die Schmetterlinge anzuknüpfen. Das waren des kleinen Glöckchens gute Freunde und daher kam die Unterhaltung auch alsbald in Fluß.

Aber was war das? Plötzlich legte sich ein großer Schatten über das Gras und etwas wie eine weiße Wolke schwebte auf das Glöcklein hernieder ... Kaum, daß Johannes Zeit hatte, sich aus dem Staube zu machen. – Er flog zu Windekind, der in einem hochblühenden Geisblatt saß. Da sah er, daß die weiße Wolke ein Taschentuch war – und, bums! da setzte sich auch schon eine dicke Madam auf das Taschentuch und auf das arme Glöckchen, das darunter blühte.

Er hatte nicht einmal Zeit es zu bedauern, denn in der Lichtung des Waldes hörte man plötzlich ein lautes Stimmengewirr und das Krachen von Ästen und Zweigen war allüberall vernehmbar. Eine Menge Menschen näherten sich.

»Jetzt werden wir lachen,« sagte Windekind.

Da kamen sie, die Menschen. – Die Frauen mit Körben und Schirmen in der Hand, die Männer mit schwarzen steifen Hüten auf dem Kopf. Sie waren fast alle schwarz, furchtbar schwarz gekleidet. In dem grünen sonnigen Walde nahmen sie sich aus wie häßliche große Tintenkleckse auf einem wundervollen Gemälde.

Es wurden Sträucher auseinander gebogen, Blumen zertreten, noch viele weiße Taschentücher ausgebreitet, und die kleinen gefügigen Grashalme und die geduldigen Moospflänzchen gaben seufzend nach unter der Last, die sie zu tragen bekamen und fürchteten, daß sie sich von solchem Schlage nimmer erholen würden.

Zigarrenrauch schlängelte sich über die Geisblattsträucher und verscheuchte boshaft den zarten Duft ihrer Blüten. Laute Stimmen vertrieben den fröhlichen Meisenschwarm, der, erschreckt und entrüstet, laut zwitschernd in den nächsten Bäumen seine Zuflucht suchte.

Ein Mann erhob sich aus der Menge und stellte sich auf eine kleine Anhöhe. Er hatte langes blondes Haar und ein bleiches Gesicht. Er sagte etwas, und darauf öffneten sämtliche Menschen ihren Mund sehr weit und begannen zu singen, so laut, daß die Krähen krächzend aus ihren hochgelegenen Nestern aufflogen und die neugierigen Kaninchen, die von den Dünen hergekommen waren, um einmal Umschau zu halten, erschreckt davonliefen und wohl noch eine Viertelstunde lang so weiter rannten, als sie längst schon wieder sicher und wohlgeborgen in den Dünen waren.

Windekind lachte, während er den Zigarrenqualm mit einem Farrenzweig forttrieb. Johannes traten die Tränen in die Augen. Daran war indessen nicht der Rauch schuld.

»Windekind,« sagte er, »ich möchte fort, es ist hier alles so laut und so häßlich.«

»Nein, wir müssen noch dableiben. Es wird noch viel spaßiger, paß mal auf, wie du lachen wirst.«

Jetzt hörte man zu singen auf, und der bleiche Mann begann zu sprechen. Er schrie laut, auf daß ihn alle verstehen könnten, aber was er sagte, klang recht freundlich. Er nannte die Menschen Brüder und Schwestern und sprach von der herrlichen Natur und den Wundern der Schöpfung, von Gottes Sonnenschein und von den lieblichen Vögeln und Blumen ...

»Was ist das?« fragte Johannes, »wie kommt es, daß er darüber spricht? kennt er dich? ist er dein Freund?«

Windekind schüttelte verächtlich das bekränzte Köpfchen.

»Er kennt mich nicht – ebensowenig wie die Sonne, die Vögel und die Blumen. Alles, was er sagt, ist Lüge.«

Die Menschen hörten ihm alle sehr aufmerksam zu. Die dicke Madam, die auf der Glockenblume saß, fing mehrmals zu weinen an und wischte sich, da sie ihr Taschentuch nicht zur Hand hatte, mit einem Zipfel ihres Kleides die Tränen aus den Augen.

Der bleiche Mann sagte, daß Gott ihrer Zusammenkunft zu Liebe die Sonne so lustig habe scheinen lassen; da lachte Windekind und warf ihm aus dem dichten Blätterwerk eine Eichel auf die Nase.

»Na, der soll aber mal anderen Sinnes werden,« sagte er, »als ob es meinem Vater einfallen würde, für ihn zu scheinen. Was der sich wohl einbildet!«

Allein der blasse Mann hatte sich viel zu sehr in Feuer geredet, als daß er die Eichel beachtet hätte, die aus der Luft herabzufallen schien – er sprach lange, und je länger desto lauter. Endlich ward er rot und blau im Gesicht, ballte die Fäuste und schrie so laut, daß die Blätter erzitterten und die Grashalme entsetzt hin und herschwankten.« Als er sich endlich beruhigt hatte, begannen alle wiederum zu singen.

»Pfui,« sagte eine Amsel, die sich von einem hohen Baum aus den Lärm mit anhörte. »Ist das ein abscheulicher Spektakel! Da ist es mir wahrhaftig noch lieber, wenn die Kühe in den Wald kommen. Pfui! Pfui!«

Nun, und die Amsel ist eine Kennerin und hat einen feinen Geschmack.

Nachdem der Gesang beendet, förderten die Menschen aus Körben, Tüten und Schachteln allerhand Eßwaren zutage. Es wurden Papiere ausgebreitet und Brötchen und Apfelsinen verteilt. Auch Flaschen und Gläser kamen zum Vorschein.

Darauf rief Windekind seine Bundesgenossen herbei und begann mit ihrer Hilfe die schmausende Gesellschaft zu belagern.

Ein tapferer Frosch sprang einer alten Jungfer auf den Schoß, dicht neben das Brötchen, das sie gerade verzehren wollte und blieb dort sitzen, gleichsam erstaunt über seine eigene Verwegenheit. Die Dame stieß einen markerschütternden Schrei aus und starrte den Angreifer entsetzt an, ohne daß sie den Mut gehabt hätte, sich auch nur zu rühren. Dieses mutige Vorbild fand alsbald Nachahmung. Grüne Raupen krochen unerschrocken über Hüte, Taschentücher und Brötchen und riefen allüberall Angst und Entsetzen hervor; große dicke Kreuzspinnen ließen sich an schimmernden Fäden in Bierseidel, auf Köpfe und auf Hälse hinunter, und ihr Angriff ward stets von lautem Geschrei begleitet; unzählige kleine Fliegen stürmten regelrecht auf die Gesichter der Menschen los und opferten ihr Leben für die gute Sache, indem sie sich auf Speisen und Getränke stürzten und sie durch ihren Körper ungenießbar machten. Endlich kamen auch die Ameisen in ungezählten Scharen herbei und griffen den Feind zu Hunderten und meist an denjenigen Stellen an, wo er es am wenigsten vermutete. Das verursachte Entsetzen und eine ungeheure Verwirrung. Eiligst sprangen Männer und Frauen von den allzu lange bereits zerdrückten Moos- und Graspflanzen auf; auch die arme kleine Glockenblume ward befreit, nachdem zwei Ohrwürmer einen wohlgelungenen Angriff auf die Beine der dicken Madam gewagt hatten. Die Verzweiflung wuchs: Tanzend und springend und unter den absonderlichsten Geberden versuchten die Menschen ihren Verfolgern zu entrinnen. Der blasse Mann bot lange Widerstand, während er mit einem schwarzen Stöckchen um sich schlug; allein ein paar mutwillige Meisen, die kein Angriffsmittel zu gering erachteten, und eine Wespe, die ihn durch seine schwarzen Hosen hindurch in die Waden stach, machten ihn kampfunfähig.

Da konnte die lustige Sonne nicht länger ernst bleiben: sie verbarg ihr Angesicht hinter einer Wolke. Große Regentropfen fielen auf die kämpfenden Parteien herab. Es war, als schösse durch den Regen plötzlich ein Wald von großen schwarzen Pilzen aus der Erde hervor. Das waren die Regenschirme, die aufgespannt wurden. Frauen schlugen die Kleider über den Kopf, so daß weiße Unterröcke, weiß bestrumpfte Beine und Schuhe ohne Absätze sichtbar wurden. O, wie sich Windekind amüsierte! Er mußte sich vor lauter Lachen an dem Blumenstengel festhalten.

Dichter und dichter strömte der Regen herab und begann den Wald bereits mit einem schimmernden grauen Schleier zu umhüllen. Dünne Wasserstrahlen rannen klatschend von Regenschirmen, Zylindern und schwarzen Röcken, die wie die Schilder des Wasserkäfers glommen, während sich die Stiefel in dem durchweichten Boden festsogen. Da gaben die Menschen es auf und zogen in kleinen Gruppen schweigend von dannen, während sie eine Menge Papier, leere Flaschen und Apfelsinenschalen als häßliche Spuren ihres Besuches hinterließen. Die Lichtung im Walde lag wiederum einsam da, und alsbald hörte man nichts mehr, als das eintönige Rauschen des Regens.

»So, Johannes, nun haben wir die Menschen gesehen. Warum lachst du sie nicht auch aus?«

»Ach, Windekind, sind denn alle Menschen so?«

»O, es gibt ihrer noch viel schlimmere und viel häßlichere. Oft rasen und toben sie und vernichten alles, was schön und herrlich ist. Sie fällen Bäume und bauen an ihrer Statt plumpe viereckige Häuser. Mutwillig zertreten sie die Blumen und töten zu ihrem Vergnügen jedes Tier, das in ihren Bereich kommt. In ihren Städten, wo sie dicht aufeinandergedrängt zusammenhocken, ist alles schwarz und schmutzig, und die Luft von Rauch und Gestank vergiftet und verpestet. Sie haben sich ihren Mitgeschöpfen und der Natur völlig entfremdet. Deshalb bilden sie auch solch eine traurige und lächerliche Figur, wenn sie zu ihr zurückkehren.«

»Ach, Windekind, Windekind!«

»Warum weinst du, Johannes? Du mußt nicht weinen, weil du bei Menschen geboren bist. Schau, ich habe dich ja lieb und ich habe dich auserkoren vor allen Andern. Ich habe dich gelehrt die Sprache der Falter und der Vögel und den Blick der Blumen zu verstehen. Der Mond kennt dich, und die gute, milde Erde hat dich lieb wie ihr teuerstes Kind. Warum solltest du nicht froh sein, da du doch mich zum Freunde hast?«

»O, Windekind, das bin ich ja, das bin ich wirklich. Aber trotzdem muß ich über all die Menschen weinen.«

»Warum? Du brauchst nicht bei ihnen zu bleiben, wenn dich das traurig macht. Du kannst hier wohnen und mir allzeit Gesellschaft leisten. Wir werden im dichtesten Walde hausen, in den einsamen sonnigen Dünen oder im Schilf am Ufer des Teiches. Allüberall werde ich dich hinführen, auf den Grund des Wassers zwischen die Algen, in die Paläste der Elfen und in die Wohnungen der Heinzelmännchen. Ich werde mit dir durch Wälder und Felder schweifen, nach fernen Ländern und über weite Meere. Ich werde dir von den Spinnen feine Gewänder weben lassen, und Flügel will ich dir geben, so wie ich selber sie trage. Von Blumendüften werden wir leben und mit den Elfen im Mondenlicht tanzen. Und wenn der Herbst kommt, dann werden wir mit dem Sommer ziehen, dorthin, wo die hohen Palmen wachsen, wo bunte Blütendolden über Felswände herabhängen und der dunkelblaue Meeresspiegel in der Sonne glitzert. Und immer und immerfort werde ich dir Märchen erzählen. Willst du das, Johannes?«

»Soll ich dann nimmermehr bei den Menschen wohnen?«

»Bei den Menschen harren Leid und Kummer, Langeweile, Sorgen und Mühsal deiner. Tagaus tagein wirst du dich quälen und unter des Lebens Bürde seufzen. Mit ihrer Grobheit werden sie deine zarte Seele verletzen und ihr wehe tun. Sie werden dich zu Tode foltern. Liebst du die Menschen denn mehr als mich?«

»Nein, nein, Windekind, ich will bei dir bleiben.«

Nun konnte er zeigen, wie sehr er Windekind liebte. Ja, er wollte um seinetwillen alle und alles verlassen, was er lieb hatte: sein Stübchen, Presto und seinen Vater. Freudig und fest entschlossen wiederholte er seinen Wunsch.

Der Regen ließ nach. Durch graues Gewölk erstrahlte das helle Lächeln der Sonne über dem Walde und auf den feuchtschimmernden Blättern und auf den Tropfen, die an jedem Zweiglein und an jedem Halme funkelten und die Spinngewebe zierten, die über dem Eichenlaube ausgespannt waren. Langsam stieg ein feiner Nebel aus dem feuchten Boden zwischen dem Buschholz auf, süße, traumschwere Düfte mit sich führend. Die Amsel flog jetzt in den höchsten Baumwipfel und grüßte die untergehende Sonne mit kurzen, lieblichen Weisen, gleich als wolle sie zeigen, welcher Sang zu dieser feierlichen Abendstille und zu der zarten Begleitung der fallenden Tropfen passe.

»Ist das nicht schöner als Menschenstimmen, Johannes? Ja, die Amsel versteht es wohl, den rechten Ton zu treffen. Hier ist alles Harmonie, so vollkommen wirst du sie bei den Menschen niemals finden.«

»Harmonie? Was ist das, Windekind?«

»Das ist genau dasselbe wie Glück. Es ist das, wonach alles strebt, auch die Menschen. Allein sie sind wie Knaben, die einen Schmetterling einfangen wollen, und verscheuchen sie durch ihre täppischen Bemühungen.«

»Werde ich sie bei dir finden?«

»Ja, Johannes, aber dann mußt du die Menschen vergessen. Bei den Menschen geboren zu sein, das ist ein böser Anfang. – Aber du bist noch jung – du mußt jede Erinnerung an dein Menschenleben verbannen. Bei ihnen würdest du irren und in Kampf und Not und Wirrsal geraten – es würde dir genau so ergehen wie dem jungen Maikäfer, von dem ich dir erzählte.«

»Was ist denn weiter noch aus dem geworden?«

»Er hat den leuchtenden Schein gesehen, von dem ihm der alte Käfer gesprochen: er glaubte nichts Besseres tun zu können, als schnurstracks dorthin zu fliegen. So flog er denn regelrecht in ein Zimmer und fiel in Menschenhände. Drei Tage lang ist er dort gefoltert und gequält worden – er hat in Pappschachteln gesessen – man hat ihm Fädchen an die Beine gebunden und ihn so fliegen lassen – dann hat er sich losgerissen und einen Flügel und ein Beinchen verloren – hilflos ist er dann auf einem Teppich umhergekrochen, und während er sich noch vergebens mühte, den Garten zu erreichen, hat ihn ein schwerer Fuß zermalmt.

»All die Tiere, Johannes, die in der Nacht umherirren, sind, ebensogut wie wir, Kinder der Sonne. Und wenngleich sie ihren leuchtenden Vater nimmer von Angesicht zu Angesicht gesehen, so treibt sie dennoch eine unbewußte Erinnerung hin zu allem, dem Licht entstrahlt. Und tausend und abertausend arme Geschöpfe der Finsternis finden durch diese Liebe zur Sonne, der sie so lange schon fern und entfremdet sind, einen jämmerlichen Tod. So stürzt eine unverstandene, unwiderstehliche Neigung die Menschen ins Verderben in den Trugbildern jenes großen Lichtes, das sie entstehen ließ und das sie nicht mehr kennen.«

Fragend blickte Johannes zu Windekind auf und schaute ihm tief in die Augen. Die aber waren unergründlich und geheimnisvoll wie der dunkle Himmel zwischen den Sternen. –

»Meinst du Gott?« fragte er endlich schüchtern.

»Gott?« – durch die tiefen Augen zuckte ein Lächeln. – »Ich weiß, an was du denkst, Johannes, wenn du diesen Klang aussprichst. An den Stuhl, der vor deinem Bett steht und an dem du Abend für Abend dein langes Gebet sprichst – an die einförmig grünen Vorhänge, die vor dem Kirchenfenster hängen und zu denen du an jedem Sonntag morgen so andächtig emporblickst – an die großen Buchstaben deiner Bibel – an den Klingelbeutel mit dem langen Stock – an häßlichen Gesang und muffigen Menschengeruch. Was du unter jenem Namen verstehst, Johannes, ist ein lächerliches Trugbild – statt der Sonne eine große Petroleumlampe, an der hunderte und tausende von kleinen Mücken hilflos festgeklebt sitzen.«

»Aber wie heißt denn das große Licht, Windekind? Und zu wem soll ich denn beten?«

»Johannes, das ist genau so, als wollte mich ein Schimmelpflänzchen fragen, wie denn die Erde heiße, die sich mit ihr herumdreht. Gäbe es eine Antwort auf deine Frage, so würdest du sie verstehen, wie ein Regenwurm die Musik der Sterne. – Doch beten will ich dich lehren.«

Und mit dem kleinen Johannes, der in stiller Verwunderung über diese Worte grübelte, flog Windekind aus dem Walde empor, so hoch, daß über den Dünen ein langer, funkelnder, goldener Streif sichtbar ward. Sie flogen weiter, die seltsam beschatteten Dünen glitten unter ihren Blicken hinweg und breiter und immer breiter ward der Lichtstreif. Die grüne Färbung der Düne schwand, fahl war das Schilf und dazwischen wuchsen wunderseltene mattblaue Pflanzen. Noch eine hohe Hügelkette, ein langgestreckter schmaler Sandstrich, und dann das weite, gewaltige Meer.

Blau war die ungeheure Fläche, bis an den Horizont, aber unter der Sonne leuchtete ein schmaler Streif in blendend rotem Glanze.

Ein langer flaumweißer Schaumrand umsäumte die Meeresfläche, so wie blauer Sammet von weißem Hermelin umsäumt wird.

Und am Horizont trennte eine wundersam zarte Linie Himmel und Wasser. Wie ein Wunder erschien sie: gerade und dennoch gebogen, scharf und dennoch unbestimmt, sichtbar und dennoch unerforschlich. Sie war wie der Ton einer Harfe, der lange und träumerisch nachklingt, der langsam hinzusterben scheint und der dennoch verweilt.

Da setzte sich der kleine Johannes auf den Rand der Düne und schaute – schaute in langem regungslosem Schweigen, bis es ihm war, als müsse er sterben, als täten sich die großen goldenen Tore des Weltalls feierlich auf und als schwebe seine kleine Seele dem ersten Lichtstrahl der Unendlichkeit entgegen.

Bis die Tränen, die in seine weitgeöffneten Augen emporquollen, die schöne Sonne umflorten und die Pracht des Himmels und der Erde langsam in eine düstere zitternde Dämmerung entschwanden ...

»So sollst du beten,« sagte Windekind.


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