Frederik van Eeden
Der kleine Johannes
Frederik van Eeden

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Am nächsten Morgen roch es in dem schmutzigen Saal des kleinen Gasthauses wiederum nicht nur nach frischem Kaffee und kaltem Rauch, sondern auch nach Moschus und Waldveilchen – und ein mit blauer Tinte geschriebener mattvioletter Brief erwartete Johannes. Er öffnete ihn und las das folgende:

»Mein sehr geliebter Seelenbruder!«

»Komm heute, sobald Du kannst, auf den Flügeln unserer Dichterfreundschaft zu mir. Gräfin Dolores ist gestern mit ihren Töchterchen und ihrer Dienerschaft abgereist, aber sie hat etwas für Dich hinterlassen, das Dir Freude machen wird und das ich Dir persönlich überreichen möchte.

»Sieh hier die erste zarte flaumige Frucht unserer Seelenwiedervereinigung:

Hymen mysticum

»An den kleinen Johannes

»Gar schwungvoll stattlich schwimmen unsere beiden
»Kohlschwarzen Seelen gleich Mysteriums-Schwänen
»Auf abgrundtiefer See von wilden Leiden,
»Voll herber, nie vergoss'ner Wehmutstränen.
»O größtes aller bittrer Meere!
»Entfaltend eure liliengleiche Qual,
»Schleppen wir durch Himmels Bahn, die hehre,
»Mit uns die Schmerzenslast vom Weltenall.

»Umschlinge, Bruder, mit dem Halse weich
»Den meinen, daß wir taumelnd uns noch wiegen,
»Wahnblinde Völker unsern Tang belauschen.

»Laß uns in faltenweicher Zartheit, gleich
»Den welken Lilien zärtlich uns umschmiegen,
»In Todesschluchzen selig uns berauschen.«

Sollte Deine Freundin dies nicht in Musik setzen können? Ich hoffe auch sie bald näher kennen zu lernen.

Dein Seelenverwandter

Walter v. L. t. E.

Kurhotel 8. Sept.                        (van Lieverlee tot Endegeest)

Ich möchte hier nun wohl gerne hinzufügen, daß Johannes den Brief und das Gedicht sofort Marion zeigte und daß er sich gemeinsam mit ihr darüber lustig machte. Aber leider läßt die Wahrheit das nicht zu. Und ich würde mich dessen, um meines kleinen Helden willen, euch gegenüber sehr schämen, wenn ich sicher wäre, daß keiner unter euch beim Lesen so naiv gewesen ist wie er, nämlich um es durchaus ernst zu nehmen und sogar in Zweifel darüber zu geraten, ob es nicht eigentlich ein wunderschöner Vers sei, wohl ein wenig zu hoch für seine Begriffe und daher auf den ersten Blick nicht ganz verständlich.

Sollte wirklich keiner unter euch so einfältig sein, darauf hereinzufallen? – Wirklich nicht? – Nun wohl, so wollet denn freundlichst in Betracht ziehen, daß Johannes noch gar jung war und daß die Zeiten inzwischen sehr fortgeschritten sind, dank den unermüdlichen und übereifrigen Bestrebungen unserer zahlreichen literarischen Beurteiler.

Johannes erwähnte das Briefchen nicht, sondern sagte nur, als er Marion kommen sah:

»Und was glaubst du wohl, wen ich gestern getroffen habe?«

Da kam plötzlich Leben in Marions schlaffe Züge. Klar und fest blickten ihre Augen Johannes unverwandt an.

»Markus«, sagte sie. Johannes nickte, und darauf sie wieder:

»Gott sei Dank, ich habe es mir gedacht. Ich hörte, daß die Arbeiter unweit von hier sich in den Kampf begeben, und da hatte ich gleich die Idee ... Jetzt wird sicherlich alles wieder gut werden.«

Darauf schwieg sie und aß ihr Brot befriedigten Blickes.

»Wann gehen wir? Ist's weit? Was hast du verabredet?« fragte sie darauf.

»Ich habe nichts verabredet«, antwortete Johannes, »aber ich will sogleich mit dir zu ihm gehen, es ist nicht weit.« Und mit erkünstelter Ungezwungenheit fügte er hinzu: »Ich muß nur noch rasch etwas im Hotel bestellen.«

»Ach Herrje, das wird wieder was Schönes werden,« brummte Marion vor sich hin.

Johannes traf Herrn van Lieverlee bereits im Park. Er stand auf dem Rasen, den Blick auf die Berge gerichtet, vor einem welkenden Ginsterstrauch und war in cremeweißen Flanell gekleidet; in der Brusttasche trug er ein mattviolettes Taschentuch. Mit der einen Hand stützte er sich auf den Spazierstock aus Ebenholz, mit der andern machte er rhythmische Bewegungen, während er Daumen und Zeigefinger aneinanderlegte und den kleinen Finger emporstreckte. Als er Johannes sah, grüßte er mit einem Kopfnicken und halb geschlossenen Augen, wie in schweigendem Einvernehmen.

»Superb, findest du nicht? ganz superb!«

Johannes wußte nicht recht, was er meinte, ob das Gedicht, das er ihm geschickt, oder die gegenüberliegenden Berge oder den wirklich sehr schönen Septembermorgen. Er wählte daher das landläufigste und sagte:

»Ja, das Wetter ist herrlich.«

Van Lieverlee sah ihn starr an, als wüßte er nicht sicher, ob er nicht etwa zum Narren gehalten würde, und sagte darauf langsam:

»Du scheinst für den Akkord: Weiß-Violett-Gelblich-Braun nicht sehr empfänglich zu sein.«

Und da Johannes für Farbenstimmungen gerade sehr empfänglich zu sein glaubte, schämte er sich, daß er den betreffenden Akkord nicht bemerkt hatte. Jetzt sah er ihn deutlich: den weißen Flanell, das violettfarbene Taschentuch, den gelblich-braunen, welkenden Strauch. Daß van Lieverlee sich selber in dieser Farbenskala mitzählte, erschien ihm als eine äußerst hohe Anschauungsweise.

»Ich war gerade damit beschäftigt, in Harmonie mit diesem Farbenakkord ein Poem zu machen,« sagte van Lieverlee, und fügte dann, als ihn Johannes ein wenig unsicher anblickte, hinzu: »Weißt du nicht, was ein Pantoem ist?«

»Nein, daß weiß ich nicht.«

»Aber mein Junge, und das will ein Dichter sein! Und was du heute morgen bekommen hast, weißt du denn vielleicht, was das ist?«

»Ein Sonett,« sagte Johannes stolz.

»Ah so! – Und fandest du das schön?«

Das war eine beklemmende Frage. Johannes wurde ganz verlegen. Aber es wollte ihm fast scheinen, als ob man unter Dichtern solche Fragen wohl stellen dürfe. So überwand er also das, was er für ein kindisches Empfinden hielt, und sagte: »Ich glaube, daß es wundervoll ist.«

»So, glaubst du das? – Nun, ich weiß es. – Wir brauchen daraus unter uns kein Geheimnis zu machen. Was gut ist, das nenne ich gut, ob ich es gemacht habe oder ein anderer.«

Das erschien Johannes sehr einleuchtend und sehr aufrichtig. Nun, da er wieder bei van Lieverlee war und ihn mit solcher Bestimmtheit und so leichtflüssig und gewandt reden hörte – jetzt erschien er ihm wieder durchaus nicht lächerlich, sondern im Gegenteil sehr vornehm und bewundernswert. Er wußte, daß Marion darüber ganz anderer Ansicht sein würde, aber sein Vertrauen in ihr Urteil nahm ab, je mehr sein Zutrauen zu van Lieverlee wuchs.

»Ich habe etwas für dich, Johannes, worüber du dich wahrhaftig wohl freuen kannst,« sagte van Lieverlee, während er aus einem eleganten rotledernen Taschenbuch, das köstlich nach Juchten duftete, einen mit blauem Lack versiegelten und mit einer Krone geschmückten kleinen Brief zum Vorschein holte.

»Gräfin Dolores hat ihn eigenhändig geschrieben und ich weiß, was darin steht. Lies ihn mit Ehrfurcht.«

Und bevor van Lieverlee ihm den Brief überreichte, führte er ihn mit einer theatralischen Gebärde an die Lippen. Johannes schalt sich selber einen plumpen Lümmel, weil er wohl fühlte, daß er nicht imstande sein würde das jemals nachzumachen.

In dem Brief lud die Gräfin Johannes sehr kurz, aber freundlich ein, in einiger Zeit, wenn sie mit ihren Kindern nach England in ihr Landhaus zurückgekehrt sein würde, zu ihr zu Besuch zu kommen. Auch lag in dem Brief ein schönes Papier, so wie Johannes noch niemals eines gesehen hatte. Das bedeutete Geld.

»Wie gut von ihr!« rief er hocherfreut. Das war eine große Ehre für ihn. Indessen er dachte sofort an Markus und an Marion und an Keesje. Wie das wohl alles gehen würde? Aber irgend ein Ausweg mußte gefunden werden: eine Weigerung war unmöglich.

»Nun? »sagte van Lieverlee, »du scheinst dich nur halb darüber zu freuen. Oder kannst du es noch nicht glauben? Aber, wirklich, ich scherze nicht.«

»Nein, nein, das weiß ich wohl,« sagte Johannes.

»Dein Freund darf mit, das weißt du ja ... oder will er nicht?«

»Ich habe ihn noch nicht gefragt,« antwortete Johannes, »denn Sie müssen wissen ... wir haben nun endlich – wir haben ihn gefunden ...«

»Was meinst du? Wovon redest du denn eigentlich? Sprich dich offen aus, mein Junge, vor mir brauchst du keine Geheimnisse zu haben.«

»Es sind auch keine Geheimnisse, Herr van Lieverlee,« stammelte Johannes in größter Verlegenheit.

»Nun, und warum stotterst du denn so? und warum sagst du »Herr van Lieverlee?« Habe ich dir nicht meinen Namen geschrieben? oder nimmst du meine Brüderschaft etwa nicht an?«

»Ich will Ihre Brüderschaft gern annehmen. Aber ich habe noch einen Bruder, den ich sehr, sehr lieb habe. Der war es, den wir suchten, mein Kamerad und ich. Und jetzt haben wir ihn gefunden.«

»Einen richtigen, ganz gewöhnlichen Bruder?«

»O nein,« sagte Johannes, und fügte dann nach kurzem Zögern leise, aber nachdrücklich hinzu: »... Es ist ... Markus ... wissen Sie, wen ich meine?« –

»Markus? – Wer ist Markus?« fragte van Lieverlee beinahe ungeduldig, gleich als wisse er davon nicht das allergeringste.

»Wer er ist, das weiß ich nicht,« sagte Johannes enttäuscht. »Ich hoffte, daß Sie es wissen würden, weil Sie so klug sind und schon so viel gesehen haben.«

Und er erzählte, was ihm widerfahren, nachdem er an der Seite der dunklen Gestalt den Weg eingeschlagen habe zu der Stadt, wo die Menschheit wohnt und ihr Weh.

Van Lieverlee hörte ihm zu, anfangs ein wenig ungläubig und ungeduldig vor sich hinblickend, während er von Zeit zu Zeit einen prüfenden Blick auf Johannes richtete. Endlich lächelte er.

»Es ist ganz klar, wer das ist,« sagte er darauf langsam und entschieden.

»Wer denn?« fragte Johannes in atemloser Spannung. »Nun, natürlich ein Mahatma, ein Mitglied der heiligen Brüderschaft aus Tibet. Den werden wir zweifellos auch in die Plejaden einführen. Dort wird er sich heimisch fühlen.«

Das alles klang außerordentlich erfreulich und beruhigend. Sollte denn jetzt wirklich das große Rätsel gelöst sein? Und alle Schwierigkeiten beseitigt?

»Aber,« sagte Johannes zögernd, »Markus fühlt sich eigentlich nur unter armen und geringen Menschen wohl, unter Arbeitern und fahrendem Volk. Er selbst sieht auch ganz wie ein Arbeiter aus ... beinahe wie ein Landstreicher ... so arm! so arm! Ich kann es noch immer nicht mit ansehen, ohne daß ich weinen möchte. Ganz anders wie Sie. Ganz anders!«

»Das tut nichts, das will nichts heißen,« sagte van Lieverlee, indem er ungeduldig den Kopf schüttelte, »das ist Vermummung.«

»Aber Sie finden doch auch,« sagte Johannes zaghaft, während er mit sichtlicher Anstrengung fortfuhr: »... Aber du findest es doch auch, nicht wahr, Walter, daß die Armen unterdrückt werden, und daß der Reichtum ungerecht ist?«

Van Lieverlee warf den Kopf in den Nacken und beschrieb mit dem rechten Arm eine breite Geste.

»O, mein bester Junge, in dem Punkt kannst du mich nichts lehren. Ich war schon Sozialist, ehe du zu denken anfingst. Natürlich! welcher gutherzige Mensch beginnt denn nicht mit solchen kindlichen Vorstellungen! Die Armen werden betrogen und die Reichen sind schlecht. Das weiß heutzutage jeder Zeitungsbengel. Aber wenn man erst ein wenig älter und klüger geworden ist, und wenn man anfängt, die Dinge vom esoterischen Standpunkt aus anzusehen, dann ist die Sache so einfach nicht.«

Na ja, natürlich, dachte Johannes. So wie Markus die Sache erklärte, war sie auch viel zu einfach, um wahr zu sein.

»Vergiß nicht,« begann van Lieverlee dann von neuem, »daß wir alle mit einem eigenen Karma zur Welt kommen. Daran läßt sich nichts ändern. Ein jeder muß seine Vergangenheit mit sich tragen und für sie büßen oder durch sie genießen. Wir alle bekommen eine Aufgabe mit, die wir zu vollenden haben. Die Armen und Unterdrückten haben ihr trauriges Los dem unvermeidlichen Ergebnis früherer Handlungen zuzuschreiben, und ihre Prüfungen sind das beste Mittel, um sie zu läutern und von der Sünde zu reinigen. Andere hingegen sehen ihren Lebensweg lichter und geebneter vor sich, weil sie den schwersten Kampf schon hinter sich haben. Natürlich empfinde ich tiefes Mitleid mit dem unglücklichen Proletarier, aber darum darf ich mich doch unter keinen Umständen zu seinem jämmerlichen Zustand erniedrigen. Die Leitung der Welt will ihn dort und mich hier, jeden von uns auf seinem Posten. Er bedarf noch des materiellen Elends, um klüger zu werden, ich aber nicht mehr, weil ich in früheren Inkarnationen schon genug gelernt habe. Meine Aufgabe besteht darin, die Schönheit zu erhalten und sie zu steigern und zu verfeinern. Dazu bin ich ausersehen, und darum bin ich an einen bevorzugten Platz gestellt. Ich bin ein Wächter in der heiligen Domäne der Kunst. Die muß rein und unversehrt bleiben in dem großen häßlichen Wirrwarr von groben schmutzigen und gefühllosen Gesellen, die die Mehrzahl der Menschheit ausmachen. Diese Schönheitskultur, das ist mein geweihter Beruf. Ihr muß ich mich hingeben in allen Dingen und zu allen Zeiten. Schönheit! Schönheit! in höchster Verfeinerung, beim Aufstehen und beim Schlafengehen, in Stimme und Bewegung, in Nahrung und Kleidung, das ist mein Dasein – und an dem gemessen muß ich alles andere als untergeordnet erachten.«

Er hielt diese Rede mit großem Pathos, während er langsam über das kurz geschnittene weiche Gras schritt und die Kadenz der sorgsam gewählten Sätze mit breiten Taktschlägen des Spazierstockes aus Ebenholz begleitete.

Johannes war gänzlich überzeugt. So sehr sogar, daß er darin nichts anderes zu hören glaubte als eine Ergänzung dessen, was ihn Markus bisher gelehrt hatte.

Ja, jetzt durfte er zu seinen Kindern gehen. Er wußte es sicher, Markus würde es gut heißen.

»Ich wünschte nur, Marion könnte Sie mal hören,« sagte er.

»Marion, ist das dein kleiner Kamerad? Nun, und warum kommt er denn nicht? Alle Wetter, da fällt mir eben ein, das war ja wohl ein Mädchen? Sag mir mal, wie ist das eigentlich zwischen euch Beiden?«

Van Lieverlee stand still, blickte Johannes forschend an und zupfte an seinem kleinen hellblonden Bärtchen.

»... Findest du eigentlich nicht, Johannes,« sagte er dann endlich mit gedehnter Stimme und vielsagendem Lächeln, »findest du nicht, daß ihr ein wenig sehr – ich will mal sagen ... ein wenig voreilig seid? ...«

»Wie meinen Sie das?« fragte Johannes, während er ihm ohne Arg gerade ins Gesicht schaute.

Wieder blickte van Lieverlee ihn an, gleich als wolle er ihn fragen, ob er ihn etwa zum Narren halte.

»Du bist aber ein pfiffiger Kumpan, Johannes, und kannst dich merkwürdig gut verstellen. Aber bei mir brauchst du dir wirklich diese Mühe nicht zu machen. Ich gehöre nicht zu den beschränkten alltäglichen Menschen. Solcherlei Dinge bedeuten für mich gar nichts, nicht einmal so viel wie ein dürres Blatt. Das hat gar nichts zu sagen; aber ich wollte dich nur an die Schwierigkeiten erinnern. Wir dürfen unsern esoterischen Standpunkt nicht verraten. Es gibt zu viele, die nichts davon verstehen und uns allerlei Unannehmlichkeiten bereiten würden. Gräfin Dolores zum Beispiel ist in dieser Beziehung noch sehr rückständig.«

Von dieser ganzen Ansprache begriff Johannes so gut wie gar nichts. Er fürchtete aber für sehr dumm gehalten zu werden, wenn er es zeigte. Und so antwortete er denn nur ganz im allgemeinen:

»Ich werde mir alle Mühe geben.«

Van Lieverlee lachte laut auf und Johannes lachte mit, froh, weil er etwas Drolliges gesagt zu haben glaubte. Dann nahm er Abschied und suchte Marion auf, um sich mit ihr zu den Bergleuten zu begeben.


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