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So verließ denn der kleine Johannes seinen Geleiter und seine Freundin und ging, um ein schöneres Menschenleben und eine edlere Menschenwelt zu suchen.
Er tat es jetzt nicht mehr leichtfertig, so wie er einst seinen Vater und alsdann Windekind verlassen hatte, auch nicht halb gezwungen, so wie er »Bredebest« den Wohnwagen der Kirmesleute hatte vorziehen müssen.
Jetzt handelte er seiner Ansicht nach vollkommen freiwillig, und zwar nicht aus Leichtsinn, sondern aus Überzeugung. Man würde meinen, nicht wahr, daß er schon ein ganzes Stück vorwärts gekommen war? und so dachte auch er.
Er entsann sich auch sehr wohl des ersten Gespräches über Erinnern und Vergessen, das er während des Gewitters mit Markus geführt hatte. Indessen wollte ihm das, was er jetzt tat, nicht als Untreue erscheinen. Er verließ Freunde, aber er folgte dem, was er für die Stimme seines liebsten Freundes hielt; und so hatte Markus es ihn gelehrt.
Er mußte den Menschen helfen ihr Weh zu bekämpfen, dazu war er fest entschlossen. Aber zu allererst mußte er auch selber ein guter Mensch werden, und darin stimmte er mit van Lieverlee vollkommen überein, daß ein guter Mensch auch ein schöner Mensch sein und ein schönes Leben führen müsse.
Aber einem schönen Menschen glich er bisher noch viel zu wenig. An seinem Gesicht konnte er vorläufig nicht viel ändern; er hatte die unbestimmte Vorstellung, daß das recht häßlich sei. Um so mehr Sorgfalt mußte er daher auf seinen Anzug verwenden. Jede Blume, jeder Vogel sah besser aus als er. Seine Mütze und sein Kittel waren von schlechtem Schnitt und außerdem verregnet und verschossen, seine Schuhe unförmig und mit schief getretenen Absätzen. Der Gedanke, daß er in solchem Aufzuge zu einer Gräfin zu Besuch gehen und neben van Lieverlee erscheinen müsse, drückte ihn schwer.
Zum Glück hatte er nun ein wenig Geld. Zwar nicht viel, denn er mußte davon reisen, aber etwas konnte er sich wohl trotzdem noch anschaffen. Und für Johannes ward es ein lange währendes und schweres Nachdenken, was er nun wohl am besten taufen solle, um sich mit möglichst geringen Kosten möglichst hübsch auszustaffieren.
Die erste Anschaffung bestand in einem weißen gestärkten Vorhemd und einer fertig gebundenen Krawatte – einer schwarzen – denn an Farben wagte er sich nicht heran, des wundervollen Halsschmuckes eingedenk, den van Lieverlee zu tragen pflegte. Zu dem Vorhemd kaufte er sich ein paar Knöpfe mit grünen Steinchen, die aus Glas waren und Smaragden vorstellen sollten. Die Knöpfchen brauchte er zwar nicht, denn das Vorhemd wurde hinten geschlossen, aber ihr bescheidenes Glitzern sollte für Johannes' guten Willen, äußerlichen Schmuck zu pflegen, beredtes Zeugnis ablegen. Ferner kaufte er sich einen steifen Hut, einen Mantelkragen und ein Paar neue Stiefel. Daß diese letzteren ihn drückten, ertrug er gern, und er freute sich über den Geruch von frischem Leder, den sie verbreiteten, und über ihr lautes Krachen. Anfangs krachten sie gar nicht, zu seiner größten Enttäuschung. Aber nach ein paar Stunden, jawohl, da begannen sie zu knarren und zu krachen, als wollten sie so recht zu verstehen geben, daß künftighin ein erhabeneres Leben in einer schönen Menschenwelt gelebt werden sollte.
Und endlich ... Glacéhandschuhe. Aber die wagte er nicht zu tragen als er sie einmal hatte. Ebensowenig aber mochte er sie auslassen, denn sie hatten sehr viel Geld gekostet, und das durfte doch nicht nur so mir nichts dir nichts hinausgeworfen sein. Daher endete er damit, daß er einen trug und einen in der Hand behielt, und er glaubte sich zu erinnern, daß dies auch in der Tat der Mode entspreche.
Ein kleiner Reisekoffer erschien ihm jetzt noch als das höchste Ideal, als der Gipfel aller Vornehmheit, aber er besaß nichts, was er hätte hineinlegen können: den nötigen Inhalt dazu zu kaufen, daran konnte er nicht denken, und ihn nur zum Schein mitzunehmen, das widersprach seinem Empfinden von Ernst und Ehrlichkeit doch allzusehr. Die alte Tasche von Tante Serena hinterließ er Marion.
Der Abschied war ihm nicht schwer, o nein, so gänzlich erfüllt war er von dem schönen Leben, das seiner wartete. Noch niemals hatte er so die volle Überzeugung gehabt, daß er auf dem rechten Wege wandle und daß das, was er tun wollte, gut sei.
Markus hatte gefügt, das Frohe und Glückliche sei auch das Gute, das wir suchen müssen. Und jetzt fühlte sich Johannes so froh und so leicht, wie nie zuvor, seitdem er Windekind verlassen. Sollte das denn nicht bedeuten, daß er auf dem guten Wege war?
Und welches war denn die Stimme des Vaters, von der Markus sprach, so nicht diese innere Freudigkeit? Es war doch keine gewöhnliche hörbare Stimme, die einen Laut von sich gab und holländisch oder irgend eine andere Sprache sprach. So stand es zwar in der Bibel geschrieben, aber so war es jetzt nicht. Dann mußte es also wohl dies Gefühl sein, dies Gefühl der Freude und der glücklichen Erwartung, das ihn jetzt gänzlich erfüllte.
Seht ihr nun wohl, daß Johannes Fortschritte gemacht hatte? Ich glaube nicht, daß ihr besser hättet urteilen können als er. Und wenn ihr nicht in die Patsche geraten wäret, so wie er, so würde das jedenfalls mehr Glück als Verstand gewesen sein.
Van Lieverlee hatte anfangs versprochen, daß er ihn begleiten wolle. Im letzten Augenblick aber schrieb er ab, ohne zu sagen, aus welchem Grunde, und ließ Johannes allein ziehen.
In einem Waggon dritter Klasse fuhr er, still in eine Ecke gedrückt, durch die fremden Lande zu den fremden Menschen. Er war ruhig und zufrieden, weil er zu den beiden Kindern ging. Das war ihm ebenso, als reise er in das elterliche Heim. Wo die lieben schönen Seelen weilten, da war seine Heimat. Die Menschen dieses fremden Volkes betrachtete er voller Interesse. Sie schienen ihm weniger grob und plump, und weniger häßlich als seine eigenen Landsleute. Sie waren so viel fröhlicher und manierlicher und auch viel zuvorkommender untereinander. Johannes war eifrig bemüht, an dieser allgemeinen Höflichkeit teilzunehmen, so oft es eben anging. Aber da er die fremde Sprache nicht beherrschte, saß er zumeist in freundlicher Stimmung, in den Mantelrock gehüllt, in seinem Eckchen, und hörte auf die lebhafte Unterhaltung rings umher, die unter lautem Gelächter in dem rüttelnden und schüttelnden Wagen geführt wurde.
Während der Nacht schlief er wiederum auf der ledergepolsterten Bank eines Schiffes. Jetzt aber nicht auf dem flachen Rhein, sondern auf dem gewaltigen wogenden Meer. Rings um ihn her waren lauter Menschen, mit denen er nichts zu schaffen hatte. Nur sein Nachbar auf der Lederbank ersuchte Johannes, er möge ihm doch nur ja nicht gegen den Kopf stoßen. Da lag er weiter so still und so klein wie nur irgend möglich.
Um Mitternacht blickte er auf und sah sich in der Kajüte um, nicht wissend, ob er denn wirklich geschlafen habe.
Die Menschen lagen ruhig, einzelne gaben komische Laute von sich, die meisten aber schienen zu schlafen. In dem Raum hing ein Halbdunkel; geheimnisvoll schaukelten die Lampen hin und her, und die Blattpflanzen auf dem Tisch schwankten und zitterten. Überall hörte man dumpfes Krachen und Klirren, während die Maschinen stampften und dröhnten. Draußen rauschte und klatschte das Seewasser gegen die Flanken des rastlos weiterkeuchenden Schiffes.
Am Tisch saß ein einziger Passagier, eine lange dunkle Gestalt, unbeweglich, den Kopf in die Hände gestützt.
Johannes blickte ihn aufmerksam an. Er schien einen erstaunlich weiten faltenreichen Mantel zu tragen, und auf dem Kopf einen breiten Filzhut. Die eine Hand, die Johannes zu unterscheiden vermochte, schien sehr weiß und hager.
Wie kam es, daß ihm der Mann so bekannt erschien? Dem Johannes war es, als müsse er sogleich eine bekannte Stimme vernehmen. Er dachte an Markus ... dann an seinen Vater ...
Da plötzlich fiel die magere Hand schlaff herab, und das Gesicht wandte sich Johannes zu.
Nur der weiße Bart kam dadurch in den Lichtkreis: alles übrige blieb im Schatten des breitrandigen Hutes.
Da erkannte ihn Johannes.
»Freund Hein«, sagte er, und ihm war nicht im mindesten bange.
»Guten Tag, Johannes«, sagte der Tod, und nickte.
Um wie viel freundlicher sieht er jetzt doch aus, um wie viel menschlicher! dachte Johannes bei sich. Kein Knochenmann mit einer Sense, nein, viel eher ein lieber, alter, sehr sehr alter Mann.
»Was machst du denn hier?« fragte Johannes.
»Geschäfte«, antwortete der Tod trocken. »Werden wir Schiffbruch erleiden?«
Johannes zog diese Schlußfolgerung, ohne sich besonders zu ängstigen: vielmehr wollte es ihm als ein interessantes Abenteuer erscheinen.
»Nein, nein«, sagte der Tod, »möchtest du das so gerne?«
»Ich möchte es nicht, aber ich fürchte mich auch nicht davor.«
»Das letzte Mal, Johannes, batest du mich doch, ich möge dich mitnehmen.«
»Jetzt würde ich dich nicht darum bitten. Das Leben fängt nun erst an schön zu werden.«
»Fürchtest du dich denn jetzt nicht vor mir, Johannes?«
»Nein, denn du siehst jetzt so viel freundlicher aus.«
»Ich bin auch freundlich, Johannes. Je mehr du dich bemühst, schön zu leben, desto freundlicher werde ich.«
»Aber wie kommt das denn, Freund Hein? Ich würde gerade denken, je schöner das Leben, desto schwerer das Scheiden.«
»Es muß die rechte Schönheit sein, Johannes, die rechte Schönheit.«
»Dann suche ich jetzt doch sicherlich nach der rechten Schönheit, daß du mir um so viel freundlicher erscheinst, nicht wahr?«
»Wohl suchst du sie, Johannes, aber gib acht, daß du sie auch findest. Hüte dich! hüte dich! Wenn ich wiederkomme, möchte ich so recht zufrieden aussehen, und dafür mußt du sorgen, mein lieber Johannes.«
»Wie denn, Freund Hein? wie soll ich denn die rechte Schönheit erkennen? wie kann ich denn dafür sorgen, daß du zufrieden aussiehst, wenn du wiederkommst?«
Allein der Tod wandte sein bleiches Antlitz wieder ab. schüttelte flüchtig den Kopf und blieb unbeweglich und schweigend dasitzen.
Nochmals redete Johannes ihn fragend an – aber es half nichts. Da ward sein Kopf wieder dumpf und seine Augen schwer, und alles verschwand in einem Schleier von Schlaf, während sein Lager dröhnend und zitternd hin- und herschwankte.
Als er am folgenden Morgen hinaufkam, sah die Welt wieder hell und lustig aus. Wärmend beschien die Sonne das Deck, das frische blaue Meer glitzerte im Licht, und da vor ihm lag das fremde Land wie eine endlos lange Reihe mattgrauer Küsten, die sich in der Oktobersonne wärmten. Kleine Häuser sah Johannes auf den Hügeln stehen, und er gedachte des ganzen kleinen Lebens, das sich in jenen Häuschen abspielte, des Lebens mit Zubettgehen und Aufstehen, mit Ankleiden und Essen und Zurschulegehen – alles so alltäglich und so klein dort, wo für ihn alles so fremd und groß war.
Sie fuhren einen breiten Fluß hinauf, der noch viel, viel breiter war als der Rhein. Kreischend flogen die Möwen über das gelbliche Wasser und strichen dann rastend auf die Sandbänke und die glitschigen Ufer nieder. Hierhin und dorthin lavierten die Fischerboote rings um sie her, und unzählige Schiffe und Dampfer kamen ihnen entgegen.
Endlich tauchte in der Ferne eine riesenhafte Stadt auf, gänzlich in Nebel gehüllt, mit einem dunklen Wirrwarr von Schiffstakelagen, Fabrikschornsteinen und Türmen. Düster, gewaltig, unbegreiflich.
Wäre Johannes nicht so ganz von dem Gedanken an seine beiden Kinder erfüllt gewesen, so würde er der Stadt sicherlich größere Andacht gewidmet haben. So aber nahm er sie nur flüchtig wahr, wie einen unerwarteten Schatten, dessen Herkunft man nicht begreift, wie eine unheilkündende Ahnung, wie das Schwanken des Bodens vor einem Erdbeben – einen Augenblick später ist der Schrecken vorüber und man glaubt nicht mehr daran.
So vergaß auch Johannes die große Stadt und die Bergleute und alles andere, sobald er die Stimmen seiner beiden süßen Mädchen hörte.
Sie wohnten in einem Landhause, das Johannes wunderbar erschien wie ein kleiner Palast. Es war aus rotem Backstein und grauem Sandstein erbaut und stand auf einem Hügel, in unmittelbarer Nähe der Meereslüfte. Im Garten wuchsen dunkle Cedern und Steineichen und große Mengen Rhododendron. Das Gras war kurz geschnitten und glatt, so glatt wie grüner Sammet, und mitten hindurch zogen sich die sauber gehaltenen gelben Kiespfade.
Es war kein leichter Tag für Johannes und längst nicht so schön, wie er ihn sich gedacht hatte.
Von einem Lakaien abgeholt zu werden, wenn man ohne Koffer aus einem Coupé dritter Klasse steigt, das war kein Vergnügen. Solcherlei Prüfungen hatte Johannes noch niemals bestanden.
Im Hause herrschte eine vornehme Stille. Die Kinder hatten Unterricht und ließen sich während der ersten Stunde nicht blicken. Johannes bekam einen bangen Eindruck von überwältigender Pracht und beklemmender Vornehmheit, von der er selber gar lächerlich abstach. Er wünschte nur, daß er niemals hierher gekommen wäre, und seine hoffnungsfrohe und übermütige Stimmung war mit einem Schlage geschwunden. Er stolperte über weiße Bärenfelle und lief gegen eine Glastüre, in der Meinung, daß sie offen sei: wie eine Hummel hinter einer Fensterscheibe. Er dachte darüber nach, wie er wohl am schnellsten wieder von hier fortkommen könne und wünschte sich bloß, daß er doch noch bei Markus in der kleinen Wirtsstube sei. Vom Weinen war er nicht allzuweit mehr entfernt.
In einem kleinen Salon lag die Gräfin vor einem leise knisternden Kaminfeuer auf einem breiten Diwan. Johannes ging mit großen Schritten auf sie zu und machte eine linkische Verbeugung. Eine ganze Menge Hündchen, es mochten ihrer etwa sieben sein, umringten ihn kläffend. Er dachte an sein Vorhemd und die grünen Glasknöpfe, und daß sie hier in dieser Umgebung sicherlich durchaus keinen eleganten Eindruck machen würden. Die Gräfin blickte ihn an, gleich als entsinne sie sich nicht mehr so recht, wer er sei, und wozu er eigentlich käme.
»Setz dich,« sagte sie auf englisch mit müder Stimme und einem gekünstelten Lächeln. »Ich hoffe, daß du eine gute Reise gehabt hast.«
Johannes setzte sich und bemerkte erst jetzt, daß noch jemand in dem Zimmer war; und vor diesem Jemand versuchte er sich zu verneigen, was indessen nicht bemerkt wurde. Das war eine sehr imposante Persönlichkeit. Sie lag in einen Fauteuil zurückgelehnt und trug so viel weiße Spitzen, Schwanenpelz und Tüll, daß sie noch viel größer und dicker erschien, als sie in Wirklichkeit war. Auf ihrem Kopf prangte ein riesenhafter Hut, mit lebensgroßen Pflaumen und Pfirsichen, künstlichen blauen Blumen – Vergißmeinnicht und Kornblumen – und einem blauen Gazeschleier verziert. Ihr Gesicht war groß, von Natur hochrot, aber durch viel Puder zu einem Mattrosa gedämpft und mehr oder weniger bärtig. Ihre dicken roten Händchen waren steif vor Juwelen, und trotzdem es durchaus nicht warm war, fächelte sie sich unaufhörlich mit einem großen Fächer aus weißen Straußenfedern, auf dem grüne und violettfarbene Edelsteine funkelten. Die sonderbarsten Ziergegenstände aus Gold und Silber, kleine Schweinchen, Herze, Kreuze und Münzen hingen ihr an langen, vielschnürigen Ketten in einem dicken Bündel auf den Busen herab. Ein dünner Krückstock mit goldenem Griff stand neben ihrem Stuhl, und auf dem Tischchen saß, dicht neben ihrer Hand, ein kleiner grüner Papagei und aß Trauben. Die sieben Hündchen, die sämtlich weiß waren und hellblaue Schleifen auf dem Kopf trugen, gehörten augenscheinlich ihr, denn sie umringten sie in drohendem Kreis wie Wächter und blickten voller Bosheit auf die Beine des Johannes.
»Was will der Junge hier?« fragte sie mit dröhnender Stimme, ohne sich auch nur nach Johannes umzusehen; und bevor sie noch eine Antwort erhalten hatte, rief sie laut: »Alice!«
Sogleich kam, wie auf der Bühne, hinter einer schwerfälligen Portiere eine elegante Kammerzofe zum Vorschein, schwarz gekleidet, mit blitzend weißen Manschetten und einer weißen Haube; die schwebte geräuschlosen Schrittes herbei und reichte der großen Dame ein Riechfläschchen, an dem diese eifrig zu schnauben begann.
Johannes war tödlich verlegen. Er fühlte, daß dieses kostbare Riechfläschchen aus Kristall auf ihn gemünzt war. Das rief mit der glitzernden Sprache seiner unzähligen geschliffenen Facetten: »Du stinkst nach der dritten Klasse!«
Wie gelähmt saß er da und blickte auf die Flasche, und heimlich wünschte er, daß es eine Dynamitbombe sein möge, die ihn und das schöne Haus und all seine schönen Illusionen alsbald in die Luft sprengen würde. Da kam ihm Gräfin Dolores zu Hilfe.
»Meine liebe Lady Crimmetart,« sagte sie mit ihrer einschmeichelndsten Stimme, »dies ist ein sehr interessanter junger Mann, äußerst interessant sogar. Es ist ein junger Dichter, der seine eigenen Kompositionen singt. Nicht wahr, Johannes? Und so reizend wehmütig, wirklich allerliebst. Sie müßten es bloß mal hören, liebe Freundin, ich weiß sicher, daß es Ihnen gefallen würde.«
»Wirklich?« sagte die grobe Stimme, und das unheimlich große Gesicht mit den blauen hervorquellenden Augen blickte Johannes an. »O ja, Lady Crimmetart, aber das ist noch nicht alles. Johannes ist auch ein Medium, ein Sensitiver, der allerhand Elementare sehen kann, oft sogar bei hellerlichtem Tage: nicht wahr Johannes?«
Johannes fühlte sich so bedrückt und gequält, daß er nur resigniert zu nicken vermochte.
»Wirklich?« sagte Lady Crimmetart nochmals mit einer Stimme, die klang wie die eines Schiffskapitäns bei stürmischem Wetter. »Dann muß er nächsten Sonnabend zu meiner Gesellschaft kommen.«
»Hörst du es, Johannes? – das ist eine große Ehre für dich. Lady Crimmetart ist eine der klügsten Frauen der Welt, und in ihrem Salon versammelt sich die Elite des intellektuellen England.«
»Junger Mann,« sagte Lady Crimmetart, »ich werde dich mit Ranji-Banji-Singh von der Universität Benares, dem großen Philosophen, und mit Professor von Pennewitz aus Moskau bekannt machen.«
Man kann sich leicht denken, was für ein herrlicher Ausblick sich da dem kleinen Johannes eröffnete. Aber Lady Crimmetart bat nicht; sie befahl. Es schien sich daran nichts ändern zu lassen.
Da kam eine zweite Zofe, ebenso zierlich und behende und geräuschlos wie die erste, und servierte Tee mit dünnen Butterbrötchen und heißem Gebäck. Erregt paßte Johannes auf, wie man damit wohl umgehen müsse, und versuchte es ebenso zu machen, warf aber natürlich unter dem kühlen beobachtenden Blick der zierlichen Zofe die Milchkanne um.
»Der Bischof kommt auch,« sagte Lady Crimmetart nach einer Weile, »der Engel!«
Johannes glaubte, daß er in dieser Abendgesellschaft sicherlich die Mitra und den Krummstab zu sehen bekommen würde und mußte unwillkürlich an St. Nikolaus denken.
Darauf unterhielten sich die Damen über kirchliche Angelegenheiten, über Abendmahl und Altar, über die Wahlen und die Ein- und Ausfuhr-Gesetze, bis er ihnen nicht mehr zu folgen vermochte. Endlich wurde dann Alice wiederum gerufen, der Wagen bestellt, die Riechflasche in einen großen Beutel gesteckt, die sieben Hündchen wie Perlen an einer langen blauseidenen Schnur aufgereiht, und so entfernte sich der Zug, während der Papagei auf der Schulter der Kammerzofe saß.
An der Tür wandte sich die große Dame, deren Gang ein wenig gichtisch zu sein schien, nochmals um und brüllte Johannes zu, während sie sich noch immer befächelte: »Pünktlich kommen, hörst du wohl, und vergiß dein Instrument nicht!«
»Eine Frau aus Millionen,« sagte Gräfin Dolores, nachdem sie gegangen war. »Ist sie nicht eine wundervolle Frau. Johannes? So gut und so klug.«
»Ja, ja,« sagte Johannes gehorsam, während er voller Angst an das Instrument dachte, das er mitbringen sollte.
Da endlich, endlich hörte er ein lebhaftes Gezwitscher hoher Stimmchen und leichte Füßchen, die durch das stille Haus eilten.
Sein Herz begann laut zu klopfen. Da öffnete sich die Tür, und nach wenigen Sekunden fühlte er, wie ihn die sanften teuren Händchen berührten, hörte er, wie ihre lebhaften hohen Stimmchen auf ihn eindrangen.
Das gab Trost.
Und als sie ihn mit hinauszogen und er mit ihnen im frischen Abendwind über die grünen Klippen am weiten Meere entlang wanderte, an jedem Arm eines der Kinder, da begann die Beklemmung allmählich von ihm zu weichen, und er fühlte etwas von dem neuen Glück, das er erhofft hatte.
Des Nachts aber konnte er nicht schlafen, und als der Morgen bereits erwachte, lag er noch immer regungslos da und starrte gespannt auf die schöne Decke aus dunkelbraunem Holz, auf der kleine goldene Sternchen sichtbar waren.
Er, der kleine Johannes, war bei einer Gräfin zu Gast, war eingeführt in eine schöne Welt und befand sich bei den reizendsten Geschöpfen, die unter den Menschen zu finden waren. Zwar war er jetzt bei seinen Kindern, aber er fühlte sich dennoch nicht glücklich. Er war ja viel zu arm und zu dumm und würde hier jämmerlich beschämt werden. Sobald er an die funkelnde kristallene Riechflasche dachte und an das umgefallene Milchkännchen, verbarg er sein Gesicht in die Kissen, zornig und verlegen.
Und als er endlich gegen Morgen in einen leichten Schlaf fiel, da träumte ihm von einem großen Laden, in dem einzig und allein Schwimmhosen zu kaufen waren, in hunderterlei Stoffen und Farben, aus Tuch, Leder, Hermelin und Sammet, mit Pelz verbrämt und mit Schleifen und Monogrammen verziert. Und als Johannes eintrat, um sich für die Abendgesellschaft eine auszusuchen, stand ein riesenhafter Mann mit einem langen Bart und einer hohen Pelzmütze hinter dem Ladentisch. Das war Professor von Pennewitz, und der begann ihn zu examinieren. Johannes aber wußte nichts, rein gar nichts. Er mußte durchfallen. Da bekam er eine Violine ohne Saiten, auf der sollte er spielen, und als das nicht glückte, nahm von Pennewitz seine Pelzmütze ab und setzte sie ihm auf, so daß Johannes gänzlich darin verschwand und vor Wärme und Beklommenheit glaubte ersticken zu müssen ...
Da ertönte ein kräftiges »tick! tack! tick! tack!« und er wachte auf, in kalten Angstschweiß gebadet.