Frederik van Eeden
Der kleine Johannes
Frederik van Eeden

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Zweites Buch

Ich sagte euch ja, daß ich euch vielleicht noch mehr von dem kleinen Johannes erzählen wolle. Ihr habt sicherlich nicht gedacht, daß ich Wort halten würde, nicht wahr? Heutzutage sind die Menschen, ob jung oder alt, nicht mehr allzu vertrauensselig und auch nicht mehr gar so geduldig.

Jetzt aber will ich euch alle beschämen und euch erzählen, was ihm weiterhin widerfuhr. So merkt denn wohl auf, es lohnt sich der Mühe. Und was das Beste von allem ist: es klingt ganz wie ein Märchen, fast mehr noch als das, was ich euch bereits erzählt habe.

Und dennoch ist auch dies alles wirklich geschehen. Wahr und wahrhaftig, es ist geschehen. Ihr werdet das nun vielleicht wieder nicht glauben, aber wenn ihr erst älter seid, dann werdet ihr es begreifen – wenn ihr viel, viel älter seid – und es ist so viel schöner, es zu glauben, daß ich euch von Herzen wünsche, ihr möchtet dazu imstande sein. Will's nicht gehen, so tut es mir leid um euretwillen, aber ihr sollt deswegen nicht lügen. Ihr dürft dies alles trotzdem lesen.

Und wenn ihr dem Johannes begegnet, so dürft ihr ihn auch wohl befragen und ihm meine Grüße bestellen. Möglich ist es, daß ihr keine Antwort bekommt, aber sicherlich wird er nicht ärgerlich sein. Er ist zwar immer noch klein, aber doch um ein gut Stück größer geworden.

Das schöne Wetter dauerte an jenem Abend nicht lange. Die prächtigen Wolken, die Johannes über der See gesehen und aus denen die dunkle Gestalt herausgetreten war, kündeten ein Unwetter. Noch ehe er wieder mitten in den Dünen war, wurden Abendrot und Sternenhimmel verdüstert, und er fühlte sich von einem milden warmen Winde fortgetrieben, der von einem nebelfeinen Staubregen begleitet war. Hinter ihm über der See zuckte ein Wetterleuchten, und dort rollte und donnerte es, gleich als würde der Himmel eingerissen und als würfe man all seine Bretter auf einen großen Speicher. Johannes aber war sehr glücklich und fürchtete sich nicht im mindesten. Er fühlte eine warme, kräftige Hand, die die seine festhielt. Ihm war es, als habe er noch niemals eine solche Hand in der seinen gehalten, ja sogar Windekinds Hand erschien ihm, mit dieser verglichen, zart und zerbrechlich und unwirklich.

Er meinte, daß er jetzt an das Ende all seiner Wirren und Mühseligkeiten gelangt sei. Vielleicht habt auch ihr das geglaubt. Indes, wie würde das wohl möglich sein, da er doch erst ein ganz kleiner Mann war und noch kaum die Hälfte von all den wunderlichen Dingen begriffen hatte, die ihm widerfahren waren?

Vielleicht ist euch das alles klar gewesen, ihm aber nicht, wenngleich er es sich jetzt einbildete. Er war ja aber auch noch ein ganz kleiner Mann ohne Bart und ohne Schnurrbart und mit einer hohen Stimme.

»Freund«, sagte er zu seinem Begleiter, »ich weiß jetzt, daß ich schlecht gewesen bin, furchtbar schlecht sogar. Aber jetzt seid ihr doch zu mir gekommen und ich darf eure Hand in der meinen halten. Kann ich denn noch alles gut machen? Ist es noch nicht zu spät?«

Schweigend schritt die dunkle Gestalt neben ihm her durch Sturm und Finsternis. Johannes konnte weder seine Augen noch sein Gesicht sehen; er hörte nur das seltsame klatschende Geräusch seiner Kleider, die schwer waren vom Regen. Dann fragte er wiederum und diesmal ein wenig beklommen, weil der Trost, nach dem er sich sehnte, länger auf sich warten ließ, als er gedacht: »Oder darf ich euch nicht Freund nennen? Bin ich dessen noch nicht würdig? Ich habe immer so gerne einen Freund haben wollen. Das sei das Schönste im Leben, meinte ich, eigentlich das Einzige, woran mir wirklich etwas gelegen war. Und jetzt habe ich alle meine Freunde verloren. Mein Hündchen, Windekind und meinen Vater. Bin ich zu schlecht, um einen echten Freund zu haben?«

Da kam eine Antwort:

»Wenn du ein echter Freund sein kannst, Johannes, so wirst du sicherlich auch einen finden.«

Der weiche tiefe Klang der Stimme war ihm Trost. Wer mit solchem Klange sprach, vergab und hatte lieb. Allein die Worte waren quälend.

»Schlecht, schlecht,« murmelte Johannes vor sich hin, indem er die Zähne zusammenbiß. Er hätte wohl weinen mögen, aber er konnte es nicht. Dazu hätte er Mitleid mit sich selber haben müssen, und das flößte ihm die Antwort seines Begleiters nicht ein. Er war kein guter Freund gewesen, weder seinem Hündchen, noch Windekind, noch seinem Vater. Nun hätte er das alles am liebsten gleich wieder gut gemacht, aber ganz so einfach war das nicht. Das wurde ihm jetzt völlig klar.

In den Dünen war es unwirtlich und stockfinster. Man hörte den Sturm durch die Zwergpappeln und die Halme heulen, aber zu sehen war nichts. Wie fern erschien jetzt das stille Sonnenlicht und die fröhlichen Tiere und Blumen! Hastig und schweigend schritten die Beiden weiter an vielfach gewundenen Wagenspuren entlang durch den dicken feuchten Sand, hin und wieder stolpernd und strauchelnd. Dieser Weg führte nach der Stadt.

»Ich werde ...« begann Johannes wieder, indem er entschlossen den Kopf erhob; allein er stockte.

»Wer kann sagen: ich werde? Wer ist da, der weiß, was er wird? Kann Johannes sagen: ich bin?«

»Ich bin betrübt und ich bin beschämt, und ich will mich bessern,« sagte Johannes.

»So ist's recht,« sprach die tiefe weiche Stimme, und Johannes traten die Tränen in die Augen. Er schmiegte sich dicht an seinen Begleiter an, während er zitternd weiter ging.

»So lehre mich, Vater; ich will lernen, wie ich mich bessern kann.«

»Nicht ›Vater‹, Johannes, wir beide haben einen Vater. Bruder sollst du mich nennen.«

Bei diesem Wort blickte Johannes scheu zu seinem Begleiter auf, mit gespannten Zügen und weitgeöffneten Augen. Ein bläulich-weißer Blitz durchzuckte den Himmel, und Johannes sah den bleichen Kopf mit den dunklen Augen, der sich freundlich zu ihm wandte. Die Haare waren feucht, vom Regen triefend, so auch der dunkle Bart und Schnurrbart. Das Haar klebte an der weißen leuchtenden Stirne. Aus den Augen strahlte innige Glut. Johannes empfand eine unendliche Liebe und Verehrung und zugleich eine unaussprechliche Trauer. »Mein Bruder,« dachte er, »o, du großer, guter Mann!«

Und er sagte: »Du wirst so naß, binde meine Jacke über deinen Kopf, ich kann sie ganz gut entbehren.«

Allein seine Hand ward in der Dunkelheit sanft zurückgehalten, und sie eilten weiter, bis sich Schweiß und Regen auf ihrem Antlitz mischten.

Da sprach sein Begleiter nach einer Weile also:

»Johannes, höre mich aufmerksam an. Denn jetzt werde ich dir etwas sagen, was du behalten mußt.«

»Dein eigentliches Leben beginnt erst jetzt, und gut zu leben, ist sehr schwer. Wenn du behalten könntest, was ich dir jetzt sage, dann würdest du nie mehr unglücklich sein. Weder das Leben noch die Menschen vermöchten dich jemals unglücklich zu machen. Aber das wird nicht so sein, und zwar nur deshalb, weil du vergessen wirst.«

Ein kurzes Schweigen, darinnen nur das Rauschen des Windes, das Rascheln ihrer Kleider und ihr hastiges Atmen hörbar waren. Denn sie gingen schnell.

»So übe dein Gedächtnis, denn ohne ein starkes und gutes Gedächtnis wird kein Heil gewonnen. Das aber merke dir wohl: Nicht des Kleinen und Zeitlichen sollst du eingedenk sein, sondern des Großen und Ewigen.«

Da zuckte ein Wetterleuchten, gleich als würde das ganze Weltall mit weißen Flammen geschlagen, und unmittelbar darauf grollte ein entsetzlicher Donner gerade über ihren Köpfen.

Johannes aber dachte voller Inbrunst über die Worte nach, die er soeben gehört, und war weder ängstlich noch beunruhigt. Er hob den Kopf, stolz und froh, daß ihm nicht bange war. Und starrte weitgeöffneten Auges in die hohe düstere Himmelskuppel.

»Dies ist das Große und Ewige, nicht wahr? Dessen werde ich eingedenk sein.«

Sein Begleiter aber sagte:

»Nicht an Blitz und Donner sollst du denken, denn die sind zeitlich und werden viele Male wiederkommen. Aber daß du dich nicht gefürchtet und dein Angesicht mutig emporgerichtet hast, das sollst du nicht vergessen, und auch nicht, warum du das getan. Denn Donner und Blitz werden wiederkommen und dich furchtsam finden. Doch kann dich der Blitz erschlagen, auch in diesem Augenblick. Warum fürchtest du dich jetzt nicht?«

»Weil ich dich bei mir habe,« antwortete Johannes.

»Nun wohl, Johannes, so sei dessen eingedenk, daß du mich allzeit bei dir hast.«

Sie schwiegen lange und Johannes dachte über diese herrlichen Worte nach. Allein ihren Sinn vermochte er nicht zu ergründen. Denn wenn er ihn allzeit bei sich hatte, wie würde er ihn denn jemals vergessen können? Da fragte er, obgleich er schon im voraus wußte, wie die Antwort lauten würde:

»Wirst du denn jetzt immer bei mir bleiben?«

»So, wie ich immer bei dir geblieben bin.« Also lautete die erwartete Antwort. »Aber damals sah ich dich nicht!«

»Und sehr bald wirst du mich wieder nicht sehen und ich werde dennoch bei dir sein. Deshalb sollst du dein Gedächtnis üben, auf daß es spreche, wenn deine Augen schweigen. Wer kann vergessen und getreu sein? Du bist niemals getreu gewesen, Johannes, und auch mich wirst du vergessen. Ich aber werde dir treu bleiben, und du wirst dich meiner erinnern. Dann wirst du einen Bruder haben und einen Freund, wenn du erst selber gelernt hast zu gedenken und ein treuer Freund zu sein.«

Jetzt wurde der Weg beschwerlicher, und in der Ferne sahen sie die Lichter der Stadt. Ganz in der Nähe schimmerten viereckige Fleckchen gelblichen Lichtes still und ängstlich in Regen und Dunkelheit, erleuchtete Fenster von Wohnungen, die selbst noch unsichtbar waren in der Nacht. Jetzt sahen sie Pfützen glänzen, und sie begegneten einem Menschen. Ein schwerer hastiger Schritt, das rotglühende Glimmen einer Zigarre. Johannes roch den ihm wohlbekannten verhaßten Menschengeruch von nassen Kleidern und Tabaksqualm. Und bei dem Schein des grellen Wetterleuchtens sah er sich plötzlich von kleinen weißen und grauen Menschenwohnungen umringt, sah den blinkenden Weg, der sich weit, weit hinzog, sah Heubündel und Scheunen, einen Meilenstein am Wege, und das alles mit einem Male grell und häßlich beleuchtet.

Da wandelte sich etwas. Und plötzlich gewahrte er alles, so wie man erwachend eine Stimme ganz anders hört, als man sie im Traume vernommen hat.

Er fühlte sich wie ein ganz gewöhnlicher Mensch. Genau so wie alle andern. Und auch sein erhabener Begleiter war ein ganz gewöhnlicher Mann geworden. Er sah sich und ihn so, wie die Vorübergehenden sie beide sehen würden: ein Mann, der einen Knaben an der Hand führte, vom Regen durchnäßt. Windekind wurde nicht naß im Regen.

Die Vorstadt kam und mit ihr immer mehr Licht und immer mehr Lärmen. Es war nicht die große Stadt, in der Johannes mit Klauber gewohnt hatte, sondern die kleinere, in deren Umgegend er geboren war und in der er die Schule besucht hatte.

Und als die beiden näher kamen, hörten sie trotz prasselnden Regens und rollenden Donners ein verworrenes Geräusch, dessen Johannes sich von früher her gar wohl entsann. Es war ein Durcheinander von Stimmen, Gesang, anhaltendem Drehorgelgeleier, unterbrochen von kurzen, scharfen Klängen, Trompeten und Flöten und knallenden Schwärmern und Schüssen – hin und wieder ein schrilles mißtönendes Pfeifen oder das Läuten einer Glocke. Es war Jahrmarkt.

»Paß jetzt auf, Johannes,« sagte sein Gefährte, »jetzt kommen die Menschen.«

Johannes erschrak. Jetzt würde seine Aufgabe beginnen. Er durfte die Menschen nicht mehr schmähen und auch seine eigene menschliche Herkunft nicht verleugnen. Er wußte nun, daß er gefehlt hatte und war entschlossen, sich zu bessern. Hatte ihm der gute Tod nicht gesagt, daß es sich wohl der Mühe verlohne, ein guter Mensch zu werden? So würde er denn jetzt unter Menschen kommen und versuchen, ein guter Mensch zu sein, ihr Weh und ihre Schmerzen zu lindern und in ihr häßliches trostloses Leben das Glück und die Schönheit zu tragen. War es nicht das, was er lehrte, er, an dessen segensreicher Hand er fortan gehen würde?

Allein ihm war sehr beklommen zu Mute, denn er wußte schon so ziemlich, wie die Menschen waren. Ihn fror in seinen nassen Kleidern.

»Kommt die Furcht schon jetzt? Denke daran, wie tapfer du soeben noch warst. Und nicht der Worte sollst du eingedenk sein, sondern der Dinge.«

»Ich will stark sein und tapfer, ich will ein Mensch sein unter Menschen, und ein guter Mensch, der den Menschen Gutes tut.«

Also sprechend ermannte sich Johannes und ging sicheren Schrittes zur Stadt hinein.

Dort sah es gar traurig aus. Das Wasser klatschte aus den Dachrinnen auf die Straße. Alles glänzte vor Nässe, und von dem Segeltuch der Buden rannen dicke Strahlen hernieder.

Allein die Menschen waren ausgegangen, um sich zu vergnügen, und wollten das nun auch erzwingen, mit aller Gewalt und um jeden Preis. Sobald sich die Türe einer Kneipe öffnete, sah man drinnen die roten Gesichter dicht zusammengedrängt, von blauem Tabaksqualm umhüllt, und man hörte Singen und Schreien und lautes Getrampel.

Unter den vorspringenden Dächern der Buden suchte die Menge Schutz, und die Menschen drängten sich langsam aneinander vorüber in das helle Licht der Lampen. Johannes und sein Begleiter traten in ihre Mitte, um dem Regen zu entgehen.

Johannes mochte den Jahrmarkt gern. Stets, wenn die Schiffe mit dem Holzwerk für die Buden und Karussells auf der Gracht festlagen, freute er sich und schaute lange zu, wie die Bauten für eine einzige Woche ineinander gefügt wurden. Das alles war so voller Erwartung von seltsamen und phantastischen Vergnügungen.

Er liebte all die bunte und lustige Festlichkeit, die komischen Aufschriften an den Karussells, die geheimnisvollen Zeltwagen, in denen Kirmesleute hausten, und vor allem liebte er die kleinen Buden, in denen Naturwunder und seltsame Tiere gezeigt wurden, die sich traurig verirrt zu haben schienen in diesen holländischen Ort, und deren stille Gefangenschaft seltsam abstach von dem johlenden Lärmen ringsumher.

Und jeden Sommer tat es ihm von neuem leid, wenn er sah, wie all der bunte Kram wieder aufgeräumt wurde.

Nicht, als ob er sich jemals nach dem Jahrmarkt gesehnt hatte, als er bei Windekind war – aber von alledem, was er bei den Menschen erlebt, schien ihm der Jahrmarkt doch noch am allerschönsten.

Und auch jetzt erfreute er sich an dem wohlbekannten Anblick der erleuchteten Buden mit ihren Spielwaren, den Kuchen mit ihrer dicken Schicht aus rosafarbenem Zucker und ihren weißen Aufschriften, an all dem blitzenden Kupfergerät der Waffelbuden, an den kleinen Zelten, die auf einsameren Plätzen standen und in denen braune geräucherte Aale einladend zwischen eisernen Stangen mit Messingknöpfen lagen, an den Schießständen und den lärmenden buntfarbigen Karussells.

Auch all die Gerüche und den Gestank fand er nicht übel, der alten Erinnerungen wegen, die daran hafteten, den Duft von in Fett gebackenen Kuchen, von qualmenden Lichtchen, und dann den eigentümlichen, geheimnisvollen Geruch von Ställen und wilden Tieren, der aus dem Zirkus drang.

Die Kinder liefen wie immer mit ihren roten Luftballons umher, tuteten auf kleinen Trompeten und drehten Klappern, während die Mütter des Regens wegen die Röcke hoch über den Kopf schlugen. Hin und wieder kam eine Bande von Männern und jungen Mädchen daher, die Hüte und Mützen tief in den Nacken geschoben, vergnügt und ausgelassen und laut schreiend: Hi ha! hi ha! Dann traten die ruhigen Spaziergänger für einen Augenblick bei Seite, um sich gleich darauf die Kuchen und andern Auslagen wieder anzusehen.

Und da Johannes gerne lachte, blieb er immer da stillstehen, wo es etwas zu lachen gab: bei dem Kasperle-Theater und bei den Clowns, die vor dem Zirkus standen und die Bauern zum Besten hielten.

So stand er da an der Hand seines Begleiters zwischen einer Gruppe von Menschen mit aufgespannten Regenschirmen und schaute um sich.

Ringsumher sah er starräugige Gesichter, die von der heftig surrenden Petroleumfackel vor dem Zelt grell beleuchtet wurden. Die Menschen sähen sehr dumm aus, meinte er, so wie sie dastanden und gafften, ab und zu alle plötzlich laut auflachend, wenn der Clown irgend einen dummen Witz machte. Die Front des Zeltes war mit häßlichen Bildern bemalt, die entsetzliche Kämpfe zwischen Menschen und Tigern darstellten, und allüberall Blut. Von der Ballustrade blickte ein kleiner Affe sehr ernsthaft auf die Menschen herab und heftete einen raschen Blick auf einen in der Nähe stehenden Knaben, um zu sehen, ob der mit seiner ausgestreckten Hand was Gutes oder was Böses im Sinne habe.

Hinter dem Tischchen, dicht an dem Vorhang, der den Eintritt zu der Bude versperrte, saß eine dicke Frau in einem schwarzen Seidenkleid. Sie hatte dunkles glänzendes Haar, das fest an ihre Stirne geklebt war, und ein breites, rundes Gesicht. Sie war nicht häßlich, aber Johannes mußte unwillkürlich an die Wachspuppen denken, die man oft in den Schaufenstern der Friseure sieht.

Plötzlich hörte Johannes, wie der Clown zu ihm sprach: und die Menschen wandten alle den Kopf um und schauten ihn grinsend an.

»Nur näher, junger Herr, immer näher,« sagte der Hanswurst, »wollen Sie sich das Schauspiel nicht auch mal ansehen? Fragen Sie nur Ihren Herrn Papa, ob Sie das Schauspiel nicht mal sehen dürfen. Junge Mädchen sind auch da, sehr was Nettes für junge Herren. Sehen Sie nur, was für schöne junge Mädchen!«

Dabei wies er auf die dicke Frau hinter dem Tischchen, die durchaus nicht lachte, sondern aufmerksam ihre Ringe mit falschen Juwelen besah, während sie den Vorhang öffnete, gleichsam um Johannes einzuladen; und dann wies der Hanswurst auf ein blasses, mageres Mädchen, dessen blondes seidenweiches Haar ihr bis über den Gürtel reichte. Sie stand vor dem Zelt in einem schmutzig-weißen, mit Silberplättchen benähten Anzug: und trug ein kurzes Röckchen und weiße Strümpfe, die ihre langen mageren Beinchen nicht allzu straff umschlossen.

»Hallo, nur immer näher!« rief die Kleine mit einem schrillen scharfen Stimmchen, während sie in die Hände klatschte.

Ha, wie wurde die Aufmerksamkeit des kleinen Johannes nun plötzlich gefesselt! Ihn überkam ein wunderbares Gefühl von Zärtlichkeit und Mitleid, während er auf das blasse Mädchen blickte. Sie trug ein silbernes Krönchen auf dem beinahe weißblonden Haar, und auch ihre Augen waren hell, grau oder hellblau, das konnte er nicht ganz genau sehen.

»Willst du hinein?« fragte ihn sein Begleiter.

Johannes nickte, ohne ihn anzusehen.

Sie bahnten sich langsam einen Weg durch die Menschen, und Johannes bemerkte, wie das Mädchen ihn immerfort unverwandt anschaute, gleichsam als ob ihr an seinem Kommen mehr gelegen sei als an dem der andern.

Wie wunderlich ging es in seinem Kopfe zu während der wenigen Sekunden, in denen er durch die dichtgedrängte übelriechende Menge schritt, um sich dem Zirkus zu nähern! Er dachte an seinen toten Vater, und daß er jetzt zu einer Jahrmarktsvorstellung ging. Sofort aber gedachte er auch der großen Wandlung und seiner Befreiung von Klauber, und daß er nicht zu seinem Vergnügen in diese Schaustellung ginge wie ein gewöhnlicher Schuljunge, sondern daß er sich jetzt unter die Menschen begäbe, um sie gut und froh zu machen und um ihnen zu helfen, ihr Leid zu bekämpfen. Gleichzeitig empfand er einen furchtbaren Ekel vor all diesen rohen, groben, übelriechenden Leuten. Dann wieder heftete er seinen Blick auf das bleiche Mädchen, das ihn gerufen hatte und ihn erwartete. Sie war doch auch ein Mensch, und sein ganzes Herz neigte sich ihr zu, so dürftig und so ernsthaft und so klug sah sie aus. Was für ein Leben mochte sie hinter sich haben, und was mochte sie wohl denken und fühlen?!

Für einen Augenblick vergaß er, an wessen Seite er noch immer einherging. Er hatte die teure Hand zwar noch nicht losgelassen, aber doch nicht bedacht, wer es war, den man hier für seinen Vater hielt und der ihn in einen Zirkus führte.

»Was habe ich zu bezahlen?« hörte er die tiefe ernste Stimme seines Begleiters die Frau fragen.

Aber das blasse Mädchen, das den Blick nicht von ihm gewandt, rief plötzlich kurz und entschlossen:

»Es ist Markus!«

Die dicke Frau blickte flüchtig von dem Mädchen auf die beiden Besucher, und schlug dann mit ihrer dicken, weißen, beringten Hand auf das Tischchen, daß der Geldkasten klirrte.

»Jesus Maria, bist Du's denn? wahr und wahrhaftig, Vissie? Woher kommst du denn so plötzlich hergeschneit? und wo hast du den Kleinen aufgegabelt? Nichts zu bezahlen, geh du nur hinein mit deinem Jungen. Auf den ersten Rang natürlich. Ich sehe dich wohl nachher noch.«

Darauf blickte sie Johannes mit ihren schwarzen Augen gerade ins Gesicht. Ihn schauderte vor diesem harten kalten Blick. Sie aber lachte freundlich und sagte:

»Adieu, Kleiner.«

Johannes fühlte, wie ihm der Schweiß ausbrach vor Schrecken und Verwirrung. Nie war es nur möglich, daß er den Erhabenen, den er über die glutbeschienenen Wasser der See hatte daherschreiten sehen und dessen Hand er nicht losgelassen, auf solche vertrauliche Weise von diesem gräßlichen Weib anreden hörte, wie einen guten, alten Bekannten? War er denn ganz und gar von Sinnen? Hatte er geträumt? Und war sein Begleiter nichts anderes als der erste beste Jahrmarktsvagabund? Erst als er auf seinem Platze saß und sein Herz nicht mehr gar so heftig pochte, wagte er es, seine Augen, die nichts von der Umgebung in sich aufgenommen, auf seinen Begleiter zu richten.

Dieser sah ihn an, scheinbar seit einer geraumen Zeit schon. Und dieser erste Blick genügte.

Johannes sah dasselbe bleiche Antlitz, dieselben etwas müden und doch klaren Augen voll inniger Glut, vertrauend und vertraulich, durch ihren Blick allein schon Trost und Ruhe spendend.

Aber er war ein ganz gewöhnlicher Mann, ein Mensch wie alle andern. Er hatte eine braune Mütze auf mit Ohrenklappen, die über dem Kopf zusammengebunden waren, und trug einen alten, verschossenen Mantel, aus dem das Regenwasser auf seinen Sitz troff. Seine Schuhe waren durchweicht und beschmutzt: plump und viereckig standen sie auf dem hölzernen Fußboden, seine Hose war ausgefranzt und hatte keine ausgesprochene Farbe mehr aufzuweisen.

Johannes wollte ihn ansprechen, aber seine Lippen zitterten so, daß er kein Wort herauszubringen vermochte und ihm die Tränen über die Wangen liefen.

Noch immer saßen sie Hand in Hand. Zum Sprechen kam es nicht. Und Johannes fühlte, wie ihm die Hand gedrückt wurde, und wie sich langsam, ganz langsam aus jenen gütigen Augen eine überirdische Ruhe und Ermutigung bis auf den Grund seines Herzens senkten.

Sein Begleiter bedeutete ihm lächelnd, daß er sich die Vorstellung und die Zuschauer ansehen solle – und langsam und tief aufatmend wandte Johannes den Blick dorthin. Aber was da vor sich ging, betrachtete er teilnahmslos, fast unbewußt.

Und immer und immer, wenn er nur irgend den Mut dazu fühlte, mußte er wieder auf seinen Begleiter schauen, auf seine ärmlichen, durchnäßten Kleider, auf seine Hände, die nicht grob waren, aber seltsam rauh, mit schwarzem Daumen und Zeigefinger, auf sein bleiches, geduldiges Gesicht und seine an den Schläfen festgeklebten feuchten Haare.

Und dann begannen ihm wiederum die Lippen zu zittern, und die Kehle war ihm wie zugeschnürt, und langsam und unbezwingbar kamen ihm die Tränen, bis er leise zu schluchzen begann.

Aber da sah er plötzlich, wie ein großes weißes Pferd in die runde Arena galoppierte, in der ringsumher die Zuschauer saßen, und daß das blasse, blonde Mädchen auf seinem Rücken stand. Sie hatte jetzt mehr Farbe und sah viel hübscher und frischer aus. Sie sprang behende von dem großen weißen Pferde auf und kniete dann ebenso rasch wieder darauf nieder, während sie es durch schrille Zurufe anfeuerte.

Jetzt empfand Johannes nicht nur Mitleid und Zärtlichkeit für sie, sondern auch etwas wie Bewunderung und Ehrfurcht. Denn sie schien kaum älter zu sein als er selber und war dennoch nicht im mindesten verlegen, und auf ihre Kunst verstand sie sich trefflich. Und die Menschen klatschten Beifall, und dann führte sie die kleinen schmalen Händchen abwechselnd an die Lippen und grüßte erst nach links und dann nach rechts, mit unbefangener Grazie.

Der Hanswurst verneigte sich tief vor ihr, schnitt allerlei dumme Grimassen und zeigte sich außerordentlich ehrfurchtsvoll: sie aber bestrafte ihn mit einem hochmütigen Lächeln wie eine Prinzessin. Johannes vermochte die Augen nicht von ihr abzuwenden.

»Wer mag sie wohl sein?« fragte er seinen Begleiter, »ist sie wirklich so reizend?«

»Sie heißt Marion«, antwortete dieser, »und ist ein recht gutes Kind. Aber zu schwach für ihre Arbeit.«

»Ich möchte gern etwas für sie tun«, sagte Johannes.

»Das ist recht, Johannes, wir werden nachher zu ihr gehen.«

Um die Vorstellung kümmerte Johannes sich nicht mehr viel. Er dachte voller Erwartung an das bevorstehende Gespräch mit dem Zirkusmädchen. Die Welt, in der sie lebte, hatte für ihn etwas Lockendes, und sie selbst erschien ihm in diesem Augenblick unter allen Menschen als die einzige, der er so recht von ganzem Herzen helfen und etwas Gutes tun möchte.

Nachdem die Zuschauer den Zirkus verlassen, schlüpfte er mit seinem Begleiter hinter den Vorhang, aus dem die Pferde zum Vorschein gekommen. Und dort hinten in dem dämmrigen Raum, wo eine kleine Lampe ihr mattes Licht verbreitete und man das Schnauben und Stampfen der Pferde deutlich vernahm, sah Johannes sie sitzen. Sie kauerte vor einer Kiste, auf der ein paar Teller mit Essen standen und hatte ihren schönen Anzug noch an. Es war niemand bei ihr.

»Guten Tag, Markus«, sagte sie, während sie Johannes' Begleiter die Hand reichte. »Wer ist der Junge?«

»Das ist Johannes, er wollte dich gern kennen lernen und dir etwas Gutes antun.«

»So?« meinte das Mädchen lachend, »nun, dann soll er meine Groschen nur in Goldstücke verwandeln.«

Johannes wußte nicht, was er darauf antworten sollte, und fühlte sich so verlegen, wie kaum je zuvor. Allein Marion blickte ihn mit ihren großen hellen Augen freundlich lächelnd an.

»Komm, mein Junge, sei doch nicht so blöde. Willst du was essen? – Dann nur rasch, ehe meine Schwester kommt. Du solltest nur bei uns bleiben, wir gehen diese Woche nach Delft. Kommt ihr mit, Markus?«

»Das wäre nicht unmöglich«, sagte Markus, »aber erst wollen wir jetzt mal sehen, daß wir irgendwo zum Schlafen unterkommen. Johannes wird wohl keinen Hunger haben, nicht wahr, Johannes?«

Johannes schüttelte den Kopf.

»Er hat großen Kummer gehabt, Marion, sein Vater ist soeben gestorben.«

Marion blickte ihn von neuem an, sanft und gütig jetzt, und streckte ihm die Hand hin, mit derselben raschen Geberde des Vertrauens, wie ein kleiner Affe, der seinen Herrn erkennt.

»Auf morgen also,« sagte sie, als die Beiden durch eine Hintertür das Zelt verließen.

Draußen schien der Mond, und die Jahrmarktsbesucher waren, nachdem es zu regnen aufgehört, wieder lustiger und lärmender geworden.

O, o, wie waren sie häßlich! Wie tanzten sie plump und wie sangen sie schlecht! Gruppenweise standen Männer und Frauen jetzt beisammen, possierlich ausstaffiert, der Eine mit des Anderen Hut auf dem Kopf, und sie hüpften und sprangen umher, während sie mit heiserer Stimme laute Gesänge ohne Sinn und Melodie gröhlten.

Ihr Ausdruck war widerlich, dumm und roh und zügellos. Fast alle Gesichter waren durch Trunk oder Erregung stark gerötet. Auch sah Johannes, wie Mütter mit Säuglingen auf dem Arm und kleinen Kindern an der Hand aus den Waffelbuden traten und sich mühsam durch die Menge fortschleppten. Ab und zu wurden die Türen der Kneipen geöffnet und rohe Menschen stürmten heraus. Hier und dort keiften einige an einer Straßenecke, von einem dichten Menschenknäuel umringt. Etwas Schönes oder Reizvolles oder Liebliches gab es nicht mehr zu sehen. Alles schrie und brüllte und johlte, und tausenderlei Mißklänge und ekelhafte Gerüche erfüllten die Luft.

Nur sechs Soldaten sah man ruhig und ohne Lärmen gleichmäßigen Schrittes in Reih und Glied durch die Menge gehen. Das war die Patrouille, so viel Johannes wußte, und er empfand bei ihrem Anblick etwas wohltuend Beruhigendes, gleich als sei unter den Menschen doch nicht alles Liederlichkeit und Grobheit, als sei doch noch ein ganz klein wenig Würde und Selbstbeherrschung übrig geblieben.

Hoch oben schien der Mond licht und majestätisch über dem rötlichen Flackern und Leuchten, sehr still und über all dem kleinlichen Lärmen gänzlich erhaben. Sehnsüchtig blickte Johannes in das ruhige Licht.

Er fand seine Aufgabe entsetzlich schwer und die Menschen noch schlimmer als er erwartet hatte. Aber eines einzigen Mägdleins gedachte er dennoch voller Zärtlichkeit, und um derentwillen wollte er ausharren.

»Wir wollen doch schlafen gehen, nicht wahr?« bat er dringend.

»Mir ist's recht«, sagte sein Begleiter, während er die Tür zu einer kleinen Gastwirtschaft öffnete.

Da drinnen war es dumpfig und die Luft von Rauch und Schnapsgeruch verpestet. Sie bahnten sich einen Weg durch die Gäste und traten an den Schenktisch.

»Haben Sie Logis für uns, Frau Schimmel?« fragte Johannes' Begleiter.

»Logis? Nun ja, weil ihr es seid, Markus, aber sonst nicht, hört ihr wohl! Kommt jetzt nur mit.«

Sie krochen auf einen kleinen dunklen Speicher und bekamen dort ein paar Matratzen, die die Frau selbst hinaufgeschleppt hatte, und auf die sie sich hinstreckten.

Bis in den lichten Morgen hinein lag Johannes wachend da und horchte auf das Schreien und Singen und Johlen der Leute dort unten. Den Tag, den er durchlebt, der ihm lang wie ein Jahr erschien und der voll großer und gewichtiger Dinge gewesen, überdachte er nochmals von Anfang bis zu Ende. Er lag da und sann und grübelte, die weitgeöffneten Augen starr ins Dunkel gerichtet, still und keineswegs beunruhigt. Bis der Morgen kam und mit ihm das Sonnenlicht, das einen rötlich-goldenen Schein über die gegenüber liegende Mauer breitete – und bis das Lärmen dort unten schwächer geworden und dann völlig erstorben war. Da fiel er in Schlaf, während er an Marion dachte, an ihre hellen Augen und ihr silbernes Krönchen.


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