Frederik van Eeden
Der kleine Johannes
Frederik van Eeden

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»Wir wollen doch mal sehen,« sagte Klauber, »ob ich dir nicht ebenso viel Schönes zeigen kann wie Windekind.«

Und nachdem sie dem Doktor Lebewohl gesagt und ihm versprochen hatten, bald einmal wieder zu kommen, führte er Johannes allüberall in der großen Stadt umher – zeigte ihm, wie das riesige Monstrum lebt, wie es atmet und sich nährt, wie es sich selber verzehrt und aus sich selber wieder ersteht.

Eine ganz besondere Vorliebe aber hegte er für die düsteren Armenviertel, wo die Menschen dicht aufeinandergedrängt hausen, wo alles grau und schmutzig und die Luft schwer und dumpf ist.

Er trat mit ihm in eines der großen Gebäude, aus dem der Rauch aufstieg, den Johannes am ersten Tage schon gesehen hatte. Dort herrschte ein betäubender Lärm – überall rasselte und klapperte und stampfte und dröhnte es – große Räder drehten sich und lange Riemen schoben sich in schlängelnder Bewegung unablässig vorwärts. Der Boden und die Wände waren schwarz, die Fenster bestäubt oder zerbrochen. Hoch ragten die gewaltigen Schornsteine über dem schwarzen Gebäude empor und sandten dicke, sich kräuselnde Rauchsäulen aus. In diesem Gewirr von Rädern und Maschinen sah Johannes eine Anzahl Menschen mit blassem Antlitz, die Hände und die Kleider geschwärzt, schweigend und unablässig arbeiten.

»Wer sind sie?« fragte er.

»Räder, gleichfalls Räder,« antwortete Klauber lachend, »oder Menschen, wie du willst. Was sie da tun, das tun sie tagein tagaus. Man kann auch auf diese Weise Mensch sein!« –

Und sie gelangten in schmutzige Gäßchen, wo der Streifen Himmelsblau, der hier so schmal erschien wie ein Finger, noch durch ausgespannte Kleider verdunkelt ward. Dort wimmelte es von Menschen; sie verdrängten sich gegenseitig, schrieen, lachten und sangen auch hin und wieder. Die Stübchen in den Häusern waren so klein und die Luft so dumpf, daß Johannes kaum zu atmen wagte. Er sah zerlumpte Kinder auf dem kahlen Fußboden umherkriechen und junge Mädchen mit wirrem Haar, die mageren, blassen Säuglingen ein Liedchen summten. Er hörte Keifen und Schelten – und die Gesichter um ihn her sahen entweder müde oder dumm und gleichgültig aus.

Da ergriff Johannes ein namenloses Weh. Mit seinem früheren Kummer hatte das nichts gemein – dessen schämte er sich jetzt.

»Klauber,« fragte er, »haben die Menschen immer hier gelebt, so elend und so jammervoll? Auch als ich ...«

Er wagte nicht weiter zu sprechen. »Gewiß – und das ist ein Glück. Ihr Leben ist durchaus nicht so elend und so jammervoll. Sie sind daran gewöhnt und kennen es nicht besser. Sie sind wie dummes, gleichgültiges Vieh. Sieh die beiden Frauen, die dort vor ihrer Türe sitzen. Sie schauen so zufrieden auf die schmutzige Gasse hinaus, wie du früher auf die Dünen. Um diese Menschen brauchst du nicht zu weinen. Dann könntest du wohl ebensogut um die Maulwürfe weinen, die das Tageslicht niemals zu sehen bekommen.«

Und Johannes wußte nichts zu antworten, und wußte auch nicht, warum er dennoch weinen mußte.

Und inmitten dieses lärmenden Treibens sah er den bleichen, hohläugigen Mann lautlosen Schrittes einherschreiten.

»Er ist doch ein guter Mann, nicht wahr?« sagte Klauber, »daß er die Menschen von hier fortholt. Und dennoch fürchten sie sich hier eben so sehr vor ihm.«

Als sich die Nacht herabgesenkt hatte und hunderte von Lichtlein zitternd im Winde erglänzten und schwanke Bilder in das dunkle Wasser streuten, durchschritten die beiden die stillen Straßen. Die alten hohen Häuser schienen, müde aneinander gelehnt, zu schlafen. Die meisten hatten die Augen geschlossen. Nur hier und dort schimmerte noch ein Fenster in fahlem, gelblichem Glanz.

Klauber erzählte dem Johannes lange Geschichten von denen, die dahinter wohnten, von dem Schmerz, der dort gelitten, und von dem Kampf, der zwischen Lust und Jammer gekämpft wurde. Er ersparte ihm nichts – das Düsterste und Traurigste und Abstoßendste suchte er aus – und grinste vor Freude, wenn Johannes bei seinen entsetzlichen Schilderungen erbleichend schwieg.

»Klauber,« fragte Johannes da plötzlich, »weißt du etwas von dem großen Licht?«

Er glaubte, daß diese Frage ihn aus der Dunkelheit befreien würde, die stets dichter und drückender sich um ihn ballte.

»Geschwätz, lauter Geschwätz von Windekind!« sagte Klauber. »Hirngespinste und Träumereien! Es gibt nichts anderes, als die Menschen – und mich. Glaubtest du denn etwa, daß ein Gott oder sonst wer Spaß daran finden würde, solchen Rummel zu regieren, wie das hier auf Erden ist?

Und solch ein großes Licht würde doch auch nicht so viele hienieden im Dunkeln lassen.«

»Und die Sterne, die Sterne?« fragte Johannes gespannt, gleich als erwarte er, daß diese sichtbare Größe ihm all das Niedere würde verklären können.

»Die Sterne? Weißt du denn eigentlich wohl, wovon du da redest, kleiner Mann? Die Lichtlein dort oben sind nicht etwa wie die Laternen, die du hier um dich her siehst. Das sind lauter Welten, und jede von ihnen ist um vieles größer, als diese Welt mit ihren lausenden von Städten. Und mitten darin schweben wir wie ein kleines Stäubchen, und es gibt weder ein Oben noch ein Unten, und an allen Seiten sind Welten, endlose, unendliche Welten, und das hört nimmer, nimmer auf.«

»Nein, nein!« rief Johannes angstvoll, »sage das nicht, sage das nicht! Ich sehe über mir die Lichtlein auf einem großen dunkeln Felde.«

»Ja, sehen kannst du auch nichts anderes als Lichtlein. Und wenn du dein ganzes Leben lang hinausstarren wolltest, so würdest du doch nichts anderes sehen, als über dir die Lichtlein aus einem großen dunkeln Felde. Aber wissen sollst du es, daß es Welten sind, in denen dieses Erdenklümpchen mit seinem armseligen, wimmelnden Menschenhäuflein nichts bedeutet – und wie ein Nichts verschwinden wird. Sprich also nicht mehr von den »Sternen«, gleich als gäbe es ihrer ein paar Dutzend. Das ist Torheit.«

Johannes schwieg. Das Erhabene, das ihm das Niedere verklären sollte, zermalmte es.

»Komm,« sagte Klauber, »wir wollen uns jetzt einmal etwas Lustiges ansehen.«

Hin und wieder drangen die Klänge einer lieblich schleppenden Musik zu ihnen herüber. An einer dunkeln »Gracht« lag ein großes Haus, dessen unzählige hohe Fenster in strahlendem Licht erglänzten. Eine lange Wagenreihe hielt davor. Das Stampfen der Pferde tönte hohl durch die nächtliche Stille und mit ihren Köpfen schienen sie ja! ja! zu nicken. Glitzernde Lichter spiegelten sich in dem silbernen Geschirr und in dem glänzenden Lack der Wagen.

Drinnen strahlte ein Meer von Licht. Halb geblendet schaute Johannes auf das Schimmern der unzähligen Flammen, der bunten Farben, der Spiegel und Blumen. Lichte Gestalten glitten an den Fenstern vorüber und verneigten sich lächelnd und mit anmutiger Gebärde voreinander. Bis an das äußerste Ende der Säle rührten sich die reichgeschmückten Menschen langsamen Schrittes oder in rascher, wiegender Bewegung. Ein verworrenes Geräusch von Gelächter und fröhlichen Stimmen, von schleppenden Schritten und rauschenden Gewändern drang, getragen von den Wellen der weichen, einschmeichelnden Musik, die Johannes bereits von ferne gehört hatte, bis auf die Straße hinaus. Draußen, ganz nahe an den Fenstern, standen ein paar dunkle Gestalten, deren Gesichter von dem Glanz, in den sie begehrlich starrten, seltsam, fast spukhaft beleuchtet wurden.

»Das ist schön! Das ist herrlich!« rief Johannes aus. Er schwelgte in dem Anblick von so viel Farbe, Licht und Blumen. »Was geht da vor sich? Dürfen wir hinein?«

»So, dies findest du also doch schön? Oder ziehst du am Ende einen Kaninchenbau vor? Sieh, wie die Menschen dort lachen und sich strahlend verneigen; wie glatt und vornehm die Männer, und wie schön und geschmückt die Frauen sind. Und welch eine Andacht beim Tanzen! Gleich als gelte es die wichtigste Sache der Welt.«

Johannes dachte zurück an den Ball im Kaninchenbau, und sah mancherlei, was ihn daran erinnerte. Nur daß hier alles viel größer und viel prunkhafter war. Die jungen geschmückten Frauen schienen ihm schön wie Elfen, wenn sie die langen weißen Arme emporhoben und den Kopf während des Tangens leicht zur Seite neigten. Die Diener gingen würdevoll umher und boten mit ehrerbietiger Verneigung köstliche Getränke an.

»Wie wundervoll! Wie herrlich!« rief Johannes.

»Ja, sehr hübsch!« sagte Klauber. »Aber jetzt sollst du auch mal ein wenig weiter schauen, als deine Nase lang ist. Du siehst hier jetzt nur freundliche, lächelnde Gesichter, nicht wahr? Nun, im großen und ganzen ist dieses Lächeln nichts anderes als Lüge und Verstellung. Die freundlichen alten Damen sitzen da wie Angler an einem Teich. Die jungen Frauen sind die Köder, die Herren sind die Fische. Und wie liebenswürdig sie auch miteinander plaudern mögen, dennoch mißgönnen sie sich gegenseitig jeden Fang. Wenn eine dieser jungen Frauen sich amüsiert, so geschieht es nur, weil sie schöner gekleidet ist oder mehr Herren um sich schart als die andern. Und all diese entblößten Arme und Nacken bilden das besondere Vergnügen der Herren. Hinter all diesen lachenden Augen und freundlichen Blicken lauert etwas ganz anderes. Sogar die ehrerbietig dreinschauenden Diener denken oft nichts weniger als ehrerbietig. Wenn es sich einmal plötzlich herausstellte, was sie alle in Wahrheit denken, dann würde es um das schöne Fest alsbald geschehen sein.«

Und nachdem Klauber ihn auf all das aufmerksam gemacht, erkannte Johannes auch ganz deutlich das Gekünstelte in den Mienen und Geberden und die Eitelkeit und die Langeweile, die hinter der lächelnden Maske hervorlugten, oder plötzlich zum Vorschein kamen, wenn diese einmal für einen Augenblick abgelegt wurde.

»Nun«, sagte Klauber, »man muß sie eben gewähren lassen. Die Menschen wollen sich doch amüsieren, und auf andere Weise verstehen sie es nicht.«

Johannes fühlte, daß jemand hinter ihm stand. Er blickte sich um. Es war die wohlbekannte große Gestalt. Das bleiche Antlitz war von dem hellen Glanz seltsam beleuchtet, so daß die Augen große dunkle Flecken bildeten.

Leise murmelte er vor sich hin und wies mit dem Finger in den hellerleuchteten Saal.

»Schau«, sagte Klauber, »der ist wieder einmal beim Aussuchen.«

Johannes sah, in welche Richtung der Finger wies, und er sah auch, wie die alte Dame während des Sprechens flüchtig die Augen schloß und die Hand an die Stirn führte, und wie das schöne junge Mädchen, das lässig einherschritt, einen Augenblick innehielt und leicht erschauernd vor sich hinstarrte.

»Wann?« fragte Klauber den Tod.

»Das ist meine Sache«, antwortete dieser.

»Ich möchte dem Johannes diese nämliche Gesellschaft gern noch einmal zeigen«, sagte Klauber, während er grinsend mit den Augen zwinkerte. »Wäre das wohl möglich?«

»Heute abend?« fragte der Tod.

»Warum nicht?« sagte Klauber. »Es gibt weder Zeit noch Stunde. Was jetzt ist, ist allzeit gewesen, und was werden wird, ist bereits da.«

»Ich kann nicht mit«, sagte der Tod, »ich habe zu viel zu tun. Aber du brauchst nur den Namen dessen zu nennen, den wir beide kennen, und dann wirst du auch ohne mich den Weg finden.«

Darauf gingen sie eine Strecke weiter durch die einsamen Straßen, wo die Gasflammen im Nachtwinde flackerten und das kalte, dunkle Wasser klatschend gegen die Steinwälle der Gracht schlug. Die weiche Musik erklang immer matter und matter, bis sie endlich in der großen Ruhe erstarb, die über der Stadt lag.

Da ertönte aus der Höhe mit weithin schallendem metallischem Klang ein lautes und feierliches Lied.

Plötzlich fiel es herab von dem hohen Turm auf die schlafende Stadt – und in die traurige, düstere Seele des kleinen Johannes. Erstaunt blickte er auf. Der Glockensang währte fort mit hellem, ruhigem Klang, der jubelnd emporstieg und die totenähnliche Stille sieghaft zerriß. Seltsam erklangen ihm diese frohen Töne, dieser Festgesang inmitten stillen Schlafes und düsterer Trauer.

»Das ist die Uhr«, sagte Klauber, »die ist immer gleich fröhlich, jahrein, jahraus. Zu jeder Stunde singt sie dasselbe Lied mit der gleichen Kraft und Freudigkeit. Und während der Nacht klingt es froher als bei Tage – gleich als jauchze die Uhr, weil sie nicht zu schlafen braucht, weil sie immer- und immerfort glücklich zu singen vermag, während Tausende unter ihr weinen und leiden. Am allerfreudigsten aber erklingt sie, wenn einer gestorben ist.«

Abermals erhob sich der jubelnde Ruf.

»Einst, Johannes«, fuhr Klauber fort, »wird hinter einem solchen Fenster in einem stillen Kämmerlein ein schwaches Lichtchen brennen. Ein trübes Lichtlein, das sinnend zittert und die Schatten an der Wand umherirren läßt. In dem Kämmerlein wird außer einem hin und wieder ertönenden Schluchzen keinerlei Geräusch vernehmbar sein. Es wird ein Bett darin stehen mit weißen Vorhängen, in deren Falten sich lange Schatten dehnen werden. Und in jenem Bett wird etwas liegen – weiß und still: Das wird der kleine Johannes gewesen sein. O, und dann wird dieses nämliche Lied plötzlich laut und freudig durch die kleine Kammer tönen und die erste Stunde nach seinem Tode besingen.«

Zwölf schwere Schläge dröhnten in langen Zwischenräumen durch die Luft. Bei dem letzten überkam Johannes plötzlich ein Gefühl, als träume er – er ging nicht mehr, sondern schwebte hoch über der Straße an Klaubers Hand. In rascher Fahrt glitten die Häuser und Laternen an ihm vorüber. Die Häuser standen jetzt weniger dicht beieinander. Sie bildeten alleinstehende Reihen – und dazwischen waren dunkle, geheimnisvolle Löcher, darinnen der Schein der Gasflammen Gruben, Lachen, Schutt und Gebälk unheimlich beleuchtete. Endlich kam eine große Pforte mit schweren Säulen und einem hohen Gitter. In weniger als einem Augenblick waren sie darüber hinweggeschwebt und langten dann auf feuchtem Grase neben einem großen Sandhaufen an. Johannes glaubte in einem Garten zu sein, denn er hörte ringsumher das Rauschen von Bäumen.

»Paß jetzt gut auf, Johannes, und dann behaupte du noch einmal, ich könne nicht mehr als Windekind.«

Darauf rief Klauber mit lauter Stimme einen kurzen, düster klingenden Namen, der Johannes erschauern machte. Ringsumher und allenthalben wiederholte die Dunkelheit den Klang, und der Wind trug ihn empor in gellendem Wirbel, bis er am hohen Himmel verhallte.

Und Johannes bemerkte, wie ihm die Grashalme bis über den Kopf ragten und wie der kleine Stein, der soeben noch zu seinen Füßen gelegen, ihm jetzt die Aussicht benahm. Klauber neben ihm, und ebenso klein wie er, ergriff den Stein mit beiden Händen und wälzte ihn unter Aufbietung all seiner Kräfte um. Von dem nun frei gewordenen Erdboden stieg ein verworrenes Rufen seiner, hoher Stimmchen auf:

»Heda? Wer tut das? – Was soll das bedeuten? – Du Grobian!« So klang es wirr durcheinander.

Johannes sah kleine dunkle Gestalten hurtig umherirren. Er erkannte den behenden schwarzen Laufkäfer, den leuchtend braunen Ohrwurm mit seinen feinen Zangen, die Kellerassel mit ihrem runden Rücken und schlangengleiche Tausendfüßler. Mitten zwischen ihnen zog sich ein langer Regenwurm blitzschnell in seinen Gang zurück.

Klauber ging quer durch die lärmende, keifende Bande auf die Höhle des Regenwurms zu.

»Heda, du langer, nackter Schlingel, komm mal zum Vorschein mit deiner roten Spitznase!« rief Klauber.

»Was willst du?« antwortete der Wurm aus der Tiefe.

»Du mußt heraus, weil ich hinein will. Verstehst du mich wohl, du armseliger Sandfresser!«

Vorsichtig reckte der Wurm seinen spitzen Kopf aus der Öffnung, tastete mehrmals damit umher und zog darauf den nackten geringelten Leib langsam an die Oberfläche.

Klauber warf einen prüfenden Blick auf die anderen Tiere, die sich neugierig um ihn scharten.

»Einer von euch soll mitgehen und uns leuchten. Nein, du schwarzer Käfer, du bist zu dick und du mit deinen tausend Füßen würdest mich schwindlig machen. – Aber du da, Ohrwurm, dein Gesicht gefällt mir. Gehe mit und trage das Licht in deinen Zangen. Laufkäfer, lauf! und suche uns ein Irrlicht oder hole eine Fackel aus morschem Holze.«

Die Tiere bekamen Respekt vor seiner gebieterischen Stimme und gehorchten ihm.

Darauf stiegen sie in den Würmergang hinab. Voran der Ohrwurm mit dem leuchtenden Holz, darauf Klauber und zuletzt Johannes. Dort unten war es eng und finster. Johannes sah die Sandkörner, die von einem matten bläulichen Schimmer schwach beleuchtet waren. Sie erschienen groß wie Steine und halb durchsichtig: der Regenwurm hatte sie mit seinem Körper zu einer festen glatten Wand gescheuert. Der Letztere folgte neugierig. Johannes sah hinter sich seinen spitzen Kopf, der sich ab und zu rasch vorstreckte und dann wieder wartete, bis der lange Leib näher herangezogen war.

Schweigend stiegen sie hinab – lange und tief. Wo der Pfad für Johannes zu steil ward, stützte Klauber ihn. Es schien kein Ende nehmen zu wollen; immerfort neue Sandkörner – und immer weiter und weiter kroch der Ohrwurm, mit des Ganges Windungen sich beugend und windend. Endlich ward der Weg breiter und die Wände wichen voneinander. Die Sandkörner wurden schwarz und feucht; oben bildeten sie ein Gewölbe, an dem entlang Wassertropfen glitzernde Streifen zogen und durch das sich Baumwurzeln streckten, gleich erstarrten Schlangen.

Da plötzlich erhob sich vor Johannes' Blicken eine senkrechte Wand, hoch und schwarz, die den ganzen Raum vor ihnen abschloß. Der Ohrwurm drehte sich um.

»So! nun gilt es, dahinter zu gelangen. Das wird der Regenwurm schon verstehen, der ist hier zu Hause.«

»Komm, zeig uns den Weg!« sagte Klauber.

Langsam schob der Regenwurm den vielgegliederten Leib bis an die schwarze Wand, die er suchend betastete. Johannes sah, daß sie aus Holz war. Hier und dort war sie in bräunlichen Staub zerfallen. An der Stelle bohrte sich der Wurm hinein und der lange geschmeidige Leib glitt in drei Zwischenräumen langsam hinab.

»Jetzt du!« sagte Klauber, während er Johannes in die kleine runde Öffnung stieß. Einen Augenblick glaubte dieser in dem weichen feuchten Mulm ersticken zu müssen; dann fühlte er, wie sein Kopf frei ward und mühsam arbeitete er sich gänzlich aus der engen Öffnung heraus. Ein großer Raum schien ihn zu umgeben. Der Boden war hart und feucht, die Luft dick und unerträglich beklemmend. Johannes wagte kaum zu atmen und wartete in namenloser Angst.

Er hörte Klaubers Stimme, die hohl klang, wie in einem großen Keller.

»Hierher, Johannes, folge mir!«

Vor sich fühlte er den Boden zu einem Berge sich erheben. Den erklomm er, von Klauber geführt, in tiefster Dunkelheit. Ihm war, als wandle er über einen Teppich, der nachgab unter seinen Schritten. Er strauchelte über Gruben und Hügel, indem er Klauber folgte, der ihn mit sich zog bis zu einer ebenen Stelle, wo er sich an lange Halme festklammerte, die wie biegsames Rohr in seiner Hand waren.

»Hier stehen wir gut! – Licht!« rief Klauber.

Da dämmerte in der Ferne das matte Licht, das mit seinem Träger sank und stieg. Je näher es kam und je mehr der fahle Schimmer den Raum erfüllte, desto entsetzlicher ward des Johannes Beklemmung.

Der Berg, den er erstiegen hatte, war weiß und lang gestreckt; der Halm, den er umklammerte, war braun und träufelte sich nach unten zu in glänzenden Wellenlinien.

Er erkannte die gestreckte Gestalt eines Menschen, und die kalte Fläche, auf der er stand, war die Stirne.

Vor ihm lagen, zwei tiefen dunklen Gruben gleich, die eingesunkenen Augen und das bläuliche Licht schien auf die dünne Nase und die grauen Lippen, die in schauerlich-starrem Totengrinsen geöffnet waren.

Aus Klaubers Mund erklang ein schrilles Lachen, das sogleich in den feuchten Holzwänden erstarb.

»Dies ist nun eine Überraschung, Johannes!«

Zwischen den Falten des Leichentuches kam der lange Wurm herangekrochen: vorsichtig schob er sich an dem Kinn entlang und glitt dann über die starren Lippen in die schwarze Mundhöhle.

»Dies ist nun die schönste aus der Tanzgesellschaft –, die, welche du noch schöner fandest als die Elfen. Damals entströmten ihrem Kleide und ihren Haaren süße Düfte, damals erstrahlten ihre Augen und ihre Lippen lachten. – Und sieh jetzt einmal!«

Trotz all seines Entsetzens sprach doch auch Ungläubigkeit aus des Johannes Blicken. – So schnell? – Diese Pracht war soeben noch: und dennoch jetzt schon ...?

»Glaubst du mir nicht?« fragte Klauber grinsend. »Zwischen damals und jetzt liegt ein halbes Jahrhundert. Es gibt weder Zeit noch Stunde. Was einst war, wird allzeit sein und was werden wird, ist allzeit gewesen. Denken kannst du das nicht, aber du sollst es glauben. Hier ist alles Wahrheit, alles, was ich dir zeige, ist wahr! wahr! Das konnte Windekind nicht behaupten.«

Kichernd sprang Klauber auf dem Totenantlitz umher und trieb dort die abscheulichsten Späße. Er saß auf der Augenbraue und zog das Augenlid an den langen Wimpern in die Höhe. Das Auge, das Johannes so freudig hatte glänzen sehen, starrte trübe und runzlig-weiß in den fahlen Dämmerschein.

»Nur vorwärts!« rief Klauber, »es gibt noch mehr zu sehen.«

Langsam kroch der Wurm aus dem rechten Mundwinkel hervor, und die bange Wanderung ward fortgesetzt.

Nicht zurück – sondern über neue ebenso lange und ebenso grausige Wege.

»Jetzt kommt ein Alter«, sagte der Wurm, als wiederum eine schwarze Wand den Weg abschloß. »Der ist hier schon sehr lange.«

Das war weniger entsetzlich als das erste Mal. Johannes sah nur eine verworrene Masse, aus der bräunliche Knochen herausstaken. Hunderte von Würmern und Insekten waren schweigend bei der Arbeit. Das Licht zeitigte Aufruhr.

»Von wo kommt ihr? wer bringt Licht hierher? – Das brauchen wir nicht.«

Und rasch schossen sie von dannen in Furchen und Höhlen. Allein sie erkannten einen Stammgenossen.

»Bist du schon hier nebenan gewesen?« fragten die Würmer. – »Das Holz ist noch hart.«

Der erste Wurm verneinte. – »Er will den Extra-Leckerbissen für sich allein behalten«, sagte Klauber lachend zu Johannes.

Und weiter zogen sie – Klauber erklärte dem Johannes alles und zeigte ihm die, die ihm bekannt waren. Nun kam ein mißformtes Gesicht mit starren Augen, hervorquellenden Augen und aufgedunsenen schwarzen Lippen und Wangen.

»Der hier war ein feiner Herr«, sagte er belustigt – »den hättest du sehen sollen – so reich, so vornehm und so eingebildet. – Seine Aufgeblasenheit hat er beibehalten.«

So ging es weiter.

Da waren auch hagere abgezehrte Gestalten mit weißem Haar, das in dem matten Licht bläulich schimmerte, und kleine Kinder mit großen Köpfen und ältlichen Denkerzügen.

»Sieh, die sind erst nach ihrem Tode alt geworden«, sagte Klauber.

Sie kamen zu einem Mann mit vollem Bart und emporgezogenen Lippen, hinter denen man die weißen Zähne blitzen sah. Mitten in der Stirn hatte er ein kleines rundes schwarzes Loch.

»Dieser hier hat Freund Hein ins Handwerk gepfuscht. Warum denn nicht ein wenig Geduld? Er wäre auch ohnedies hierher gekommen.«

Und wiederum kamen Gänge und immer neue Gänge, und wiederum gestreckte Gestalten mit starren grinsenden Gesichtern und regungslos übereinander gelegten Händen.

»Jetzt gehe ich nicht weiter«, sagte der Ohrwurm, »ich weiß hier den Weg nicht mehr.«

»Laßt uns umkehren«, sagte der Wurm.

»Noch einen! noch einen!« rief Klauber.

Und weiter ging der Zug.

»Alles das, was du hier siehst, besteht«, sagte Klauber, während sie weitergingen, »es ist alles wahr. Nur eines nicht, und das bist du selber, Johannes. Du bist hier nicht und du kannst hier nicht sein.«

Und als er sah, wie angstvoll und hilflos Johannes ihn bei diesen Worten anblickte, brach er in ein schallendes Gelächter aus.

»Dies ist der Letzte! wirklich der Letzte!«

»Es ist hier eine Sackgasse – ich gehe nicht weiter«, sagte der Ohrwurm mürrisch.

»Ich will aber weiter!« sagte Klauber, und begann da, wo der Gang endete, mit seinen beiden Händen zu graben.

»Hilf mir, Johannes!« – Der gehorchte, durch sein Entsetzen völlig willenlos geworden, und grub die feuchte feine Erde aus.

Schweigend und keuchend arbeiteten sie weiter, bis sie auf das schwarze Holz stießen.

Der Wurm hatte den Kopf eingezogen und war nach rückwärts verschwunden. Der Ohrwurm ließ das Licht fallen und ging zurück.

»Wir können nicht hinein – das Holz ist zu neu«, sagte er, während er fortging.

»Ich will aber«, sagte Klauber und dabei riß er mit seinen kralligen Fingern lange weiße Splitter krachend aus dem Holze.

Eine entsetzliche Beklemmung bedrückte Johannes. Allein er mußte, – er konnte nicht anders.

Endlich lag der dunkle Raum frei. Klauber nahm das Licht und kroch eiligst hinein.

»Hierher! hierher!« rief er, während er an das Kopfende trat. Doch als Johannes bei den Händen anlangte, die still übereinander gefaltet auf der Brust lagen, mußte er ruhen. Er starrte auf die weißen mageren Finger, deren obere Seite schwach beleuchtet war. Plötzlich erkannte er sie, erkannte die Form und die Linien der Finger und den Wuchs der langen Nägel, die sich dunkelblau verfärbt hatten. Am Zeigefinger erkannte er ein kleines braunes Fleckchen.

»Hierher! hierher!« ertönte Klaubers Stimme vom Kopfende. »Sieh mal – erkennst du ihn?«

Es waren seine eigenen Hände.

Noch versuchte der arme Johannes sich wieder aufzurichten und auf das Licht zuzugehen, das ihm winkte. Allein er vermochte es nicht mehr. Das Lichtlein verglomm zu vollkommener Dunkelheit, und ohnmächtig brach er zusammen. Er fiel in einen schweren Schlaf, und sank langsam in jene Tiefen hinab, wo es keine Träume mehr gibt.

Und als er sich aus diesen Finsternissen erhob – sachte – dem grauen kühlen Licht des Morgens entgegen, träumte er bunte zarte Träume aus längst vergangener Zeit. Er wachte auf, und sie glitten von seiner Seele wie die Tautropfen von einem Blumenkelch. Ruhig und freundlich war der Ausdruck seiner Augen, die halb noch in den Anblick der lieblichen Bilder versunken waren.

Doch schmerzgequält, wie einer, der das Licht scheut, schloß er sie wieder vor dem fahlen Tageslicht. Er sah, was er auch am vorigen Morgen gesehen hatte. Es schien ihm fern, und vor langen langen Zeiten geschehen. Allein eine Stunde nach der andern kam seiner Erinnerung wieder – von Anbeginn des trüben Morgens bis zu der schaurigen Nacht. Er konnte es nicht glauben, daß all diese Schrecknisse in einem einzigen Tage ihm erschienen sein sollten. Der Anfang seines Elends dünkte ihn so fern und in graue Nebel gänzlich versunken.

Spurlos glitten die lieblichen Träume von seiner Seele ab. – Klauber rüttelte ihn unsanft – und der trübe Tag begann – träge und farblos – der Vorläufer vieler vieler anderer.

Allein das, was er am Vorabend auf jener bangen Wanderung gesehen hatte, wollte nicht von ihm weichen. War es nur eine abscheuliche Vision gewesen?

Als er Klauber zögernd darob befragte, blickte dieser ihn höhnisch und verwundert an.

»Wie meinst du das?« fragte er.

Allein Johannes sah nicht den Spott in seinem Blick und fragte ihn, ob sich denn nicht alles in Wirklichkeit so zugetragen habe, gar scharf und deutlich sähe er es noch vor sich.

»Nein, Johannes, wie du aber dumm bist! Solche Dinge können ja gar nicht geschehen!«

Und Johannes wußte nicht, was er denken sollte.

»Wir wollen dich möglichst rasch an die Arbeit setzen. Dann wirst du wohl nicht mehr so törichte Fragen stellen.«

Und sie gingen zum Doktor Ziffer, der Johannes das finden helfen sollte, wonach er suchte.

Allein in den belebten Straßen machte Klauber plötzlich Halt und zeigte Johannes einen Menschen aus der Menge.

»Kennst du den?« fragte Klauber, und er brach in ein lautes Gelächter aus, als Johannes erbleichte und dem Manne entsetzt nachstarrte.

In der vergangenen Nacht hatte er ihn gesehen, tief unter der Erde.

Der Doktor empfing sie freundlich und teilte Johannes seine Weisheit mit. Stundenlang lauschte er ihm an diesem Tage – und an manch anderem noch, der diesem folgte.

Was er suchte, hatte der Doktor noch nicht gefunden. Er habe es aber beinahe, sagte er. Er wolle Johannes soweit bringen, wie er selber gekommen sei, und dann würden sie wohl gemeinsam zum Ziel gelangen.

Johannes lernte und lauschte, fleißig und geduldig – Tage und Monate lang. Er hegte nur wenig Hoffnung – sah indessen wohl ein, daß er jetzt fortfahren müsse, um so weit wie möglich zu kommen. Er fand es seltsam, daß es, während er doch das Licht suchte, um ihn stets dunkler ward. Das erste von allem, was er lernte, war das Beste, doch je tiefer er durchdrang, desto öder und finsterer ward es um ihn her. Er begann mit den Pflanzen und den Tieren und mit allem, was um ihn her lebte – und wenn er lange Zeit auf sie hin gestarrt hatte, wurden sie zu Ziffern. Alles fiel in Ziffern zusammen – in große Bogen voller Ziffern. Das fand der Doktor Ziffer ganz köstlich, und er sagte, daß es um ihn licht werde, sobald die Ziffern kämen – für den Johannes aber bedeuteten sie Finsternis.

Klauber verließ ihn nicht und trieb und peitschte ihn vorwärts, sobald er mutlos und müde zu werden begann. Jeden Augenblick des Genusses oder der Bewunderung verdarb er ihm.

Johannes staunte und freute sich, als er sah und lernte, wie fein die Blumen gebaut waren, wie sie Früchte bildeten und wie die Insekten ihnen unbewußt bei dieser Arbeit halfen.

»Das ist doch wundervoll«, sagte er. »Wie genau ist das alles berechnet und wie fein und zweckmäßig eingerichtet.«

»Jawohl, erstaunlich zweckmäßig«, sagte Klauber, »schade nur, daß der größte Teil dieser Feinheit und Zweckmäßigkeit zu nichts führt. Aus wie vielen Blüten werden denn Früchte? und wie viel Kerne bringen Bäume hervor?«

»Es scheint aber doch alles nach einem großen Plan angelegt zu sein«, antwortete Johannes. »Sieh nur! die Bienen suchen den Honig für sich selber und wissen nicht, daß sie dabei den Blumen helfen – und die Blumen locken die Bienen durch ihre Farbe an sich. Das ist ein regelrechter Plan und sie alle arbeiten daran mit, ohne es zu wissen.«

»Das erscheint ja alles sehr schön, aber es fehlt doch mancherlei daran. Sobald es den Bienen möglich ist, beißen sie ein Loch in den unteren Teil der Blume und machen die ganze komplizierte Einrichtung zu nichte. Ist das etwa ein gescheiter Projektenmacher, der sich von einer Biene zum Narren halten läßt?«

Angesichts des wunderbaren Organismus von Menschen und Tieren erging es ihm noch schlimmer. An allem, was Johannes schön und kunstvoll erschien, wies er die Unvollkommenheit und die Mängel deutlich nach. Das ganze Heer der Qualen und Leiden, die sowohl Mensch wie Tier befallen können, zeigte er ihm und suchte dabei mit Vorliebe das Widerwärtigste und Abscheulichste aus.

»Der Projektenmacher war zwar ganz klug, Johannes, aber bei allem, was er machte, vergaß er irgend etwas – und die Menschen haben alle Hände voll zu tun, um diese Schäden zu flicken, so gut es eben gehen will. Sieh dich doch nur um! ein Regenschirm, eine Brille, ja sogar Kleider und Häuser, das alles ist menschliches Flickwerk. Das gehört durchaus nicht mit in den Plan hinein. Aber der den Plan entwarf, hat nicht daran gedacht, daß die Menschen frieren und Bücher lesen und tausenderlei andere Dinge tun würden, für die sein Plan nicht taugte. Er hat seinen Kindern Kleider gegeben, ohne daran zu denken, daß sie herauswachsen würden. Jetzt sind schon fast alle Menschen ihren natürlichen Kleidern entwachsen. Jetzt machen sie alles selber und kümmern sich nicht im geringsten mehr um den Projektenmacher und seine Pläne; was er ihnen nicht gegeben hat, das machen sie sich frech zu eigen und da, wo es ihm ersichtlich darum zu tun war, sie sterben zu lassen, entgehen sie dem Tod durch allerhand Kunstgriffe oftmals auf lange Zeit.«

»Aber daran sind doch die Menschen selber schuld«, rief Johannes aus, »warum weichen sie mutwillig von der Natur ab?«

»O, du dummer Johannes! Wenn eine Kinderwärterin ein törichtes Kind mit Feuer spielen läßt und es brennt sich – wer trägt dann die Schuld? Das Kind, das kein Feuer kannte, oder die Wärterin, die wußte, daß das Kind sich verbrennen würde? – Und wer trägt die Schuld, wenn die Menschen sich in Jammer und Unnatur verirren? Sie selber oder der allweise Projektenmacher, mit dem verglichen sie wie unwissende Kinder sind?«

»Aber sie sind nicht unwissend, sie wußten ...«

»Sieh, Johannes, wenn du zu einem Kinde sagst: »rühre das Feuer nicht an, es tut weh,« – und wenn das Kind es dann trotzdem tut, weil es nichts von Weh und Schmerzen weiß, kannst du dich dann etwa von aller Schuld freisprechen und sagen: »Das Kind war nicht unwissend!« Du wußtest doch, daß es deinen Rat nicht beherzigen würde. Menschen sind töricht und dumm wie die Kinder. Glas aber ist spröde, und Lehm ist weich. Und wer Menschen erschafft und ihrer Torheit nicht Rechnung trägt – ist wie einer, der Waffen aus Glas fertigt und nicht bedenkt, daß sie zerbrechen werden, und Pfeile aus Lehm, ohne sich dessen bewußt zu sein, daß sie biegen müssen.«

Diese Worte fielen wie Tropfen flüssigen Feuers in die Seele des kleinen Johannes, und in seiner Brust schwoll das große Leid, das ihn all seine früheren Schmerzen vergessen und ihn so häufig aufschluchzen ließ in den stillen, schlaflosen Stunden der Nacht.

Ach, der Schlaf! der Schlaf! – Nach langen Tagen kam eine Zeit, da ihm der Schlaf von allem das Liebste ward. Darinnen gab es keinen Gedanken und keinen Kummer; und seine Träume führten ihn stets und allzeit in sein früheres Leben zurück. Köstlich erschien ihm es, wenn er davon träumte: allein tagsüber vermochte er sich nicht mehr vorzustellen, wie es gewesen war. Nur das eine wußte er, daß sein Kummer und seine Sehnsucht von damals besser gewesen, als das tote, öde Gefühl, das er jetzt kannte. Einst hatte er voll schmerzlichen Verlangens auf Windekind gewartet, einst hatte er Stunde auf Stunde sich nach Robinetta gesehnt. Wie köstlich war das gewesen!

Robinetta! – Sehnte er sich auch jetzt noch? – Je mehr er lernte, desto mehr schwand sein Verlangen. Denn auch das wurde zerlegt und zergliedert, und Klauber setzte ihm auseinander, was die Liebe eigentlich war. – Da schämte er sich, und Doktor Ziffer fagte ihm, daß er bis jetzt daraus noch keine Ziffern machen könne, daß das aber auch wohl alsbald kommen werde. So ward es stets dunkler und dunkler um den kleinen Johannes.

Ein schwaches Gefühl der Dankbarkeit empfand er dafür, daß er Robinetta auf seiner grauenvollen Wanderung mit Klauber nicht erkannt hatte.

Als er dem Klauber davon sprach, antwortete dieser nichts, sondern lächelte nur schlau. Johannes aber begriff sehr wohl, daß das nicht etwa geschehen sei, um ihn zu schonen.

Die Zeit, da Johannes weder lernte noch arbeitete, gebrauchte Klauber dazu, um ihm die Menschen zu zeigen. Er wußte ihn allüberall hinzuführen – in die Krankenhäuser, wo die Kranken in großen Sälen darniederlagen – lange Reihen bleicher, abgezehrter Gesichter mit müdem oder schmerzgequältem Ausdruck – und wo eine trübselige Stille herrschte, die nur von Husten und Stöhnen hin und wieder unterbrochen ward. Und Klauber zeigte ihm diejenigen unter ihnen, die diese Säle nimmer verlassen würden. Und wenn zu einer bestimmten Stunde Scharen von Menschen das Haus betraten, um ihre kranken Anverwandten zu besuchen, sagte Klauber: »Sieh, die wissen alle, daß auch sie eines Tages in dieses Haus und in diese trüben Säle gelangen müssen, um in einer schwarzen Kiste wieder hinausgetragen zu werden.«

»Wie können sie denn jemals noch froh sein?« dachte Johannes.

Und Klauber führte ihn in einen kleinen, höher gelegenen Saal, wo ein wehmütiges Halbdunkel hing und in den die fernen Klänge eines Klaviers aus einem benachbarten Hause unaufhörlich und träumerisch herüberklangen. Dort zeigte ihm Klauber unter vielen anderen einen Kranken, der stumpfsinnig vor sich hinstarrte auf einen schmalen Sonnenstreif, der träge an der Wand entlang kroch.

»Der liegt dort schon sieben lange Jahre,« sagte Klauber. »Er ist Seemann gewesen und hat Indiens Palmen, Japans blaue Meere und Brasiliens Wälder gesehen. Jetzt freut er sich schon seit sieben Jahren während all der langen Tage einzig und allein an diesem Sonnenstreifchen und dem Klavierspiel. Er kommt hier nie mehr heraus; aber es kann vielleicht noch mal so lange dauern.«

Von dem Tage an war es des Johannes bangster Traum, plötzlich in jenem kleinen Saal zu erwachen, in dem wehmütigen Halbdunkel, bei den träumerischen Klängen, um bis zu seinem Ende nichts anderes mehr zu sehen, als das Kommen und Gehen des schmalen Lichtstreifs.

Klauber führte ihn auch in die großen Gotteshäuser und ließ ihn dem lauschen, was dort verkündet wurde. Er führte ihn auf Feste, zu großen feierlichen Veranstaltungen und in die inneren Gemächer mancher Häuser.

Johannes lernte die Menschen kennen, und oftmals geschah es, daß er an sein einstiges Leben zurückdenken mußte, an die Märchen, die ihm Windekind erzählt, und an seine eigenen Erlebnisse. Da waren Menschen, die ihn an das Glühwürmchen erinnerten, das in den Sternen seine verstorbenen Gefährten zu sehen glaubte – oder an jenen Maikäfer, der um einen Tag älter war als der andere, und der so mancherlei über die Bestimmung seines Lebens gesprochen. Und er hörte Geschichten, die in ihm die Erinnerung an Kritzelflink, den Helden der Kreuzspinnen, wachriefen, oder an den Aal, der nichts tat und nur immerfort von den anderen ernährt wurde, weil sich ein dicker König gar vornehm ausnahm. Sich selber verglich er mit dem jungen Maikäfer, der nicht wußte, was eine Bestimmung sei und der mitten in das Licht hineinflog. Ihm war es, als kröche er hilflos und verstümmelt auf dem Teppich umher, und als sei ihm um den Leib ein scharfes Fädchen geschnürt, an dem Klauber unaufhörlich riß und zerrte.

Ach, den Garten würde er wohl nie mehr finden – wann würde der schwere Fuß kommen und ihn zermalmen?

Klauber verhöhnte ihn, wenn er von Windekind sprach, und allmählich begann er zu glauben, daß es niemals einen Windekind gegeben.

»Aber, Klauber, dann besteht das Schlüsselchen auch nicht, dann besteht überhaupt gar nichts!«

»Nichts! nichts! Ja, Menschen und Ziffern gibt es, das ist alles wahr, das besteht, endlos viele Ziffern.«

»Aber Klauber, dann hast du mich ja betrogen. Laß mich aufhören – laß mich nicht mehr suchen – laß mich allein!«

»Weißt du nicht mehr, was der Tod gesagt hat? – Ein Mensch solltest du werden, ein vollkommener Mensch.«

»Ich will aber nicht – es ist entsetzlich.« »Du mußt – du hast es doch einst gewollt. Sieh dir doch den Doktor Ziffer an – findet der es denn etwa entsetzlich? So werde doch wie er.«

Das mußte er zugeben. Doktor Ziffer erschien allzeit ruhig und glücklich. Unermüdlich und unbeirrt ging er seines Weges, lernend und lehrend, zufrieden und gleichmütig.

»Nimm dir an ihm ein Beispiel,« sagte Klauber, »er sieht alles und sieht dennoch nichts. Er betrachtet die Menschen, als wäre er selber ein ganz anderes Wesen, das mit ihnen nichts gemein hat. Zwischen Qual und Elend schreitet er einher wie ein Unverletzbarer, und mit dem Tode verkehrt er wie ein Unsterblicher. Er wünscht nur das zu begreifen, was er sieht, und alles, was ihm offenbart wird, ist ihm willkommen. Er ist mit allem zufrieden, sobald er es versteht. So mußt auch du werden.«

»Aber das kann ich niemals.«

»Ja, das ist doch nicht meine Schuld.«

Das war immer und allzeit das hoffnungslose Ende ihres Gespräches. Johannes wurde stumpf und gleichgültig und suchte und suchte, – indes er wußte nicht mehr, warum und wonach. Er wurde so wie all die vielen, die mit Wistik gesprochen hatten.

Es ward Winter, und er merkte es kaum.

An einem kalten, nebelgrauen Morgen, als der nasse, schmutzige Schnee auf den Straßen lag und von Bäumen und Dächern troff, machte er mit Klauber seinen täglichen Rundgang.

Auf einem Platz traf er ein paar junge Mädchen mit Schulbüchern in der Hand. Die bewarfen einander mit Schnee und lachten und neckten sich. Hell klangen ihre Stimmchen über den beschneiten Platz. Man hörte keinerlei Geräusch von Fußstapfen oder Wagen. Nichts als die klingenden Schellen der Pferde und ab und zu das Klappen einer Ladentür. Hell tönte das lustige Lachen durch die Stille.

Johannes sah, wie ihn eines der Mädchen anblickte und ihm noch lange nachschaute. Sie trug ein Pelzmäntelchen und einen schwarzen Hut. Ihr Gesicht kannte er recht wohl, wußte aber trotzdem nicht, wer sie war. Sie nickte ihm zu, einmal, und dann nochmals.

»Wer ist sie? Ich kenne sie.«

»Ja, das ist schon möglich. Sie heißt Maria. Einige nennen sie auch Robinetta.«

»Nein, das kann nicht sein, denn sie sieht dem Windekind nicht ähnlich. Sie ist ein Mädchen wie alle andern.«

»Hahaha! Sie kann doch nicht einem Niemand ähnlich sehen. Aber sie ist eben, wer sie ist. Du hast dich so sehr nach ihr gesehnt, jetzt will ich dich zu ihr führen.«

»Nein, ich will aber nicht. Viel lieber hätte ich sie tot gesehen, so wie die andern.«

Und Johannes schaute sich nicht mehr um, sondern lief eilig weiter und murmelte vor sich hin:

»Das ist das Letzte! Es besteht nichts! Nichts!« Das klare, warme Sonnenlicht eines jungen Lenzmorgens überflutete die große Stadt. Helle Strahlen drangen in das Kämmerlein, das Johannes bewohnte, und an der niedrigen Decke zitterte und schwankte ein großer Lichtflecken – die Spiegelung des sich kräuselnden Kanalgewässers.

Johannes sah am Fenster im Sonnenschein und schaute über die Stadt, die jetzt so gänzlich anders aussah. Aus dem grauen Nebel war ein strahlend blauer Sonnendunst geworden, der die langen Straßen und die fernen Türme umhüllte. Die Schieferdächer glitzerten silbern-weiß und alle Häuser zeigten im Glanz des Sonnenlichtes klare Umrisse und lichte Flächen – an dem zartblauen Himmel war es wie ein Funkeln und Blitzen. Das Wasser schien lebendig geworden, die braunen Knöspchen der Ulmen waren dick und glänzend, und lärmende Spatzen flatterten unablässig zwischen den Zweigen umher.

Und während er so schaute, ward es Johannes gar seltsam zumute. Der Sonnenschein brachte eine süße Betäubung über ihn.

Darinnen lag Vergessenheit und unmittelbare Wollust. Träumerisch blickte er auf das Glitzern der kleinen Wogen und auf die schwellenden Knöspchen des Ulmenbaumes, und er lauschte dem Zwitschern der Spatzen, das ihm Freude kündete.

So weich gestimmt war er schon lange nicht mehr gewesen; so glücklich hatte er sich seit langem nicht gefühlt.

Das war der alte Sonnenschein, den er wieder erkannte, das war die Sonne, die ihn einst hinausgelockt in den Garten, wo er sich dann in dem Schutz eines alten Gemäuers aus den durchwärmten Boden hingestreckt – und lange Zeit all das Licht und all die Wärme genossen – auf die Hälmchen blickend, die sich's in der Sonne wohl sein ließen.

Ihm war so selig zumute in diesem Licht, und es überkam ihn ein gar heimatliches Gefühl, wie er sich erinnerte, daß er es vor vielen, vielen Jahren in den Armen seiner Mutter gekannt. An alles Vergangene mußte er zurückdenken, allein er weinte oder sehnte sich nicht. Er saß still da und träumte, nichts anderes wünschend, als daß die Sonne auf immer so scheinen möge.

»Was sitzest du da und träumst, Johannes?« rief Klauber. »Du weißt doch, daß ich das nicht leiden kann!«

Johannes richtete seine nachdenklichen Augen flehentlich auf ihn.

»Laß mich doch noch ein kleines Weilchen hierbleiben!« bat er. »Die Sonne ist so gut.«

»Was findest du doch eigentlich an dieser Sonne?« fragte Klauber. »Sie ist doch im Grunde genommen nichts anderes als eine große Kerze – ob du in Kerzenlicht schaust oder in den Sonnenschein, das kommt auf eins heraus. Sieh, diese Schatten und die hellen Flecken auf der Straße, das ist doch nichts anderes als der Schein eines Lichtes, das ruhig brennt, ohne zu flackern. Und dieses Licht ist in Wahrheit nur ein kleines Flämmchen, das nur ein ganz kleines Stückchen von der Welt bestrahlt. Dort, dort, vorüber an jenem Blau und unter und über uns ist es dunkel, kalt und dunkel. Dort ist es jetzt Nacht, jetzt und allzeit!«

Allein seine Worte machten keinen Eindruck auf Johannes. Die stillen Sonnenstrahlen erwärmten ihn und erfüllten seine ganze Seele – und in ihm war es licht und friedlich.

Klauber nahm ihn mit in das frostig-kalte Haus des Doktor Ziffer. Eine Weile noch schwebten ihm die Sonnenbilder vor Augen, bis sie allmählich verblaßten und es um die Mittagszeit völlig dunkel ward in ihm. Doch als der Abend kam und er wiederum durch die Straßen der Stadt wanderte, war die Luft schwül und von feucht-süßen Frühlingsdüften erfüllt. Alles duftete stärker, und in den engen Straßen ward ihm gar beklommen zumute. Auf den offenen Plätzen aber roch er das Gras und die Knospen des Waldes, und über der Stadt gewahrte er den Lenz in den ruhigen Wölkchen und dem zarten Rot des westlichen Himmels.

Die Dämmerung breitete einen weichen, grauen Nebel voll zarter Färbungen über der Stadt aus. In den Straßen ward es still. Nur in der Ferne spielte eine Drehorgel eine wehmütige Weise. Die Häuser hoben sich, dunkeln Schatten gleich, von dem rötlichen Abendhimmel ab und reckten ihre seltsam geformten spitzen Dächer und Schornsteine wie unzählige Arme empor.

Dem Johannes schien es wie ein freundliches Lächeln der Sonne, als sie zum letztenmal über der großen Stadt leuchtete – freundlich wie das Lächeln, das eine Torheit verzeiht. Und die warme Schwüle streichelte dem kleinen Johannes liebkosend über die Wangen.

Da beschlich eine große Wehmut sein Herz, so groß und so schwer, daß er nicht weiterzugehen vermochte und tiefaufatmend sein Antlitz gen Himmel erhob. Der Frühling rief ihn, und er hörte es. Er wollte antworten, daß er kommen werde. In ihm war alles Reue und Liebe und Verzeihung.

Sehnsuchtsvoll starrte er hinaus, und Tränen entquollen seinen trüben Augen.

»Aber, Johannes, sei doch nicht so töricht, die Menschen sehen dich schon alle an«, sagte Klauber.

Düster streckten sich die langen eintönigen Häuserreihen zu beiden Seiten hin. Wie ein Jammer klang es durch die schwüle Luft, wie ein Wehruf durch des Lenzes Locken.

Die Menschen saßen vor ihren Häusern, um den Frühling zu genießen. Das erschien Johannes wie Hohn. Die schmutzigen Türen standen offen, und der dumpfe Raum dort drinnen harrte ihrer. Noch ließ die Orgel in der Ferne ihre wehmütigen langgezogenen Töne erklingen.

»O, wenn ich doch von hier fortfliegen könnte, weit fort zu den Dünen und zu der See!«

Allein er mußte mit in das hohe, kleine Stübchen, und jene Nacht verbrachte er wachend.

Er mußte an seinen Vater denken und an die langen Wanderungen, die er mit ihm gemacht, wenn er um zehn Schritt hinter ihm ging und sein Vater ihm allerhand Buchstaben in den Sand schrieb. All der Fleckchen entsann er sich, wo die Veilchen zwischen dem Gestrüpp wuchsen, und der Tage, da er sie mit seinem Vater gesucht. Die ganze Nacht hindurch glaubte er das Gesicht seines Vaters zu sehen, so wie es aussah, wenn er ihn des Abends beim stillen Schein der Lampe anblickte und dem Kritzeln seiner Feder lauschte.

Und jeden Morgen bat er Klauber inständig doch noch einmal zurückkehren zu dürfen in sein Heim und zu seinem Vater, um nur einmal noch seinen Garten und die Dünen zu schauen. Jetzt merkte er, daß er seinen Vater inniger geliebt hatte als Presto und sein Kämmerlein – denn nur um seinetwillen war es, daß er bat.

»Sage mir nur das Eine: wie es ihm geht und ob er mir noch böse ist, weil ich so lange fortgeblieben bin.«

Klauber zuckte die Achseln. – »Und wenn du das wüßtest, was würde es dir nützen?«

Allein der Lenz fuhr fort ihn zu rufen, lauter und immer lauter. In jeder Nacht träumte ihm von dem dunkelgrünen Moose, das an den Dünenhängen wuchs, und von den Sonnenstrahlen, die durch das zarte, junge Grün schimmerten.

»So kann das nicht länger gehen«, dachte Johannes, »ich kann es nicht ertragen.« Und oftmals, wenn er nicht schlafen konnte, erhob er sich leise, ganz leise, und trat ans Fenster und starrte in die Nacht hinaus. Und er sah, wie die zarten, flaumigen Wölkchen langsam an der Mondscheibe vorüberzogen und friedlich in einem Meer von sanftem Glanz sich badeten. Und er dachte daran, wie jetzt dort in der Ferne die Dünen schlummerten in der schwülen Nacht, wie köstlich es sein müsse in dem jungen Gebüsch, wo sich keins der Blättchen regte und wo es nach feuchtem Moos und jungen Birkenreisern duftete. Von weitem glaubte er den wogenden Chor der Frösche zu hören, der so geheimnisvoll durch die Felder rauscht – und das Lied des einzigen Vogels, der die feierliche Stille begleiten darf, der seinen Sang so sanft und klagend beginnt und so jäh beendet, daß die Stille nur noch um so stiller erscheint. Und alles, alles rief ihn. Tief beugte er den Kopf auf das Fenstersims herab und schluchzte herzzerbrechend.

»Ich kann nicht! Ich kann es nicht ertragen! Wenn ich nicht kommen darf, so werde ich wohl alsbald sterben.«

Als ihn Klauber am folgenden Tage weckte, saß er noch am Fenster, wo er eingeschlafen war, den Kopf auf die Arme gestützt.

Die Tage schwanden und wurden lang und warm – und nichts änderte sich. Allein Johannes starb nicht, und seinen Kummer mußte er tragen.

Eines Tages sagte Doktor Ziffer zu ihm:

»Willst du mitgehen, Johannes? ich muß einen Kranken besuchen.«

Doktor Ziffer war allgemein als ein gelehrter Mann bekannt und viele baten ihn um seine Hilfe gegen Tod und Krankheit. Johannes hatte ihn schon oft begleitet.

An jenem Tage war Klauber ganz besonders aufgeräumt. Immer wieder stellte er sich auf den Kopf, schlug Purzelbäume und trieb allerhand tolle Späße. Er kicherte fortwährend geheimnisvoll, wie einer, der einem anderen eine Überraschung bereitet hat. Wenn er in dieser Stimmung war, fürchtete Johannes ihn am meisten.

Doktor Ziffer indessen blieb ernst wie immer.

Sie legten einen weiten Weg zurück. Erst mit der Bahn und dann zu Fuß. Sie gingen weiter als sonst; noch niemals hatten sie Johannes bis vor die Tore der Stadt mitgenommen.

Es war ein warmer, sonniger Tag. Johannes sah die weiten, grünen Wiesen vorüberziehen mit ihrem hochgewachsenen, gefiederten Grase und ihren weidenden Kühen. Er sah, wie weiße Falter über die blumenbesäten Lande dahinschwebten, und wie die ganze Luft in der Sonnenglut erzitterte.

Doch plötzlich durchfuhr ihn ein Zucken – dort erstreckte sich die lange, wogende Dünenreihe!

»So, Johannes«, meinte Klauber kichernd, »jetzt bekommst du doch noch deinen Willen, siehst du wohl!«

Halb ungläubig starrte Johannes auf die Dünen. Sie kamen näher und immer näher. Die langen Gräben zu beiden Seiten schienen sich um ihren eigenen Mittelpunkt zu drehen, und blitzschnell flogen die Wohnungen vorüber, die vereinzelt am Wege lagen.

Dann kamen die Bäume: dicht belaubte Kastanien, an denen Tausende von weißen und roten Blütendolden üppig prangten – bläulich-grüne Tannen – große, stattliche Linden.

Es war also dennoch wahr: er sollte seine Dünen wiedersehen. Der Zug hielt, und nun setzten die drei ihren Weg unter schattenspendenden Bäumen zu Fuß fort.

Da war das dunkelgrüne Moos, da waren die runden Sonnenflecken auf dem Waldboden, da war der Duft der Birkenreiser und der Fichtennadeln.

»Ist es denn wahr? Ist es denn wirklich wahr?« dachte Johannes, »ob jetzt das Glück wohl kommen wird?« Seine Augen leuchteten und sein Herz pochte heftig. Er begann an sein Glück zu glauben. Diese Bäume, diesen Waldgrund kannte er – und wie oft war er über diesen kleinen Pfad gegangen!

Sie waren allein auf dem Wege. Indes Johannes mußte sich immer und immerfort umschauen, gleich als folge ihnen jemand. Und es war ihm, als sähe er zwischen dem Laubwerk der Eichen die dunkle Gestalt eines Menschen, die jedesmal wieder hinter der letzten Biegung des Pfades verborgen blieb.

Klauber blickte ihn arglistig und geheimnisvoll an. Doktor Ziffer machte große Schritte und starrte schweigend vor sich hin.

Der Weg wurde ihm stets vertrauter – jeden Stein, jeden Strauch kannte er. – Und plötzlich erschrak Johannes heftig, denn er stand vor seinem eigenen Hause.

Der Kastanienbaum breitete seine großen handförmigen Blätter schattenspendend aus. Bis hinauf in den höchsten Wipfel prangten die prächtigen weißen Blüten zwischen dem vollen üppigen Laube.

Er hörte das Geräusch der sich öffnenden Türe, das er gar wohl kannte. Ja, das war sein einstiges Heim. Und er erkannte den Flur, die Türen, alles Stück für Stück – und ihn beschlich ein schmerzliches Gefühl um unwiederbringlich verlorenes, vertrautes Glück. Das alles bildete einen Teil feines Lebens, seines einsamen verträumten Kinderlebens. Zu all diesen Gegenständen hatte er gesprochen; er hatte mit ihnen gelebt in seinem eigenen Gedankenleben, in das er keinen Menschen einließ. Jetzt aber fühlte er sich von dem ganzen alten Hause getrennt und losgelöst, von dem alten Hause mit seinen Stuben, seinen Gängen und seinen Winkeln. Er fühlte, daß die Trennung unwiderruflich war, und ihm war trübselig und wehmütig ums Herz, gleich als betrete er einen Kirchhof. Wenn ihm doch bloß der Presto entgegengesprungen wäre, dann würde das alles viel weniger schrecklich sein – aber Presto war gewiß fort oder gar schon tot.

Aber wo war denn sein Vater?

Er blickte zurück nach der geöffneten Türe und in den sonnigen Garten da draußen und sah den Mann, der ihnen auf ihrem Wege immerfort zu folgen schien, langsam auf das Haus zuschreiten. Er kam näher und immer näher und schien größer zu werden, je näher er kam. Als er bei der Türe angelangt war, fiel ein großer frostiger Schatten in den Hausflur. Da erkannte Johannes den Mann.

Im Hause war es totenstill, und schweigend gingen sie die Treppe hinauf. Da war eine Stufe, die unter jedem Schritt knarrte, das wußte Johannes. Und auch jetzt hörte er sie dreimal knarren – das klang wie ein schmerzliches Stöhnen. – Unter dem vierten Schritt aber war es wie ein dumpfes Schluchzen.

Und oben hörte Johannes ein Ächzen, leise und so regelmäßig wie das langsame Ticken einer Uhr. Unheimlich und qualvoll war es anzuhören.

Die Tür zu Johannes' Stübchen stand offen. Er warf flüchtig einen scheuen Blick hinein. Die seltsamen Blumengebilde der Tapete starrten ihn erstaunt und wesenlos an. Die Wanduhr stand still.

Sie gingen in das Zimmer, aus dem das Ächzen drang. Es war seines Vaters Schlafzimmer. Lustig schien die Sonne hinein auf die geschlossenen grünen Vorhänge des Bettes. Simon, der Kater, saß auf der Fensterbank im Sonnenschein. In dem Raume hing ein beklemmender Duft von Wein und Kampfer. Ganz nahe hörte man jetzt das leise Wimmern.

Johannes vernahm flüsternde Stimmen und das Schlürfen behutsamer Schritte. Dann wurden die grünen Vorhänge zurückgeschlagen.

Er sah das Gesicht seines Vaters, das er in der letzten Zeit so oft vor sich gesehen. Allein ganz anders war es jetzt. Der freundliche ernste Ausdruck war gewichen, und starr und angstvoll schaute es drein. Es war fahlbleich, mit tiefen dunkeln Schatten. In dem halb geöffneten Munde waren die Zähne sichtbar und unter den nicht gänzlich geschlossenen Lidern das Weiß der Augen. Der Kopf war tief in die Kissen vergraben und richtete sich bei jedem Stöhnen mühsam auf, um dann sofort wieder ermattet zurückzusinken.

Regungslos stand Johannes an dem Bett und schaute weit geöffneten starren Auges auf das wohlbekannte Gesicht. Er wußte nicht was er dachte – wagte kaum einen Finger zu rühren – wagte die alten welken Hände nicht zu fassen, die schlaff auf dem weißen Linnen lagen.

Um ihn her ward alles schwarz, die Sonne und das helle Zimmer, das Grün da draußen und der blaue Himmel, den er soeben noch geschaut und alles, was hinter ihm lag, wurde schwarz und trübe und undurchdringlich. Und in jener Nacht sah er einzig und allein den bleichen Kopf, der da vor ihm lag. Und konnte immerfort nur an das arme Haupt denken, das so müde schien und das sich doch immer und immer wieder schmerzlich stöhnend aufrichten mußte.

Da kam für einen Augenblick eine Veränderung in die regelmäßige Bewegung. Das Stöhnen ließ nach, die Augenlider öffneten sich langsam, der Blick irrte suchend umher und die Lippen versuchten zu sprechen.

»Guten Tag, Vater!« flüsterte Johannes, während er ängstlich zitternd in die suchenden Augen starrte. Da weilte der müde Blick einen Augenblick auf ihm und über die hohlen Wangen spielte ein mattes, mattes Lächeln. Die schmale weiße Hand hob sich von dem Linnen empor und machte eine unsichere tastende Bewegung zu Johannes hin; dann fiel sie wieder kraftlos zurück.

»Ach was!« sagte Klauber, »bitte keine Szenen hier!« »Mach mir Platz, Johannes,« sagte Doktor Ziffer, »wir müssen sehen was hier zu tun ist.«

Und der Doktor begann seine Untersuchung: Johannes aber trat von dem Bett weg ans Fenster. Er blickte hinaus auf den sonnenbeschienenen Rasen und den leuchtenden Himmel und die breiten Kastanienblätter, auf denen dicke Fliegen saßen, die im Sonnenschein bläulich schillerten.

Und mit derselben Regelmäßigkeit hub das Stöhnen wieder an.

Eine schwarze Amsel hüpfte zwischen dem hohen Grase im Garten umher – große rot und schwarzgesprenkelte Falter flatterten über den Blumenbeeten, und aus dem Laubwerk der höchsten Bäume klang das sanfte einschmeichelnde Girren der Holztauben Johannes ans Ohr.

Hier drinnen hielt das Stöhnen an – immerfort und unaufhaltsam. Er mußte darauf hören – es kam regelmäßig und unabwendbar wie der fallende Tropfen, der Einen zum Wahnsinn bringen kann. Gespannt wartete er während jeder Pause, und immer kam es wieder, entsetzlich wie der Schritt des nahenden Todes.

Und dort draußen warmer Sonnenfrieden. Alles genoß freudig sein Dasein. Die Gräser erzitterten und die Blätter raschelten voll süßer Wollust – über den hohen Wipfeln der Bäume, tief in dem wimmelnden Blau, schwebte ein Reiher mit ruhigem Flügelschlag.

Johannes begriff es nicht – es war ihm alles ein Rätsel. – In seiner Seele war es so verworren und so düster. – »Wie ist es nur möglich, daß sich das alles zugleich in mir regt?« dachte er. – »Bin ich wirklich ich? und ist das mein Vater, mein eigener Vater? Mein Vater, der Vater des Johannes?«

Es war ihm, als spräche er von einem Fremden. Das alles war eine Geschichte, die er mit angehört hatte. Er hatte jemanden erzählen hören von Johannes und von dem Hause, in dem er gewohnt, und von seinem Vater, den er verlassen hatte und der nun im Sterben lag. Er war es nicht selber – er hatte es nur erzählen hören. Es war wohl eine traurige, gar traurige Geschichte, aber ihn ging sie nichts an.

Ja – ja, oder doch! Er war es selber, er, Johannes!

»Ich kann mir die Sache nicht erklären,« sagte Doktor Ziffer, indem er sich wieder aufrichtete, »der Fall ist mir völlig rätselhaft.«

Klauber trat neben Johannes.

»Willst du dir die Sache nicht mal anschauen, Johannes? Es ist ein interessanter Fall, der Doktor versteht ihn nicht.«

»Laß mich,« sagte Johannes, ohne sich umzuwenden, »ich kann nicht denken.«

Klauber aber stellte sich hinter ihn und flüsterte ihm, seiner Gewohnheit gemäß, scharf ins Ohr:

»Nicht denken? glaubst du, du könntest nicht denken? da irrst du dich aber. – Du mußt denken. – Und wenn du auch noch so starr auf all das Grün und in den blauen Himmel schaust, das nützt dir alles nichts. Windekind kommt doch nicht, und der kranke Mann da muß doch sterben. Das hast du ebenso gut gesehen wie wir. Aber woran mag er wohl leiden? was glaubst du?«

»Ich weiß es nicht! ich will es nicht wissen.«

Johannes schwieg und horchte auf das Stöhnen. Das klang klagend und vorwurfsvoll. Doktor Ziffer machte eifrig Notizen. Am Kopfende des Bettes saß die dunkle Gestalt, die ihnen gefolgt war, den Kopf geneigt, die lange Hand nach dem Kranken ausgestreckt und die tiefliegenden Augen fest auf die Uhr gerichtet.

Wiederum klang das scharfe Flüstern an sein Ohr.

»Warum schaust du so traurig drein, Johannes? jetzt hast du doch deinen Willen. Dort liegen die Dünen, da sind die Sonnenstrahlen, die durch das Grün schimmern, und allüberall flatternde Falter und singende Vögel. Was willst du noch mehr? – wartest du auf Windekind? Wenn er irgendwo ist, so muß er doch dort sein. Warum kommt er denn jetzt nicht? Sollte er sich etwa vor diesem düsteren Freunde fürchten, der am Kopfende des Bettes sitzt? Der war doch allzeit da. Siehst du nun wohl, daß es alles Einbildung gewesen ist. Johannes?«

»Hörst du das Stöhnen? Es klingt schon leiser als zuvor. Man kann merken, daß es bald gänzlich aufhören wird. Nun, was soll das? Es haben schon so viele gestöhnt, auch während du ruhig hier draußen zwischen den Dünenrosen umherwandeltest. Warum stehst du jetzt so traurig da? Warum gehst du nicht in die Dünen, so wie einst? Sieh, alles duftet und blüht und singt da draußen, gleich als ob hier drinnen gar nichts geschähe. Warum nimmst du nicht teil an all der Fröhlichkeit und dem jungen Leben?«

»Erst klagst du und sehnst dich – jetzt führe ich dich dorthin wo du sein wolltest, und nun ist es dir wiederum nicht recht. Sieh, ich gebe dich frei. Gehe hin und wandle durch das hohe Gras und strecke dich in den kühlen Schatten und laß die Fliegen um dich hersummen und atme den Duft der jungen Kräuter ein. Ich gebe dich frei – so geh doch und mach dich auf die Suche nach Windekind!«

»Du willst nicht? Glaubst du denn jetzt doch einzig und allein an mich? Sag mir, ist es wahr, was ich dir erzählt habe? Wer hat gelogen? Windekind oder ich?«

»Hör nur das Stöhnen! so kurz und so schwach. Bald wird es gänzlich stille werden.«

»Aber schau dich doch nicht so ängstlich um, Johannes. Je eher es still wird, desto besser. Jetzt wird es keine langen Wanderungen mehr geben – jetzt wirst du keine Veilchen mehr mit ihm suchen. Mit wem mag er wohl spazieren gegangen sein, während der zwei Jahre, da du fortwarst? was meinst du?«

»Ja, jetzt kannst du ihn nicht mehr danach fragen, und niemals wirst du es erfahren. Jetzt mußt du dich schon mit mir zufrieden geben. Hättest du mich ein wenig früher gekannt, so brauchtest du jetzt nicht so jämmerlich drein zu schauen. Du bist noch lange nicht so wie du sein solltest. Glaubst du etwa, daß der Doktor Ziffer in deinem Fall so unglücklich aussehen würde? Es würde ihn ebenso traurig machen wie jene Katze, die dort im Sonnenschein schnurrt. Und es ist gut so. Wozu dient all die Verzweiflung? Haben die Blumen sie dich etwa gelehrt? Die trauern auch nicht, wenn eine von ihnen gepflückt wird. Ist das nicht glücklich? Sie wissen nichts, darum sind sie so. Du hast nun einmal angefangen, etwas zu wissen, jetzt mußt du, um glücklich zu werden, auch alles erfahren, und dazu kann nur ich dir verhelfen. Alles oder nichts.«

»Höre mich an. Was tuts, daß das dein Vater ist? Es ist ein Mensch, der stirbt – das ist ein ganz alltägliches Ereignis.«

»Hörst du das Stöhnen noch? Ganz matt, nicht wahr? Es wird jetzt wohl bald zu Ende gehen.«

Voll banger Beklommenheit schaute Johannes nach dem Bette.

Simon, der Kater, sprang von der Fensterbank herunter, reckte und streckte sich und legte sich dann schnurrend ins Bett neben den Sterbenden.

Das arme müde Haupt regte sich nicht mehr – still lag es in die Kissen zurückgesunken – allein aus dem halbgeöffneten Munde drang noch immer das kurze kaum hörbare Stöhnen.

Es wurde leiser und immer leiser.

Da wandte der Tod die dunklen Augen von der Uhr zu dem eingefallenen Kopf hinüber und hob die Hand auf. Dann ward es still.

Ein fahler Schatten breitete sich über das starre Antlitz. Stille – dumpfe, leere Stille. Johannes wartete und wartete.

Allein das regelmäßige Geräusch kehrte nicht wieder. Es blieb still – ringsumher eine große, säuselnde Stille.

Die Spannung des Horchens, die er während der letzten Stunde empfunden, ließ nach, und es war Johannes, als werde seine Seele freigegeben, als stürze sie herab in eine dunkle bodenlose Tiefe.

Er fiel tiefer und tiefer. Um ihn her ward es immer stiller und düsterer.

Da erklang Klaubers Stimme, gleichsam wie aus weiter Ferne.

»So, diese Geschichte wäre also auch wieder mal zu Ende.«

»Das ist ganz gut,« sagte Doktor Ziffer, »jetzt kannst du feststellen, was es gewesen ist. Ich überlasse das dir. Ich muß fort.«

Noch immer halb im Traum sah Johannes funkelnde Messer blitzen.

Der Kater machte einen hohen Rücken. Neben dem Körper ward es kalt, und so suchte er wiederum die Sonne auf.

Johannes sah, wie Klauber ein Messer nahm, wie er es aufmerksam betrachtete und dann damit auf das Bett zuschritt.

Da schüttelte Johannes die Betäubung von sich ab. Noch bevor Klauber das Bett erreicht hatte, stand er vor ihm.

»Was willst du tun?« fragte er. Seine Augen waren vor Entsetzen weit geöffnet.

»Wir wollen sehen, was es gewesen ist,« antwortete Klauber.

»Nein,« sagte Johannes, und seine Stimme klang tief wie die eines Mannes.

»Was soll das heißen?« fragte Klauber mit grimmig funkelnden Augen. »Du willst mir etwas verbieten? weißt du denn nicht, wie stark ich bin?«

»Ich leide es aber nicht,« antwortete Johannes. Er biß die Zähne zusammen und holte tief Atem. Festen Blickes schaute er Klauber an, während er die Hand nach ihm ausstreckte.

Allein Klauber trat näher. Da packte Johannes ihn an beiden Pulsen fest und rang mit ihm.

Klauber war stark, das wußte er; noch niemals hatte er ihm widerstanden. Aber er ließ nicht nach und sein Wille zerbrach nicht.

Das Messer blitzte vor seinen Augen; er sah Funken und rote Flammen vor seinen Blicken tanzen, allein er gab nicht nach, sondern fuhr fort zu ringen.

Er wußte, was kommen würde, wenn er unterläge. Er kannte es, er hatte es schon oft gesehen. Allein was da hinter ihm lag, das war sein Vater, und das wollte er nicht sehen.

Und während sie keuchend mit einander rangen, lag hinter ihnen der tote Körper regungslos ausgestreckt, so wie er in dem Augenblick gelegen, als die Stille kam, das Weiß der Augen sichtbar wie ein schmaler Streif, die Mundwinkel zu einem starren Grinsen verzerrt. Nur wenn die Beiden in ihrem Kampf gegen das Bett stießen, wackelte der Kopf leise hin und her.

Noch blieb Johannes standhaft, aber der Atem ging ihm aus und er sah nichts mehr. Vor seine Augen legte sich ein Schleier aus blutrotem Licht. Dennoch blieb er standhaft.

Da begann der Widerstand der beiden Pulse unter seinem Griff allmählich schwächer zu werden. Seine Muskeln entspannten sich – die Arme hingen ihm schlaff am Körper herab, und seine geschlossenen Hände waren leer.

Als er aufblickte, war Klauber verschwunden. Nur der Tod saß am Bett und nickte. »Das war recht von dir, Johannes,« sagte er.

»Wird er wiederkommen?«

Der Tod schüttelte den Kopf.

»Nie. Wer einmal den Kampf mit ihm aufgenommen hat, der sieht ihn nicht wieder.«

»Und Windekind? Werde ich Windekind jetzt wiedersehen?«

Lange Zeit schaute der düstere Mann Johannes an. Sein Blick war jetzt nicht mehr grauenerregend, sondern ernst und milde, und Johannes schien er lockend wie eine endlose Tiefe.

»Nur ich kann dich zu Windekind führen. Mit mir allein kannst du das Büchelchen finden.«

»So nimm mich mit – jetzt ist niemand mehr da – nimm auch mich jetzt mit, so wie die Andern – ich wünsche nichts anderes mehr ...«

Abermals schüttelte der Tod den Kopf. »Du hast die Menschen lieb, Johannes. Du wußtest es nicht, aber du hast sie allzeit lieb gehabt. Du sollst ein guter Mensch werden. Es ist schön ein guter Mensch zu sein.«

»Ich will nicht, – nimm mich mit ...«

»Das ist nicht wahr. Du willst. Du kannst nicht anders ...«

Da zerfloß die große dunkle Gestalt langsam in Nebel – ein dünner grauer Nebelschleier durchschwebte das Gemach und zog hinaus, an den Sonnenstrahlen vorüber.

Johannes neigte den Kopf über den Rand des Bettes und weinte bei dem toten Manne.


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