Frederik van Eeden
Der kleine Johannes
Frederik van Eeden

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Zu den fleißigen Besuchern der Villa Dolores gehörte auch ein katholischer Prälat, ein Freund des verstorbenen Grafen. Er war ein breitschultriger, jovialer Mann, der niemals über religiöse Dinge sprach, hin und wieder als gemütlicher Tischgenosse an den Mahlzeiten teilnahm und stets lustige und interessante Dinge erzählte, denen Johannes begehrlich lauschte.

Er war ein viel liebenswürdigerer Mann als Pfarrer Kraalboom, und Johannes mochte ihn viel lieber. Er wußte viel von Blumen und Tieren, von Gedichten, Gemälden und Musik, und verstand es, sich über das schöne Italien und das heilige Rom zu unterhalten, das er oft bereist und wo er studiert hatte.

Zu den »Plejaden« gehörte er natürlich nicht, und wenn dieser Kreis ausnahmsweise einmal in seiner Gegenwart genannt wurde, dann schwieg er, denn er war ein vorsichtiger Mann von feiner Lebensart.

Doch nach der ersten Zusammenkunft, von der ich im vorigen Kapitel erzählte, wollte es dem Johannes erscheinen, als käme er öfter denn zuvor, und zwar außerhalb der gewöhnlichen Besuchsstunden. Und wenn Johannes dann eintrat, bemerkte er, daß das Gespräch zwischen der Gräfin und dem Priester plötzlich stockte, und er sah auch, daß seine liebenswürdige Wirtin mehr Röte auf den Wangen hatte als sonst. Allem Anschein nach hatten sie gar wichtige Dinge besprochen.

»Dein Mahatma kommt nicht,« sagte Dolores eines Tages, nachdem der Priester gegangen, zu Johannes, »er läßt uns im Stich.«

»Ja, Frau Gräfin,« mußte Johannes eingestehen.

»Zum Glück glaube ich bereits einen klugen Mann gefunden zu haben, der mir helfen kann.«

»Meinen Sie den Pater Canisius?«

»Ja. Weißt du, was der sagt? Er sagt, daß wir mit unseren Untersuchungen auf einem gefährlichen Wege seien. Das sei lauter Teufelswerk, behauptet er, und alles, was er sagt, stimmt auch ganz genau mit dem überein, was wir an jenem Abend gehört haben. Möchtest du nicht auch mal mit ihm sprechen?«

Allein Johannes zauderte. Er hatte Marion noch nicht gesprochen und hoffte von ihr sicherlich etwas über seinen Bruder zu hören.

Marion ging ihm beharrlich aus dem Wege, und noch hatte er keine Gelegenheit gefunden, sie allein zu sprechen. Klopfenden Herzens ging er jeden Tag in seine kleine Stube hinauf in der Hoffnung, daß er sie dort finden würde, während sie beim Aufräumen war. Aber dann war sie meistens schon damit fertig, und er fand nur noch die Spuren ihrer Sorgfalt.

Wie sie seine Kleider gebürstet und zusammengelegt, seine Wäsche nachgesehen und in den Schrank geräumt, und eine kleine Vase mit Blumen auf seinen Tisch gestellt hatte. Er bemerkte das alles sehr wohl, und es rührte ihn.

Aber sie sorgte stets dafür, daß sie in Gesellschaft der übrigen Dienstboten war, und dann benahm sie sich so streng und so kühl, wie das koketteste und zugleich prüdeste und bestgeschulte Kammerzöfchen. Mit keinem Wort, keinem Blick und keiner Bewegung verriet sie, daß sie Johannes kannte. Und oftmals hörte er die Gräfin ihren Besucherinnen erzählen, daß sie noch niemals das Glück gehabt habe, in Holland so schnell ein so gutes Dienstmädchen zu finden.

Auch van Lieverlee hatte sie nicht erkannt; nur waren ihm ihre eigenartigen, ein wenig ausländischen Manieren aufgefallen, und so fragte er denn die Frau des Hauses eines Tages, ob sie über die Herkunft dieses Mädchens vielleicht etwas Näheres wisse.

»Nein,« sagte die Gräfin, »sie ist mir von einer alten Freundin empfohlen worden, und, wie ich sehe, mit gutem Grund.«

Aber des Johannes Sehnsucht nach Markus ward mit jedem Tage größer. Er fürchtete sein Kommen, und dennoch verlangte es ihn danach. Und von diesem Zweifel wollte er befreit sein, um jeden Preis.

So daß er nicht aufhörte, eine Gelegenheit zu suchen, um Marion endlich einmal unter vier Augen zu sprechen.

Eines Abends traf er sie im Korridor und redete sie unter dem Vorwande an, daß er ihr wegen seiner Stiefel etwas zu sagen habe.

»Wo hast du Keesje gelassen?« fragte er leise.

»Das kannst du dir doch wohl denken,« antwortete Marion kurz angebunden und ebenso leise.

Johannes konnte es sich in der Tat auch denken. Aber gerade deshalb hatte er danach gefragt.

»Ja, aber wo ist er denn mit Keesje?«

»Ich weiß es nicht, und wenn ich es wüßte, so würde ich »es doch nicht sagen. Er kennt seine Zeit.«

In diesem Augenblick kam Gräfin Dolores vorüber.

»Johannes«, sagte sie, »ich bin jetzt gerade in einer Unterhaltung mit Pater Canisius begriffen. Wenn du willst, so darfst du daran teilnehmen.«

Johannes befragte Marion mit den Augen. Aber vor ihre Blicke legte sich wiederum jener undurchdringliche Flor, der ihr innerstes Seelenwesen jedem Fremden verbarg.

Im Salon saß Pater Canisius in einem niedrigen Sessel, die schwarze Soutane straff um den robusten Körper gespannt und die breiten Füße mit den Schnallenschuhen weit von sich gestreckt. Er putzte die Gläser seiner Brille mit seinem Taschentuch, und als Johannes eintrat, setzte er sie schleunigst wieder auf und blickte mit seinen großen Augen gespannt nach der Tür.

Als Johannes sich ihm näherte, nahm er ihn freundlich bei der Hand und zog ihn zu sich hin. Johannes blickte ihm in das breite glattrasierte Gesicht mit der stumpfen Nase und den klugen Augen.

»Hast du niemals eine gute Leitung gehabt, mein Junge? Dann ist das Leben schwer und gefährlich.«

»Ich habe wohl eine gute Leitung gehabt«, sagte Johannes. »Aber ich wollte gern meinen eigenen Weg suchen, und ließ die Leitung dann immer wieder im Stich.«

»Aber war das wohl wirklich eine gute Leitung?« fragte der Pater.

»Ich hatte einen guten Vater, und später fand ich einen sehr guten Freund. Aber ich habe sie alle beide verlassen.«

»Und aus welchem Grunde? Vermochte das, was sie dich lehrten, dich nicht zu befriedigen? Was zog dich von ihnen fort?«

Johannes schwankte.

»Waren sie zu streng?«

Johannes schüttelte verneinend den Kopf.

»Was war es denn, was du bei ihnen nicht fandest, wohl aber anderswo?«

»Ich weiß nicht, wie ich es nennen soll. Freude ist es nicht, denn ich will gerne viel Kummer darum erleiden. Und dennoch ist es das Herrlichste, was ich kenne. Ich denke, daß es das ist, was man unter Schönheit versteht.«

Nachdem er dies gesagt, fiel es ihm plötzlich ein, daß es doch nicht nur die Schönheit gewesen, um derentwillen er seinen Vater verlassen, und daß man das Gefühl, das er für die beiden kleinen Mädchen empfunden, und das ihn von Markus weggelockt hatte, auch wohl Liebe nennen könne.

»Vielleicht nennt man es auch wohl Liebe«, sagte er.

Pater Canisius dachte nach. Dann sagte er, während er einen scharfen Blick auf die Gräfin heftete:

»Empfandest du denn nicht genug Liebe für jenen guten Vater und jenen guten Freund?«

»O ja. Aber gerade sie hatten mich gelehrt, daß ich dem folgen solle, was mir von ganzem Herzen als das Schönste erschien, und daß ich das tun müsse, was ich wahrhaft für das Beste hielt.«

Der Pater ließ Johannes' Hand los und faltete seine fleischigen Hände übereinander, während er, tief aufseufzend, den großen Kopf schüttelte und Gräfin Dolores noch immer mit sehr ernster Miene ansah.

»Armer Junge«, sagte er darauf, »armer, armer Junge!«

Und fügte dann hinzu, indem er den Kopf aufrichtete und Johannes fest in die Augen sah:

»Nein, Johannes, das waren keine guten Führer. Ich kenne sie nicht und will sie nicht verurteilen. Das aber kann ich dir mit der größten Bestimmtheit sagen, daß du durch eine solche Lehre und unter einer solchen Leitung zugrunde gehen mußt, wenn du nicht einer ganz ungewöhnlichen Gnade teilhaftig wirst.«

Es folgte eine lange Stille. Johannes war bewegt und erschrocken.

»Wie meinen Sie das?« brachte er endlich stammelnd und mit bebenden Lippen hervor.

»Höre gut zu, Johannes«, sagte Gräfin Dolores, »Pater Canisius ist ein weiser Mann mit einer großen, reichen Lebenserfahrung.«

»Glaubst du an Gott?« fragte der Priester.

»Ich weiß, daß ich einen Vater habe, der mich kennt,« sagte Johannes langsam.

»Einen himmlischen Vater, meinst du? Schön, damit ist schon viel gewonnen. Aber dann wirst du auch wohl gemerkt haben, daß es einen Bösen gibt, einen Satan, der uns betrügt.«

»Ja«, sagte Johannes ohne Zögern, während er all seiner Enttäuschungen gedachte, »das habe ich gemerkt, das ist so.«

»Nun wohl, der Satan lauert stets auf uns, wie der Wolf auf die Schafe. Ein jeder Mensch, der nur der eigenen Kraft und der eigenen Einsicht vertraut, ist wie ein Schaf, das von der Herde abirrt. Und dann macht der Wolf sich die gute Gelegenheit zunutze. Und dann ist solch ein Schaf rettungslos verloren, es sei denn, daß Gott ein Wunder geschehen läßt.«

Johannes fühlte, wie ihn eine namenlose Angst befiel. Er vermochte nicht zu sprechen.

»Das Nahen dieses Wolfes wird uns zuerst durch ein entsetzliches Gefühl verkündet. So warnt uns Gott. Jenes Gefühl ist der Zweifel. Hast du den Zweifel gekannt, Johannes?«

Johannes nickte, kurz und gänzlich bestürzt; er ballte die Fäuste und biß die Lippen zusammen. Ja! ja, ja, er hatte den Zweifel gekannt.

»Das dachte ich mir«, sagte Pater Canisius ruhig, »es ist ein entsetzliches Gefühl, nicht wahr? Es ist ...« fuhr er mit lauter Stimme fort, »wie Wolfsgeheul, das einem verirrten Schaf aus der Ferne erklingt. Laß dich nicht vergeblich warnen, Johannes.«

Und dann nach einer Pause:

»Der Zweifel selbst ist Sünde. Wer zweifelt, befindet sich auf der schiefen Ebene, die zum Untergang führt. Hast du wohl einmal von dem scheußlichen Octopus gehört, von jenem weichen Seeungeheuer mit seinen großen Augen, seinen acht Fangarmen, mit denen er die Glieder des Schwimmers, eines nach dem andern, umschlingt und ihn so in die Tiefe hinabzieht? Ja? Solch ein Octopus ist der Satan. Unmerklich streckt er seine Fangarme aus und saugt sich damit an den Gliedern fest, bis er einem seinen scharfen Schnabel ins Herz bohren kann. Der Zweifel ist nicht nur eine Warnung, sondern ein Beweis dafür, daß der Satan schon Einfluß gewonnen hat. Er ist der Beginn seiner Macht. Das Ende ist ewiges Leiden und Verdammnis.«

Johannes richtete den Kopf auf und sah den Priester an, der sorgfältig beobachtete, was für einen Eindruck seine Worte wohl hervorrufen würden.

Trotz seiner Beklemmung entstand in Johannes' Herzen plötzlich etwas wie ein Widerstand. Er fühlte, daß man ihn bange zu machen versuchte, und das wollte er sich denn doch nicht gefallen lassen, trotzdem er nur ein kleiner Kerl war.

»Diejenigen, die in gutem Glauben irren, verdammt mein Vater nicht«, sagte er.

Pater Canisius bemerkte, daß er durch sein wohl etwas allzu schroffes Vorgehen Widerstand geweckt hatte und wurde vorsichtiger. Mit leiser Stimme hub er von neuem an:

»Gewiß, Johannes, Gott ist unendlich gut und gnädig. Aber hast du nicht auch gemerkt, daß es eine Gerechtigkeit gibt, der man nicht entrinnen kann? Und glaubst du, daß ein Irregeführter sagen kann: »Ich habe keine Schuld, denn ich bin irre geführt worden.« Nein, Johannes, das nimmst du denn doch allzu leicht. Auf Sünde folgt Strafe, das ist Gottes unerbittliche Ordnung. Und das würdest du nur dann grausam oder unrecht nennen dürfen, wenn Er uns nicht gewarnt und uns Seinen Willen nicht klar und deutlich offenbart hätte. Aber wir sind gewarnt worden, wir sind eines Besseren belehrt, wir können der guten Leitung folgen. Und wenn wir auch dann noch irren, so ist es unsere eigene Schuld und wir dürfen uns nicht beklagen.«

»Sie meinen wohl die Bibel, nicht wahr, Herr Pater?«

»Die Bibel und die Kirche«, antwortete der Pater, von dem Ton dieser Frage nicht sehr angenehm berührt. »Ich begreife sehr gut, daß du, mein Junge, mit deinem dichterischen Gemüt und deinem Schönheitssinn in dem dürren, kalten Protestantismus keine Befriedigung finden konntest. Die katholische Kirche aber bietet dir alles: Liebe, Schönheit, Wärme und erhabene Poesie. Nur in ihr wirst du Frieden und vollkommene Geborgenheit finden. Du weißt doch, nicht wahr, daß die Herde eines Hirten bedarf, und auch, wer jener Hirte ist?«

»Meinen Sie den Papst?«

»Ich meine Christus, Johannes, unsern Erlöser, den der Papst in seiner menschlichen Gestalt nur vertritt. Kennst du jenen Hirten, kennst du Jesus Christus nicht?«

»Nein, Herr Pater«, sagte Johannes ohne Arg, »den kenne ich gar nicht.«

»Oh, das habe ich mir wohl gedacht, und darum nannte ich dich einen armen Jungen. Aber wenn du den Wunsch hast, ihn kennen zu lernen, dann will ich dir gerne helfen.«

»Warum nicht?« sagte Johannes.

»Gut, so beginne damit, daß du die Gräfin begleitest, wenn sie zur Kirche geht, so wie sie es mir versprochen hat. Das ist doch abgemacht, nicht wahr?«

»Jawohl, Pater«, antwortete die Gräfin. »O, ich freue mich von ganzem Herzen, daß Sie sich so meiner annehmen. Johannes wird Ihnen sicherlich auch allzeit dankbar dafür bleiben.«

Darauf empfahl sich Pater Canisius, nachdem er seinen beiden neuen Schülern, mit einem Ausdruck stiller Befriedigung auf den Zügen, warm die Hand gedrückt.

Die Kinder kamen herein, und an jenem Tage wurde diese Sache zwischen Johannes und seiner Freundin nicht mehr besprochen. Aber sie war viel heiterer als sonst und zu Johannes ganz besonders freundlich. Ja, sie küßte ihn sogar wiederum beim Schlafengehen, so wie sie es schon einmal getan, zugleich mit ihren Kindern.

Johannes konnte nicht schlafen und war in starker Erregung befangen. Als es still ward um ihn und die einsame, geheimnisvolle Nacht sich näherte, da kamen mit ihr auch die Furcht und der Zweifel und die Verzagtheit. Er zweifelte, ob er zweifelte, und fürchtete den Zweifel um des Zweifels willen. Er hörte das Heulen des Wolfes, der dem verirrten Schaf auflauert, er fühlte die weichen, schleimigen, geschmeidigen Fangarme, die sich unbemerkt an seinen Gliedern festgesogen hatten, er sah die großen gelben Augen des Octopus mit der langen, schlitzförmigen Pupille, und fühlte, wie der scharfe Papageienschnabel nach seinem Herzen suchte und tastete.

Schaudernd und zähneklappernd lag er wachend unter den Decken, und der Angstschweiß brach ihm aus.

Da hörte er die Stufen der Treppe leise knarren und einen leichten Schritt, der sich näherte. Seine Tür wurde geöffnet und eine kleine dunkle Gestalt trat behutsam an sein Bett.

Da fühlte er eine warme weiche Hand auf seiner feuchtkalten Stirne und er hörte Marions flüsternde Stimme:

»Wirst du getreu sein, Hanni, und dich nicht bange machen lassen? Vater will treue, tapfere Kinder haben.«

»Ja, Marion«, sagte Johannes, und die schaudernde Angst wich von ihm, und eine wohlige Wärme durchstrahlte seinen ganzen Körper, und so bald fiel er in Schlaf, daß er sich nicht entsinnen konnte, ihr Weggehen bemerkt zu haben.


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