Frederik van Eeden
Der kleine Johannes
Frederik van Eeden

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Der Morgen war kalt und grau. Die dunklen glänzenden Zweige weinten, vom Sturm entblättert, im Nebel.

Hastig schritt der kleine Johannes über das nasse niedergeschlagene Gras und starrte dorthin, wo der Wald lichter ward, gleich als sähe er dort ein Ziel. Seine Augen waren vom Weinen gerötet und starr vor Angst und Jammer. So war er die lange, lange Nacht umhergeirrt, gänzlich allein und nach dem Lichte suchend – mit Windekind war auch das sichere heimatliche Gefühl geschwunden. An jedem dunklen Fleckchen lauerte das Gespenst der Verlassenheit – und er wagte sich nicht umzuschauen.

Endlich gelangte er an den Waldessaum. Er blickte über eine Wiese, auf die ein feiner Staubregen langsam herniederrieselte. Mitten auf der Wiese stand ein Pferd neben einer kahlen Weide. Unbeweglich stand es da, den Kopf gebeugt, und von seinen glänzenden Weichen und aus der zusammengeklebten Mähne troff das träge Wasser.

Johannes lief weiter am Walde entlang. Mit mattem, ängstlichem Blick schaute er auf das einsame Pferd und den grauen Regennebel und stöhnte leise.

»Jetzt ist alles aus«, dachte er, »die Sonne wird nie mehr wiederkommen. Für mich wird jetzt alles stets so bleiben, wie es hier ist.«

Doch hatte er in seiner Verzweiflung nicht den Mut, stille zu stehen – denn dann – so glaubte er – würde das Fürchterlichste kommen.

Da sah er ein großes Gitter, das einen Landsitz umzäunte, und unter einem Lindenbaum mit hellgelben Blättern ein friedliches Häuschen.

Er schritt durch die Pforte und ging durch breite Alleen, wo die braunen und gelben Lindenblätter den Boden mit einer dicken Schicht bedeckten. An den Rasenflächen entlang wuchsen violette Astern und andere buntfarbige Herbstblumen wild durcheinander. Er kam an einen Teich. Dort stand ein großes Haus mit Glastüren und hohen Fenstern, die bis zur Erde reichten. Efeu und Rosensträucher wuchsen an den Wänden entlang. Alles war geschlossen und das Haus lag wie ausgestorben da. Halb entblätterte Kastanienbäume standen regungslos rings umher, und auf dem Boden, zwischen dem abgefallenen Laube, sah Johannes die glänzend braunen Kastanien schimmern.

Da verließ ihn das frostige, totenähnliche Empfinden. Er dachte an sein eigenes Heim – auch dort standen Kastanienbäume, und um diese Zeit pflegte er stets die glatten Früchte aufzusammeln. Und plötzlich überkam ihn eine Sehnsucht, gleich als habe er wohlbekannte Stimmen rufen hören. Er setzte sich auf eine Bank, die vor dem großen Hause stand und weinte, weinte, bis es ihm ruhiger ums Herz ward.

Ein eigentümlicher Geruch veranlaßte ihn aufzublicken. Neben ihm stand ein Mann; der hatte eine weiße Schürze vor und eine Pfeife im Munde. Um den Gürtel trug er lange Lindenbaststreifen, womit er die Blumen aufband. Johannes kannte diesen Geruch gar wohl; er erinnerte ihn an seinen eigenen Garten und an den Gärtner, der ihm so schöne Raupen brachte und die Stareneier für ihn ausnahm.

Er erschrak nicht, trotzdem es ein Mensch war, der neben ihm stand. Er erzählte dem Manne, daß er verlassen sei und daß er sich verirrt habe und folgte ihm dankbar in die kleine Wohnung, die unter dem gelbblättrigen Lindenbaum lag.

Dort drinnen saß die Gärtnersfrau und strickte schwarze Strümpfe. Über dem kleinen Torffeuer, das im Herde brannte, hing ein großer Kessel mit kochendem Wasser. Auf der Matte vor dem Herd saß eine Katze mit verschränkten Vorderpfoten, genau so wie Simon dagesessen hatte, als Johannes sein Heim verließ.

Johannes wurde ganz dicht an das Feuer gesetzt, damit er sich die Füße trockne. »Tick! tack! tick! tack!« sagte die große Wanduhr. Johannes blickte auf den Dampf, der zischend aus dem Kessel aufstieg, und auf die kleinen Feuerzungen, die neckisch und behende die großen Torfstücke beleckten.

»Jetzt bin ich unter Menschen«, dachte er.

Das war durchaus nicht unangenehm. Er fühlte sich ruhig und zufrieden. Die Leute waren gut und freundlich und fragten ihn, was er denn nun wohl am liebsten wolle.

»Am liebsten möchte ich hier bleiben«, antwortete er.

Hier hatte er Ruhe; wenn er aber nach Hause ginge, so würden die Tränen und der Kummer nicht ausbleiben. Er würde gezwungen sein, zu schweigen und man würde ihm sagen, daß er unrecht getan habe. Er würde alles wieder sehen und über alles noch einmal nachdenken müssen.

Wohl sehnte er sich nach seinem Stübchen, nach seinem Vater und nach Presto – aber lieber noch wollte er dies stille Verlangen hier ertragen als das peinliche qualvolle Wiedersehen, das seiner dort harrte. Und ihm war es, als würde er hier ungestört seines Windekind gedenken können – daheim aber nicht.

Windekind war jetzt sicherlich fortgegangen. Weit fort nach dem sonnigen Lande, wo sich die Palmen über dem blauen Meere wiegen. Er wollte hier Buße tun und auf ihn warten.

Daher flehte er die beiden guten Menschen an, ob er bei ihnen bleiben dürfe. Er wolle auch ganz gehorsam sein und für sie arbeiten. Er wolle bei der Pflege des Gartens und der Blumen helfen. Nur diesen einen Winter. Denn im Stillen hoffte er, daß Windekind mit dem Lenz wiederkehren würde.

Der Gärtner und seine Frau meinten, daß Johannes davon gelaufen sei, weil man ihn daheim schlecht behandele, und da er sie dauerte, versprachen sie ihm, daß er bleiben dürfe.

So blieb er denn und half den Garten und die Blumen pflegen. Man gab ihm ein kleines Schlafstübchen mit einer Bettstelle aus blauem Holz. Von dort aus sah er des Morgens die nassen gelben Lindenblätter am Fenster entlang streichen und des Nachts die dunklen Äste, hinter denen die Sterne Versteck spielten, leise hin- und herschwanken. Jetzt gab er den Sternen Namen und den allerleuchtendsten unter ihnen nannte er: Windekind.

Den Blumen, die er fast alle von zu Hause her kannte, erzählte er seine Geschichte: den ernsten großen Astern und den buntfarbigen Zinnien und den weißen Chrysanthemen, die auch während des rauhen Herbstes noch gar so lange blühten. Als alle anderen Blumen schon tot waren, standen die Chrysanthemen noch immer – ja sogar, nachdem eines Morgens der erste Schnee gefallen war und Johannes sich in aller Frühe nach ihnen umschaute, hoben sie lustig ihre Köpfchen zu ihm empor und sagten: »Ja, ja, wir sind noch immer da, das hättest du wohl nicht gedacht!« Sie hielten sich tapfer; allein zwei Tage später waren sie alle tot.

In dem Gewächshaus aber prangten noch stets die Palmen und Baumfarren, und die wunderseltsamen Blütendolden der Orchideen hingen schwer in der feuchten Schwüle. Voller Staunen blickte Johannes in ihre prachtvollen Kelche und dachte an Windekind. Wie kalt und farblos erschien ihm dann alles, wenn er hinausblickte, der nasse Schnee mit den schwarzen Fußtapfen und die knarrenden, triefenden Baumgerippe.

Nur wenn die Schneeflocken stunden- und stundenlang sachte und unablässig herabgefallen waren, so daß die Zweige sich neigten unter der stets wachsenden Last, hielt Johannes sich gerne in der violettfarbenen Dämmerung des schneebeschatteten Waldes auf. Das war Stille, nicht aber Tod. Und fast noch schöner war es als sommerliches Grün, wenn sich das blitzende glitzernde Weiß der gespreizten Ästlein vom hellblauen Himmel abhob oder wenn ein allzu schwer beladener Strauch das schneeige Laub von sich abschüttelte, so daß es, in einer kleinen glänzenden Wolke zerstiebend, langsam herabglitt.

Eines Tages während eines Spazierganges, als er so weit gegangen war, daß er um sich her nichts anderes mehr sah als Schnee und schneetragende Zweige – halb weiß, halb schwarz, – und jeder Laut und alles Leben unter der glitzernden Hülle erstorben zu sein schien, geschah es, daß er glaubte, ein kleines weißes Tierchen rasch vor sich herlaufen zu sehen. Er folgte ihm – es glich keinem der Tiere, die er kannte – doch als er es greifen wollte, verschwand es schleunigst in einen Baumstumpf. Johannes spähte in die runde schwarze Öffnung, darinnen es verschwunden war und dachte bei sich: »Sollte das am Ende der Wistik sein?«

Er dachte nicht oft an ihn. Das dünkte ihn schlecht und er wollte seine Buße nicht beeinträchtigen. Und das Leben bei den beiden guten Menschen regte ihn wenig zum Fragen an. Wohl mußte er des Abends aus einem dicken Buch vorlesen, in dem viel von Gott gesprochen wurde, allein er kannte das Buch und las gedankenlos.

Nach jenem Spaziergang durch den Schnee aber lag er während der Nacht wachend in seinem Bett und blickte auf den kalten Mondenschein, der über den Fußboden spielte. Da sah er plötzlich zwei kleine Händchen, die sich über seine Bettstelle emporreckten und sich fest an den Rand klammerten. Dann erschien die Spitze eines weißen Pelzmützchens zwischen den beiden Händchen, und endlich gewahrte er unter hochgezogenen Brauen ein paar ernsthafte Äuglein.

»Guten Abend, Johannes,« sagte Wistik, »ich wollte dich nur rasch an unsere Verabredung erinnern. Du kannst das Büchelchen natürlich noch nicht gefunden haben, denn der Lenz ist noch nicht gekommen. Aber du hast es doch nicht etwa vergessen? Was ist das für ein dickes Buch, in dem ich dich habe lesen sehen? – Das kann das echte nicht sein, glaube das nur ja nicht.«

»Das glaube ich auch nicht, Wistik,« fügte Johannes. Dabei drehte er sich um und legte sich aufs Ohr, denn er wollte schlafen. Allein der Gedanke an das Schlüsselein wollte ihm nicht mehr aus dem Kopf. Und künftighin dachte er, während er aus dem dicken Buche vorlas, über alles nach, und nun erkannte er es ganz deutlich, daß es das echte nicht war.

»Jetzt wird er kommen,« dachte Johannes, als der Schnee zum erstenmal geschmolzen war und die Schneeglöckchen hier und dort in kleinen Gruppen zum Vorschein kamen.

»Ob er jetzt wohl kommen wird?« fragte er die Schneeglöckchen. Die aber wußten es nicht und blickten nach wie vor mit ihren hängenden Köpfchen zu Boden, gleich als ob sie sich, beschämt über ihre Voreiligkeit, am liebsten sogleich wieder verkrochen hätten.

Wenn sie es doch nur könnten! – Der eisige Ostwind begann alsbald wieder zu blasen, und hoch türmte sich der Schnee über den voreiligen Geschöpfchen.

Viele Wochen später kamen die Veilchen. Ihr süßer Duft hing in dem Gebüsch, und nachdem die Sonne warm und lange den moosigen Boden beschienen hatte, erblühten auch die bunten Primeln zu Hunderten und Tausenden.

Die schüchternen Veilchen mit ihrem starken Duft waren die geheimnisvollen Vorboten kommender Herrlichkeit; die luftigen Primeln indessen die fröhliche Wirklichkeit selber. Die erwachte Erde hatte die ersten Sonnenstrahlen festgehalten und wob aus ihnen einen goldenen Zierat.

»Jetzt aber! jetzt kommt er doch sicherlich,« dachte Johannes. Und voller Spannung betrachtete er die Knospen an den Zweigen, wie sie von einem Tag zum andern langsam anschwollen und sich aus der Borke lösten, bis die ersten mattgrünen Spitzchen zwischen den braunen Schuppen sichtbar wurden. Lange, lange schaute Johannes auf die grünen Blättchen. Niemals sah er, daß sie sich regten, und dennoch schienen sie ihm schon größer geworden, wenn er sich auch nur auf einen Augenblick umgewendet hatte. »Wenn ich sie ansehe, haben sie nicht den Mut,« dachte er bei sich.

Schon begann das Laub Schatten zu spenden, und noch immer war Windekind nicht gekommen, und keine Taube war vor ihm niedergestrichen und kein Mäuschen hatte zu ihm gesprochen. Wenn er die Blumen anredete, nickten sie nur flüchtig, antworteten ihm aber nicht. »Ich habe meine Strafe noch nicht abgebüßt,« dachte er bei sich.

Da gelangte er an einem sonnigen Lenzmorgen zu dem Teich und dem Hause. Die Fenster waren alle weit geöffnet. Sollten da wohl Menschen ihren Einzug gehalten haben?

Der Vogelkirschbaum, der am Ufer des Teiches stand, war schon über und über mit zarten Blättchen bedeckt, und alle Zweige hatten feine grüne Flügelchen bekommen. Auf dem Rasen vor dem Vogelkirschbaum lag ein Mädchen. Johannes sah nur ihr hellblaues Kleid und ihr Blondhaar. Ein Rotkehlchen, das auf ihrer Schulter saß, pickte aus ihrer Hand.

Da plötzlich wandte sie den Kopf und blickte Johannes an.

»Guten Tag, Kleiner,« sagte sie und nickte ihm freundlich zu.

Wiederum durchzuckte es Johannes vom Scheitel bis zur Sohle. Das waren Windekinds Augen, das war Windekinds Stimme.

»Wer bist du?« fragte er. Seine Lippen zitterten vor Rührung.

»Ich bin Robinetta! Und dies hier ist mein Vogel. Er wird sich vor dir nicht fürchten. Liebst du die Vögel?«

Das Rotkehlchen fürchtete sich nicht vor Johannes. Es flog ihm auf den Arm. Das war genau so wie einst. So mußte dieses blaue Wesen also doch wohl Windekind sein. »Und nun erzähle mir mal wie du heißt, Kleiner,« sagte Windekinds Stimme.

»Kennst du mich nicht? Weißt du nicht, daß ich Johannes heiße?«

»Wie sollte ich das wohl wissen?«

Was hatte das zu bedeuten? War es doch die wohlbekannte süße Stimme! Waren es doch die dunkeln himmelstiefen Augen!

»Warum siehst du mich so an, Johannes? Hast du mich je zuvor gesehen?«

»Ja, ich glaube wohl.«

»Das hast du sicherlich geträumt.«

Geträumt? dachte Johannes. Sollte ich denn all das andere geträumt haben? Oder träume ich jetzt?

»Wo bist du gehören?« fragte er.

»Sehr weit von hier, in einer großen Stadt.«

»Bei Menschen?«

Robinetta lachte.

Es war Windekinds Lachen. »Ich glaube es wohl. Du nicht?«

»Ach ja, ich auch.«

»Tut dir das leid? Hast du die Menschen nicht gern?«

»Nein, wer sollte die Menschen denn wohl gern haben?«

»Wer? Aber Johannes, du bist wirklich ein komischer Bursche. Hast du die Tiere denn lieber?«

»O ja, viel lieber – und die Blumen auch.«

»Im Grunde genommen ergeht es mir zuweilen auch so. Ein einzelnes Mal. Aber es ist nicht gut. Wir sollen die Menschen lieben, sagt Vater.«

»Weshalb ist das nicht gut? Ich liebe den, den ich lieben will, ob es gut ist oder nicht.«

»Pfui, Johannes, hast du denn keine Eltern oder sonst jemanden, der für dich sorgt? Und hast du wirklich niemanden lieb?« »Doch,« sagte Johannes nachdenklich, »meinen Vater habe ich lieb, aber nicht, weil er gut ist, und auch nicht, weil er ein Mensch ist.«

»Aber warum denn?«

»Das weiß ich nicht – weil er nicht so ist wie die anderen Menschen, weil auch er die Blumen und die Vögel liebt.«

»Das tue ich auch, Johannes, das siehst du ja.« Und dabei sprach Robinetta dem Rotkehlchen, das auf ihrer Hand saß, freundlich zu.

»Das weiß ich,« sagte Johannes. »Und dich habe ich auch sehr lieb.«

»Jetzt schon? Das geht aber schnell,« meinte das Mädchen lachend. »Wen hast du denn eigentlich wohl am liebsten?«

»Wen? ...« Johannes zögerte. Sollte er Windekinds Namen nennen? – Die Furcht, daß dieser Name ihm einen Menschen gegenüber entschlüpfen könne, war unzertrennlich von all seinem Denken. Und dennoch – war dieses blonde Wesen in dem blauen Kleidchen nicht Windekind? Wer hätte es sonst wohl vermocht, ihm dieses Gefühl der Ruhe und des Glückes zu geben?

»Dich,« sagte er plötzlich, und dabei senkte er einen langen Blick in die tiefen Augen. Mutig wagte er diese vollkommene Hingebung, aber ein wenig ängstlich war er trotzdem und wartete voller Spannung, was für eine Aufnahme seinem kostbaren Geschenk wohl bereitet würde.

Wiederum ließ Robinetta ihr helles Lachen erschallen: zugleich aber faßte sie seine Hand und ihr Blick ward nicht kühler, ihre Stimme nicht minder innig.

»Ei, Johannes,« sagte sie, »womit habe ich denn das so rasch verdient?«

Johannes antwortete nicht, sondern schaute sie nur unablässig an, mit stets wachsendem Vertrauen. Robinetta stand auf und legte den Arm um Johannes' Schulter. Sie war größer als er.

So wandelten sie durch den Wald und pflückten große Büsche Schlüsselblumen, bis sie sich gänzlich hätten verstecken können hinter dem Berge gelber Blüten. Das Rotkehlchen flog mit ihnen von Ast zu Ast und schaute sie mit seinen glänzenden Äuglein an.

Sie sprachen nicht viel, sondern blickten sich nur hin und wieder verstohlen von der Seite an. Sie waren beide erstaunt über ihre Begegnung und halb im Ungewissen, was sie wohl voneinander zu halten hätten.

Allein Robinetta mußte alsbald heim – es tat ihr leid.

»Jetzt muß ich fort, Johannes. Aber willst du nicht ein ander Mal wieder mit mir spazieren gehen? Du bist wirklich ein netter Bursche,« sagte sie beim Abschiednehmen.

»Wiet! Wiet!« machte das Rotkehlchen und flog hinter ihr her.

Als sie verschwunden und nur ihr Bildnis noch bei ihm zurückgeblieben war, zweifelte er nicht mehr daran, wer sie sei. Sie war dieselbe, der er seine ganze Freundschaft geschenkt; der Name »Windekind« klang ihm matter in den Ohren und ward allmählich eins mit Robinetta.

Und um ihn her ward alles wieder so, wie es zuvor gewesen. Die Blumen nickten lustig, und ihr Duft vertrieb ihm die wehmütige Sehnsucht nach seinem Daheim, die er bisher empfunden und fleißig genährt hatte. Inmitten all des zarten Grüns in der linden, lauen Lenzesluft fühlte er sich plötzlich heimisch wie ein Vogel, der sein Nest gefunden hat. Er mußte die Arme ausbreiten und tief aufatmen; so glücklich war er. Auf dem Heimweg schwebte die lichte, blaue Gestalt mit dem Blondhaar vor ihm her, immerfort vor ihm her, wohin er auch schauen mochte. Es war, als habe er in die Sonne geschaut und als begleite das Sonnenbild seinen Blick allüberall. Von jenem Tage an ging Johannes an jedem schönen Morgen zum Teich herüber. Er ging in aller Frühe, sobald er von dem Gezwitscher der Spatzen geweckt wurde, die in den Efeuranken vor seinem Fenster beisammen sahen, und von dem Pfeifen der Stare, die sich in dem jungen Sonnenschein tummelten. Dann eilte er behende durch das feuchte Gras bis an das Haus und wartete dort hinter den Fliederbüschen, bis sich die Glastüre öffnete und er die lichte Gestalt auf sich zukommen sah.

Dann durchstreiften sie den Wald und die Dünen, die den Wald begrenzten. Sie plauderten über alles, was sie sahen, über die Bäume und die Pflanzen und die Dünen. Den Johannes überkam ein ganz seltsames schwindelähnliches Gefühl, während er neben ihr herging; ab und zu glaubte er wiederum so leicht zu sein, daß er durch die Lüfte hätte fliegen können. Allein das geschah niemals. Er erzählte die Geschichten, die er durch Windekind von den Blumen und den Tieren wußte. Doch er vergaß, wie er sie gelernt, und Windekind existierte nicht mehr für ihn, bloß noch Robinetta. Er war selig, wenn sie ihn anlächelte und er in ihren Augen Freundschaft las, und er sprach zu ihr, so wie er früher zu seinem Hündchen gesprochen: – Und alles, was ihm einfiel, sagte er ihr, ohne Scheu und ohne Zögern. Während der Stunden, da er sie nicht sah, gedachte er ihrer, und bei jeder Arbeit, die er verrichtete, fragte er sich, ob Robinetta das wohl gut und schön finden würde.

Und sie selber schien stets so erfreut, wenn sie ihn sah; dann lächelte sie und ging eiligeren Schrittes. Sie hatte ihm auch gesagt, daß sie mit niemandem so gern umherwandere, wie mit ihm.

»Aber, Johannes,« sagte sie eines Tages, »woher weißt du denn das alles? Woher weißt du, was die Maikäfer denken, was die Drosseln singen, und wie es in der Kaninchenhöhle und auf dem Grunde des Wassers aussieht?« »Sie haben es mir erzählt,« antwortete Johannes. »Ich bin selber in einer Kaninchenhöhle und auf dem Grunde des Wassers gewesen.«

Robinetta runzelte die seinen Brauen und blickte ihn halb spöttisch an. Doch sie fand, daß er ohne Falsch sei.

Sie saßen unter dem Fliederbusch, dessen schwere violettfarbene Blütendolden sich tief herabneigten. Vor ihnen lag der Teich mit seinem Schilf und seinem Entengrün. Sie sahen die schwarzen Käfer kreisförmig über die Oberfläche gleiten und rote Spinnen geschäftig auf- und niedertauchen. Es wimmelte dort unten von emsigem Leben. Johannes blickte, in Erinnerungen versunken, in die Tiefe und sagte:

»Einst bin ich dort untergetaucht; ich ließ mich an einem Schilfrohr hinabgleiten und gelangte auf den Grund. Der ist ganz mit dürren Blättern überdeckt und es geht sich darauf so leicht und so sacht. Dort herrscht allzeit Dämmerung, grünliche Dämmerung, denn das Licht fällt durch das Entengrün, dessen lange weiße Wurzeln ich über mir herabhängen sah. Salamander schossen um mich her, denn die sind sehr neugierig. Es ist seltsam, wenn so große Tiere so über einem herschwimmen – weit konnte ich nicht sehen, denn vor mir war es dunkel, aber gleichfalls alles grün. Und aus jenem Dunkel kamen die Tiere wie schwarze Schatten zum Vorschein. Wasserkäfer mit Rudern und platte Wasserläufer und ab und zu auch ein ganz kleines Fischlein – ich ging sehr weit – wohl stundenweit, glaube ich, und mitten darin war ein großer Wald von Wasserpflanzen, an denen Schnecken emporkrochen und große Wasserspinnen ihre glitzernden Nestchen bauten. Stichlinge schossen mitten hindurch und starrten mich oftmals mit weitgeöffnetem Munde und zitternden Flossen an – so erstaunt waren sie. Dort habe ich die Bekanntschaft eines Aales gemacht, dem ich aus Versehen auf den Schwanz trat. Der hat mir von seinen Reisen berichtet: er sei sogar bis ins offene Meer hinausgekommen. Darum habe man ihn zum König des Teiches ernannt – denn keiner sei so weit gereist, wie er. Er lag immerfort im Schlamm und schlief immer, nur dann nicht, wenn ihm die anderen etwas zu fressen brachten. Er fraß entsetzlich viel. Und zwar, weil er König war – man wollte gerne einen recht dicken König haben, weil sich das so gut ausnahm. O, in jenem Teich war es gar zu herrlich!«

»Warum kannst du denn jetzt nicht mehr dahin gehen?«

»Jetzt?« fragte Johannes und blickte sie mit großen sinnenden Augen an. »Jetzt? Jetzt kann ich nicht mehr. Ich würde darin ertrinken. Aber es ist auch nicht nötig. Ich bin lieber hier unter dem Fliederbusch und bei dir.«

Robinetta schüttelte verwundert das blonde Köpfchen und strich Johannes über das Haar. Darauf blickte sie zu dem Rotkehlchen hinüber, das am Ufer des Teiches allerhand Leckerbissen zu finden schien. Es blickte flüchtig auf und schaute die beiden mit seinen klaren Äuglein an.

»Verstehst du etwas davon, Vögelein?«

Scheu blickte das Vöglein sich um und fuhr dann fort zu suchen und zu picken.

»Erzähle mir weiter, Johannes, was du sonst noch gesehen hast.«

Das tat Johannes gerne, und Robinetta hörte ihm zu, aufmerksam und gläubig.

»Aber warum hat denn das alles aufgehört? Warum kannst du jetzt nicht mit mir dorthin gehen? Ich möchte es auch gar so gerne.«

Johannes versuchte sich zu erinnern; allein ein sonniger Flor deckte den dunkeln Abgrund, den er überschritten. Er wußte nicht mehr so recht, wie er sein einstiges Glück verloren hatte.

»Ich weiß es nicht – ein kleines häßliches Wesen hat alles verdorben. Aber jetzt ist alles wieder gut. Und noch besser als zuvor.« Aus den Sträuchern schwebte der Duft des Flieders auf sie herab, und das Summen der Fliegen auf dem Wasserspiegel und die stillen Sonnenstrahlen wiegten sie in eine süße Betäubung. Bis eine Glocke aus dem Hause mit greller Schwingung zu läuten begann und Robinetta hurtig davoneilte.

Als Johannes an jenem Abend in sein Stübchen kam und die Mondschatten auf den Efeublättern und an den Fensterscheiben vorübergleiten sah, schien es ihm, als würde leise an das Fenster gepocht. Johannes meinte, es sei wohl ein Efeublatt, das im Nachtwind erzitterte. Allein es klopfte so vernehmlich, immer dreimal nacheinander, daß Johannes endlich leise das Fenster öffnete und sich behutsam umschaute. Die Efeublätter, die sich an dem Häuschen emporrankten, schimmerten in bläulichem Schein – unter ihnen lag eine düstere geheimnisvolle Welt, da waren Höhlen und Schluchten, in die das Mondenlicht kleine blaue Funken warf, die ihre Dunkelheit nur noch dunkler erscheinen ließen.

Nachdem Johannes lange in diese wundersame Schattenwelt gestarrt, gewahrte er endlich dicht neben dem Fenster, hinter einem großen Efeublatt verborgen, die Gestalt eines kleinen Männleins. Sogleich erkannte er Wistik an den großen verwunderten Augen unter hochgezogenen Brauen. Auf Wistiks lange Nasenspitze warf der Mond einen seiner kleinen Funken.

»Hast du mich vergessen, Johannes? Warum denkst du jetzt nicht daran? Die Zeit ist günstig. Hast du Rotkehlchen nicht nach dem Wege gefragt?«

»Ach, Wistik, warum sollte ich es wohl fragen? Ich habe alles, was ich mir wünschen kann. Ich habe Robinetta.«

»Das aber wird nicht lange währen, und du kannst noch glücklicher werden – und Robinetta sicherlich auch. Und soll das Schlüsselein denn dort liegen bleiben? Denke doch nur, wie wundervoll es wäre, wenn ihr beide das Büchelchen fändet. Frage du nur das Rotkehlchen danach; ich werde dir helfen, so ich es vermag.«

»Ich kann es ja immerhin mal fragen,« sagte Johannes.

Wistik nickte und kletterte behende hinab.

Bevor er zu Bette ging, schaute Johannes noch lange auf die dunkeln Schatten und die glänzenden Efeublätter.

Am folgenden Tage fragte er das Rotkehlchen, ob es den Weg wisse zu dem kleinen goldenen Schrein. Robinetta hörte staunend zu. Johannes sah, wie das Rotkehlchen nickte und Robinetta verstohlen anschaute.

»Hier nicht! Hier nicht!« sang das Vöglein zwitschernd.

»Was meinst du doch eigentlich, Johannes?« fragte Robinetta.

»Weißt du denn nichts davon, Robinetta? Weißt du nicht, wo es zu finden ist? Wartest du nicht auf das goldene Schlüsselein?«

»Nein, nein, aber erzähle mir doch einmal! Was ist denn das?«

Johannes erzählte, was er von dem Büchelchen wußte.

»Und ich habe das Schlüsselchen; und ich glaubte, du hättest den kleinen goldenen Schrein. Ist dem nicht so, lieb Vögelein?«

Das Vöglein aber tat, als höre es nicht, und flatterte unruhig in dem Laubwerk der jungen grünen Buchen umher.

Sie saßen an einem Dünenhang, an dem kleine Buchen und Tannen wuchsen. Ein schmaler grüner Pfad führte schräge hinauf und sie saßen an dessen Rande in dichtem, dunkelgrünem Moos. Sie konnten über die Wipfel der niedrigsten Bäume hinwegblicken und auf ein grünes Laubmeer mit hell und dunkel gefärbten Wogen.

»Ich glaube wohl, Johannes,« sagte Robinetta nachdenklich, »daß ich das, was du suchst, für dich zu finden vermag. Aber was meinst du denn eigentlich mit dem Schlüsselein? Wie kommst du darauf?«

»Ja, wie war das doch? Wie war das doch gleich?« murmelte Johannes vor sich hin, während er über das Grün hinweg in weite Fernen starrte.

Gleich als wären sie aus dem sonnigen Blau erstanden, tauchten plötzlich zwei weiße Falter vor seinen Blicken auf. Sie flatterten und zitterten und glitzerten in dem Sonnenlicht in unbestimmtem, jäh wechselndem Fluge. Allein sie kamen näher.

»Windekind! Windekind!« flüsterte Johannes, sich ganz seiner Erinnerung hingebend.

»Wer ist das, Windekind?« fragte Robinetta.

Das Rotkehlchen flog zwitschernd auf, und die Maßliebchen, die vor ihnen im Grase wuchsen, schienen Johannes mit ihren weitgeöffneten weißen Äuglein entsetzt anzustarren.

»Hat der dir das Schlüsselein gegeben?« fragte das Mädchen weiter.

Johannes nickte schweigend; sie aber wollte mehr wissen.

»Wer war das? Hat der dich das alles gelehrt? Wo ist er?«

»Jetzt ist er nicht mehr da. Jetzt ist es Robinetta, nichts anderes als Robinetta, nur Robinetta allein.« Er umfaßte ihren Arm und preßte seinen Kopf dagegen.

»Dummer Bub«, sagte sie lachend, »ich werde dir helfen, daß du das Büchelchen findest – ich weiß, wo es ist.«

»Aber dann muß ich erst gehen und den Schlüssel holen, und der ist weit fort.«

»Nein, nein, das ist nicht nötig, ich finde es auch ohne Schlüsselein. Morgen, morgen, ich verspreche es dir.«

Als sie heimgingen, flatterten die kleinen Falter vor ihnen her.

In jener Nacht träumte Johannes von seinem Vater, von Robinetta und von vielen anderen. Sie alle waren ihm gute Freunde: sie umringten ihn und blickten ihn innig und voll Zutrauen an. Doch plötzlich wandelten sich ihre Züge, ihre Blicke wurden kühl und spöttisch – er schaute sich ängstlich um – und sah an allen Seiten grausame feindliche Gesichter. Ihn befiel eine namenlose Angst, und weinend erwachte er.


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