Frederik van Eeden
Der kleine Johannes
Frederik van Eeden

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Nun glaubt ihr sicherlich, daß es an jenem Abend in dem engen Kämmerlein noch sehr erregt zuging und daß sich zwischen Marion und Johannes eine Szene mit viel Tränen und viel Gezanke abspielte.

Aber dann irrt ihr euch diesmal doch gründlich.

Noch bevor er zu Hause anlangte, war ihm die Aufgabe bereits zu schwer geworden. Als er Marion dasitzen sah mit ihrem stillen mürrischen Gesicht, so wie sie scheinbar den ganzen Abend dagesessen hatte, einsilbig und unlustig, schwand auch seine ganze freudige Erregung und damit die Neigung zur Mitteilsamkeit dahin. Er würde doch keinen Widerhall und kein Interesse finden, das wußte er schon im voraus. Und was für eine Aussicht hatte er wohl, Marion dazu zu bestimmen, daß sie Keesje wegen der Plejaden im Stich lassen solle, solange er nicht einmal das kleinste Fünkchen seiner feurigen Bewunderung für all das Schöne und Interessante, das er erlebt, auf sie zu übertragen vermochte?

Er sagte also nichts, und da Marion nichts fragte, kam es zu einem sehr friedlichen und ruhigen Schlafengehen.

Johannes indessen lag noch lange wach und dachte über die herrliche Eroberung nach, die er in der Welt gemacht, und über die beängstigenden Schwierigkeiten, die das zur Folge hatte. Marion würde nicht mitgehen, das stand fest; und sollte er sie denn etwa wieder verlassen? Oder sollte er all das Schöne, das Schönste, was er bisher auf der Welt gefunden, ganz einfach preisgeben?

Ihr müßt indessen auch nicht glauben, daß Johannes allzu große Erwartungen hegte von dem, was ihm Herr van Lieverlee vorgespiegelt. Trotzdem er mit sehr begreiflicher Ehrfurcht zu einem Menschen emporblickte, der um so viele Jahre älter war als er, der sich so elegant und vornehm kleidete, und der so bereist und so viel belesen und so beredt war, war Johannes doch klug genug, um einzusehen, daß hier nicht alles Gold war, was glänzte.

Allein jene beiden reizenden Mädchen und ihre schöne Mutter zogen ihn mit unwiderstehlicher Macht zu sich hin. Wenn es in der Welt etwas Schönes und Gutes gab, so war es dies. Und durfte er freiwillig darauf verzichten? Hatte der allgütige Vater ihm jemals schönere Geschöpfe gezeigt, und durfte er wohl irgendwelche Treue für heiliger erachten, als die, die er dem Vater gelobt, von dem ihm Markus gesprochen, und der sich doch nur an der Schönheit seiner Schöpfungen erkennen ließ?

Am nächsten Tag war er mit seinen Gedanken noch nicht um einen Schritt weiter gekommen. Marion fragte noch immer nichts und gab Johannes keinerlei Gelegenheit, etwas zu berichten. Keesje schlürfte geräuschvoll und mit großem Wohlbehagen süßen Milchkaffee aus Marions Untertasse, während er auch die kleinsten Überreste mit der flachen Hand aufwischte und die dann gierig ableckte, so ruhig und wohlzufrieden, als gäbe es auf der Welt weder Plejaden noch höhere Wissenschaften.

Konnte Johannes sich nun wohl mit ihnen an die tägliche Arbeit begeben? Er fühlte sich nicht dazu imstande, und da sie gestern doch sechs Mark extra verdient hatten, sagte er, daß er allein spazieren gehen wolle, um zu denken.

»Vielleicht bringe ich ein neues Gedicht mit nach Hause«, fügte er hinzu, trotzdem er diesbezüglich selber keine allzu großen Erwartungen hegte. Er würde schon froh sein, wenn er einen Ausweg aus seiner großen Bedrängnis fände. Er ging in die Berge, um dort Rat zu suchen.

Gab es nicht auch hier noch ein unentweihtes Fleckchen in der Natur, so wie in den Dünen seines Vaterlandes, an der See? Auf Marions bleichem Gesichtchen war die Betrübnis darüber, daß er ohne sie sein wollte, deutlich zu lesen.

Jetzt war ihr Starrsinn gebrochen, sie hätte ihn gar zu gern ein wenig ausgefragt, aber sie hielt sich tapfer und sagte nur:

»Tue, was du nicht lassen kannst, aber verlauf dich nicht.«

Johannes schlug den Weg nach dem Bergpfade ein, auf dem er die beiden Mädchen zum erstenmal gesehen hatte. Es war ein schöner, etwas nebliger Septembertag. Die Farrenkräuter unter dem Buschholz waren schon braun geworden, und die schwarzen Brombeeren glänzten taubenetzt zwischen ihren rotumrandeten Blättern. Und wieviel Spinngewebe zwischen dem Laube! Es war ein ernstes Schweigen allüberall, aber als Johannes höher emporklomm, hörte er das Wasser beständig rauschen, und auf den kleinen Bergwiesen und an den Lichtungen des Waldes sah er viel kleine Bächlein geschäftig murmelnd unter dem Grase glitzern.

Noch weiter hinauf, dort wo der Wald dichter ward und die Berge einsamer, hörte er hin und wieder das Geräusch eines fliehenden Hirsches und sah auch wohl ein feines Rehköpfchen mit großen Ohren und erschreckten Augen auf sich gerichtet. Endlich gelangte er auf einen schmalen Pfad, der sich dicht an einem kleinen Bache hinzog. Links und rechts dunkle Felsen, feucht glänzend und zierlich bewachsen mit den verschiedensten Moosarten, kleinen rosettenförmigen Farren und dem feinen Frauenhaar, das in dem Sprühregen des herabstürzenden Quellwassers leicht erzitterte. Höher hinauf begann das überhängende Krüppelholz und das dornige Brombeerengesträuch, und nur hin und wieder wurden die hohen Bergwände mit den knorrigen Wurzeln ihrer schweren Tannen und Buchen sichtbar.

Der kleine Pfad wollte kein Ende nehmen; er schlängelte sich immerfort über den Boden der Felsschlucht hin und folgte dem Bächlein, und ward hin und wieder über ein paar große Steine weitergeführt, um dann am jenseitigen Ufer wieder fortgesetzt zu werden. Und es ward stiller und stiller zwischen den Bergen, der blaue Himmel war nur selten noch sichtbar, und das Sonnenlicht drang leicht verschleiert durch das Laub der Vogelbeere und des Haselstrauchs. Hohe Fingerhutgewächse mit roten und gelben Blütendolden schauten aus den schattenreichen Tiefen des Gesträuches mit ihren giftigen Blicken scheinbar drohend auf den kleinen Johannes herab. Wo war er?

Er empfand eine seltsame Erregung, halb beklemmend, halb köstlich. Hier war es wie in Windekinds Wunderland.

Er lief weiter und immer weiter und begriff nicht, wie es so lange dauern konnte, bis eine Veränderung kam. Bis er müde ward und völlig verängstigt.

Und nun begann er in der großen Stille ganz allmählich ein undeutliches Lärmen zu vernehmen. Anfangs schien es ihm, als sei es nur das Summen und Rauschen seines Blutes und das Pochen seines Herzens, das ihm in den Ohren klang. Aber es ward immer starker und deutlicher. Ein Geräusch, gleichmäßig und beständig, und dazwischen ein dumpfes Dröhnen wie anhaltender Donner oder die Brandung der See – und auch ein höherer Ton, der hin und wieder, wie Glockengeläute bei starkem Winde, stoßweise herüberdrang.

Und hört! Jetzt kam ein schwerer dumpfer Laut wie ein Schuß, so daß der ganze Boden schwankte.

Wie gehetzt lief Johannes weiter, sich immerfort umschauend. Aber es ging kein Wind, alle Halme, alle Blätter waren regungslos. Da war nur das Rauschen des Wassers, und das Rauschen ward stärker und immer stärker.

Da sah er vor sich einen kleinen Wasserfall, der das Rauschen hören ließ. Der Bach stürzte über eine Felswand und fiel klatschend zwischen die Farren herab. Es schien fast, als verlöre sich der Pfad völlig im Dunkeln.

Hinter dem Wasserfall, von der weißen glitzernden Flüssigkeit wie durch einen Vorhang verdeckt, lag eine Grotte, durch die sich der Pfad weiterschlängelte.

Und jetzt vernahm Johannes die Geräusche deutlich, und es war ihm, als kämen sie aus der Erde hervor. Das tiefe Dröhnen, ab und zu die kurzen Donnerschläge, und das Glockenläuten, unablässig und regelmäßig. Er kauerte am Wege nieder, in großer Rührung und vom schnellen Gehen keuchend, und starrte durch den Wasserschleier in die dunkle kühle Grotte. So saß er lange und lauschte und lauschte und wußte nicht, ob er sich noch weiter wagen oder ob er umkehren solle.

Und langsam, ganz langsam begann ihn eine große rätselhafte Traurigkeit zu umfangen. Er sah auch, wie der Nebel still aus dem Tale ausstieg und wie eine dichte graue Wolkenmasse das lustige Sonnenlicht schweigend verhüllte.

Da hörte er ganz in der Nähe ein leises Geräusch, einen angstvollen Seufzer, ein Jammern, ein verzweifeltes Schluchzen.

Und neben sich auf dem Felsstein sah er seinen kleinen Freund Wistik sitzen. Er schaute ihm gerade auf das kahle Köpfchen mit den spärlichen grauen Haaren. Denn der arme kleine Kerl hatte seine rote Mütze abgenommen und preßte sie mit seinen beiden Händen vors Gesicht. Und er schluchzte zum Herzzerbrechen, so daß die Tränen aus seinem langen Spitzbärtchen langsam auf die Erde hernieder rannen.

»Wistik!« rief Johannes gerührt und bekümmert, »was gibt es denn, mein Freund? Mein guter kleiner Freund, was gibt es denn?«

Aber Wistik schüttelte den Kopf und konnte vor Weinen kein Wort hervorbringen.

Endlich ermannte er sich, entfernte die Mütze von seinem Gesicht und setzte sie, von Tränen durchnäßt, wieder auf den Kopf. Darauf ließ er sich, sein Schluchzen mühsam unterdrückend, von seinem Sitz heruntergleiten und schritt über die Steine, die im Bache lagen. Dort ergriff er mit beiden Händchen den funkelnden Schleier aus fallendem Wasser, machte einen großen Riß hinein, wandte sein verweintes Gesichtchen Johannes zu und winkte ihm schweigend, daß er ihm folgen solle.

Dieser trat in die dunkle Spalte und kam gänzlich trocken hinein, während Wistik das Wasser auseinander hielt. Nicht das kleinste Tröpfchen war auf seinem Kopf zu sehen. Dann schritten sie tiefer in die Höhle hinein. Wistik voran, denn der war an die Dunkelheit gewöhnt und kannte den Weg. Johannes folgte ihm, während er sich an einem Zipfel seines Rockes festhielt.

Es war vollkommen dunkel und so blieb es geraume Zeit, während sie auf einem ebenen harten Wege merklich abwärts schritten.

Die dumpfen Geräusche ringsumher wurden immer stärker und stärker. Das Dröhnen, die Donnerschläge, das Glockengeläute – das alles übertönte jetzt das Rauschen des Wassers. Da schimmerte Licht in der Ferne. Eine graue Dämmerung, fahl wie nebliges Morgenlicht. Der Tag leuchtete hinein, so daß die nassen Steine funkelten und blitzten. Ein gewaltiges donnerähnliches Getöse drang jetzt bis in den Felsengang. Auch ließ sich das Toben und Heulen eines Sturmwindes vernehmen.

Darauf standen sie draußen, an einem düsteren Tage. Ringsumher eine Wildnis mit gewaltigen Felsblöcken, grau und vom Wasser verwittert: keine Pflanze, kein Grashalm wuchs dazwischen.

Vor ihnen brüllte und raste eine wütende See mit hochbrandenden Wogen. Immerfort sah Johannes den weißen Gischt emporspritzen, und er sah auch, wie große zuckende Massen abgerissen und durch den Sturm von Fels zu Fels getrieben wurden.

Am Himmel entlang fegten schwarz-graue Wolken wie ausgefranzte Fetzen, sich umformend in blitzschneller Fahrt. Die fuhren dicht über die kochende See dahin und der weiße Dampf, der aus den schweren Wogen aufstieg, schien sie beinahe zu berühren. Wenn die Brandung gegen den Fels schlug, zitterte der Boden, und der Wind heulte und raste und tobte in den Spalten und Rissen, daß es klang wie der Schrei eines verzweifelten Menschen.

Wenn sich die dunkeln Wolkenmassen flüchtig teilten, kam ein angstvoll-bleicher Abendhimmel zum Vorschein.

Durch den heftigen Wind beklommen, vom Schaum geblendet, flüchtete Johannes mit Wistik in eine Felsspalte und überschaute das wüste Land.

Es schien Abend zu sein. Über der See, aber an der äußersten linken Ecke, wo Johannes es nimmer zu sehen vermochte, war das Sonnenlicht merkbar. Und während eines flüchtigen Augenblickes sah man das Sonnenantlitz selber, traurig und blutrot, nicht weit mehr vom Horizont entfernt. Wie glühende kupferne Stützbalken standen Strahlenpfeiler unter ihr, zwischen Meer und Wolken. Und an der andern Seite, sehr hoch, ward hin und wieder an dem bleichen Himmel das noch viel bleichere Antlitz des Mondes, tödlich blaß, hoffnungslos traurig, regungslos und gelassen, zwischen den wutentbrannten Wolkenscharen sichtbar.

Voll unbeschreiblicher Beklommenheit blickte Johannes seinen kleinen Freund an.

»Wistik – was ist das? – wo sind wir? – was geschieht denn –?«

Allein Wistik schüttelte den Kopf und richtete seine rotgeweinten Äuglein und seine geballten Fäuste in stummem Schmerz gen Himmel.

Hoch über dem Rasen des Sturmes und der See erklangen noch die dumpfen Geräusche wie Böllerschüsse und das Läuten einer Glocke. Johannes schaute sich um. Hinter ihm stand das Gebirge, schwarz und drohend, das himmelhohe Haupt stolz den rufenden Wolkenzügen entgegenstreckend, so daß sie sich meilenhoch zu einer schwarzen schwergeballten Masse emporstauten. Darinnen blitzte es immerfort in bläulichem Glanz, und dann wieder ertönten die entsetzlichen Donnerschläge. Und wenn einer der höchsten Gipfel sich aus dem Nebelmantel befreite, sah Johannes ihn in Feuer stehen, in nimmer erlöschender orangefarbener Glut, die immer leuchtender und weißer ward.

Das Glockengeläute klang von der Landseite her, unbestimmt, gleich als ließen hunderttausend Kathedralen ihre Glocken nach einem Rhythmus erschallen.

Da machten sich Wistik und Johannes auf den Weg landeinwärts und kletterten über das rauhe Gestein, und klammerten sich in dem wild tobenden Sturme aneinander fest. Die See brandete noch wilder, und der Sturm schrie und heulte wie in äußerster Raserei, wie ein gefangener Wahnsinniger, der an seinem Gitter rüttelt.

»Es hilft nichts,« jammerte Wistik, »es hilft nichts, er ist tot! – tot! – tot!«

Da hörte Johannes den Wind sprechen, so wie er früher Blumen und Tiere hatte sprechen hören.

»Er soll leben,« schrie der Wind, »ich will nicht, daß er stirbt.«

Und die See rief: »Ich werde vernichten, die ihn bedrohen. Ich werde seine Feinde verschlingen. Ich werde die Berge zerschellen und alle Tiere ausrotten.«

Da sprach das Gebirge: »Es ist zu spät. Die Zeiten haben sich erfüllt. Er ist gestorben.«

Und nun hörte Johannes, was die Glocken läuteten. Sie riefen über die ganze Erde und in den dunklen Himmel hinein:

»Pan ist tot! Pan ist tot!«

Und der bleiche Mond sprach leise und kläglich: »Weh dir, arme Erde, wo ist deine Schönheit? Jetzt werden wir weinen, weinen, weinen.«

Endlich sprach auch die Sonne: »Das Ewige wendet sich nicht. Ein neuer Tag folgt. Ergebet euch darein.«

Und plötzlich ward es still, totenstill. Der Wind legte sich mit einem Schlage, die Luft ward so regungslos, daß die schillernden Schaumköpfe unstät hin und her schwebten, gleichsam nicht wissend, wo sie niederstreichen sollten.

Ein banges Schweigen lastete auf dem ganzen totenähnlichen Lande.

Nur die wilde See konnte so rasch nicht zur Ruhe kommen und schlug noch immer in schwerer Brandung gegen die Küste. Aber dann ward auch sie still und eben, so eben, daß Mond und Sonne sich in ungetrübtem Bilde in ihr widerspiegelten wie in Quecksilber.

Der Donner über dem Vulkan verstummte und alles wartete. Allein die Glocken riefen noch immer laut und mit ehernem Schall: »Pan ist tot! Pan ist tot!«

Jetzt formten die Wolken eine dunkle wollige Schicht, über den Bergen einen weichen schwarzen Trauerflor. Daraus fiel senkrecht ein feiner Regen herab, gleich als weine der Himmel stille Tränen.

Über der See ward der Himmel klar, und Mond und Abendstern standen hoch am grünlich-bleichen Firmament. Die rote Sonne, in wolkenloser Sphäre erglühend, näherte sich dem Horizont. Als Johannes den Blick von ihr wandte und auf das Gebirge schaute, das jetzt von grauem Regen dicht verschleiert war, umzingelte ein riesengroßer doppelter Regenbogen mit seinen grellen Farben das fahle Land.

Da kam aus einer tiefen Talschlucht, die die Berge wie mit Schwerthieb spaltete und an deren Wänden Johannes dunkle Wälder zu sehen glaubte, ein träger Zug langsam näher.

Seltsame schemenhafte Gestalten flatterten wie große Nachtfalter voran und flogen geräuschlos und gespenstisch umher.

Dann kamen riesenhafte Tiere mit schwerem, behutsamem Schritt, Elefanten mit schwankenden Rüsseln, auf und nieder sich bewegenden plumpen Köpfen und dickfaltiger Haut – Nashörner mit niedergebogenem Kopf und bösartig funkelnden Augen – schnaubende Nilpferde mit ihrem wässerigen grausamen Blick, ungeschlachte grimmige Untiere mit schwülstigen Fleischbäuchen auf dünnen Beinchen – und Schlangen glitten daher, kleine und große, im Zickzack wie eine wimmelnde Flut – Scharen von Hirschen und Antilopen und Gazellen, alle scheu und ängstlich und einander verdrängend – Büffel- und Rindertrupps, stoßend und schiebend – Löwen und Tiger, jetzt schleichend, dann wieder in behenden Sprüngen über den unruhigen Zug hinauseilend, wie aufgescheuchte Fischlein über wogendes Wasser schießen – und rings um den seltsamen Zug tausende und abertausende von Vögeln: einige strichen mit schwerem, langsamem Flügelschlag immer wieder auf die Felsblöcke nieder, andere schwebten und flatterten unaufhörlich hin und her, auf und ab – und endlich kamen Milliarden von Insekten, Käfern und Fliegen und Bienen und Schmetterlingen, wie große Wolken, grau und weiß und vielfarbig, rastlos in Bewegung.

Und alles, was in dieser Menge einen Laut von sich zu geben vermochte, klagte auf seine Weise. Am lautesten erscholl das angstbeklommene, halb unterdrückte Brüllen der Rinder, das Heulen der Wölfe und Hyänen, das schrille Uhuhu der Eulen.

Das Ganze war wie eine einzige trübe Masse voll traurigen Lärmens, ein Jammern und Klagen und Wehrufen, das das beständige dumpfe Brummen und Summen übertönte.

»Dies ist erst die Vorhut,« sagte Wistik, dessen Verzweiflung angesichts dieses lebendigen Schauspiels ein wenig zu weichen schien. »Dies sind erst die Tiere, jetzt kommen die Tiergeister.«

Da erschien, von allen Tieren ehrfurchtsvoll gemieden, eine Schar seltsamer und wunderbarer Gestalten. Sie alle hatten Tierformen, waren aber größer und besser gestaltet. Auch sahen sie klüger und stolzer aus – und bewegten sich nicht mit Hilfe von Beinen oder Flügeln, sondern schwebten wie Schemen, während ihre Augen und ihre Köpfe ein Licht auszustrahlen schienen wie die See in dunkeln Nächten.

»Tritt näher,« sagte Wistik, »sie kennen uns.« Und wirklich war es Johannes, als ob die Tiergeister ihn grüßten, ernst und traurig. Aber nur die ihm bekannten Tiere aus seinem Vaterland. Und es fiel ihm seltsam auf, daß die, welche von den Menschen durchaus nicht als die höchsten anerkannt wurden, die schönsten und größten waren.

»O sieh nur, Wistik, sind das Schmetterlingsgeister? Wie schön und groß sind die!«

Es waren herrliche Wesen, groß wie ein Haus, mit strahlenden Augen und einem wunderbaren Flügelschmuck in bunten, leuchtenden Farben.

Aber jetzt schleppten sie alle mühsam ihre Flügel, gleich als wären sie durchnäßt, und blickten Johannes ernst und schweigend an.

»Gibt es auch Pflanzengeister, Wistik?«

»O ja, Johannes, aber die sind sehr groß und unbestimmt und sehr flüchtig, sieh nur, dort schweben sie.«

Und Wistik zeigte ihm die dünnen nebelhaften Gestalten, die Johannes als erste vor dem Zuge gesehen hatte.

»Jetzt kommt er, jetzt kommt er, oh, oh!« rief Wistik, während er sein Mützchen abnahm und von neuem zu schluchzen begann.

Und unter leisem und traurigem Klagegesang, von weinenden Nymphen begleitet, die sich umschlangen und deren langes Haar und deren welke Blumenkränze vom Regen troffen, kam die große Bahre aus rauhen Stämmen, auf der Vater Pan unter Efeu, Mohn und Veilchen ruhte. Junge starksehnige Faune trugen ihn; ihr gerötetes Antlitz schien verzerrt durch unterdrücktes Schluchzen. Eine Schar ernster Zentauren folgte reitend, den Kopf auf die Brust gesenkt, stumm und langsam, sich hin und wieder mit ihren groben Fäusten die Flanken schlagend, daß es wie Drommeten erklang.

Ein Eichhörnchen lag zusammengekauert auf Pans rauher Brust, gleich als wollte es ihn nimmermehr verlassen, ein Rotkehlchen saß an seinem Ohr und zwitscherte ohn' Unterlaß, wehmütig und geduldig, von der unbestimmten Hoffnung beseelt, daß er es dennoch hören möge.

Allein das große gütige Antlitz mit dem breiten Lächeln blieb unbeweglich.

Als Johannes das sah und seinen guten Vater Pan erkannte, brach auch er in lautes Schluchzen aus, und seine Tränen flossen.

»Jetzt kommen die Ungeheuer,« flüsterte Wistik ihm zu, »die Ungeheuer aus der Vorwelt.«

Hu, das war ein grauenerregendes Schauspiel. Ungeheuer und Drachen, größer als zehn Elefanten zusammen, mit schauderhaften Hörnern und Zähnen und stachligen Panzern, gewaltig langen Hälsen, auf denen ein kleiner Kopf mit großen dummen Augen und scharfen Zähnen saß, und unbestimmten graugrünen und schwarzen Farben, hier und dort grellrot oder smaragdgrün gesprenkelt auf der dickfaltigen knotigen oder schleimig glatten Haut – die zogen jetzt vorüber, schleppenden Schrittes oder mit schwerfälligen Sprüngen, meist stumm – und stießen nur ab und zu ein lautes weithin tönendes Geheul aus. Und seltsame Tiere wie riesenhafte Fledermäuse mit hakenförmigem Schnabel und gekrümmten Klauen durchstrichen in plumpem flatterndem Fluge mit ihren dunkelgelben Flügeln die Lüfte.

Als endlich die ganze Schar an den weiten Felsstrand gelangt war, durchzuckten tausende und abertausende kleiner und großer Kreise die spiegelblanke Meeresfläche, soweit das Auge reichte: die behenden Delphine sprangen in zierlichen Bogen aus dem Wasser und in das Wasser, die spitzen Finnen von Hai- und Braunfischen durchschnitten schnurgerade die glatte Oberfläche, indem sie weit sich hinziehende Furchen zurückließen, und brausend stauten gewaltige dunkelglänzende Walfischköpfe das Wasser vor sich her, daß der weiße Gischt hoch aufspritzte und es wie zischender Dampf erklang.

Die Sonne berührte den Horizont, der Regen ließ nach und die Nebel teilten sich, so daß immer mehr und mehr Sterne sichtbar wurden. Über dem Krater stand eine dunkle Rauchsäule und darunter glühte das Feuer, jetzt weißlich-siedend und ohne Getöse.

Da ward all das lebendige Geräusch schwächer und schwächer, bis nur mehr ein dumpfes Jammern und Stöhnen hörbar war. Dann endlich völlige Stille.

Pans Totenbahre stand am Ufer des Meeres, und ringsum alles, was da lebte.

Die roten Sonnenstrahlen beschienen die große Leiche, die Baumstämme, auf denen sie ruhte und die dunklen Haufen dürren Laubes und welkender Blumen. Aber sie schossen auch funkelnd hinauf zu dem erhabenen Gebirge und brannten dort mächtig auf dem rauhen Basalt.

Wistik starrte mit großen weitgeöffneten Augen und bleichen Angesichts auf den rötlich erstrahlenden Bergesgipfel und rief mit halberstickter Stimme:

»Knie nieder, Johannes, knie nieder. Sie kommt, unsere heilige Mutter kommt.«

Zitternd vor Ehrfurcht blickte Johannes auf.

Was er sah, vermochte er anfänglich nicht zu deuten. War es eine Wolke, bläulich-weiß? Aber wie kam es denn, daß die nicht rot war im abendlichen Glühen? War es ein Gletscher? Doch siehe, das Bläulich-Weiße senkte sich langsam herab wie eine Schneelawine. Scharf sich abhebend von den roten Bergwänden.

Da schien es ihm, als ob die sinkende Wolke sich teile. Ihre linke Seite, die größere, war dunkler, blau und bläulichgrün, die rechte leuchtend weiß.

Jetzt sah er es deutlich, es waren zwei Gestalten in glänzenden lichtausstrahlenden Gewändern. Ihr Licht ward durch den Abendsonnenglanz nicht getrübt. Grün strahlte das Gewand der größeren Gestalt, aber um ihr Haupt war eine Aureole himmelsblauen Lichtes. Die andere trug weißschimmernde Gewänder.

Sie waren so ungeheuer groß, daß sie in einem einzigen Augenblick von den Bergen herabschwebten, so wie eine Taube aus dem Wipfel einer Buche auf den Acker niederstreicht.

Als sie an der Totenbahre standen, schaute Johannes der Größeren ins Angesicht, und da wußte er, daß sie ihm vertraut war und teuer wie eine Mutter. Es war seine Mutter, Mutter Erde.

Sie schaute auf den Toten und segnete ihn. Sie schaute auf all das Lebende und sann und sann. Dann schaute sie in das Sonnenantlitz, bevor es verschwand, und lächelte.

Und sich nach dem Vulkan umwendend, winkte sie. Die Wand des Kraters spaltete sich mit donnerähnlichem Getöse und der siedende Lavastrom schoß hernieder wie ein Blitz.

Danach ward für Johannes alles Nacht und Nebel und Finsternis. Er sah die Totenbahre in Feuer stehen, zu einem Scheiterhaufen verzehrt, von dickem schwarzem Rauch umqualmt.

Aber er sah auch als Letztes von allem die weiße strahlende Gestalt, die neben Mutter Erde einherschritt, hoch aufleuchten über Nacht und Rauch. Er sah wie sie sich ihm näherte und ihr schimmerndes Antlitz über ihn neigte, bis es den ganzen Himmel erfüllte.

Da erkannte er seinen Begleiter.


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