Frederik van Eeden
Der kleine Johannes
Frederik van Eeden

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Lange schon saß Johannes wartend da. Die Luft war kühl und große Wolken trieben dicht über der Erde in endloser stattlicher Folge. Sie breiteten ihre düstergrauen weitwogenden Mäntel aus und kräuselten ihre stolzen Köpfe in dem klaren Licht, das dort oben erstrahlte. Wunderbar schnell wechselten Sonnenlicht und Schatten auf den Bäumen einander ab, wie ein stets von neuem aufloderndes Feuer. Johannes ward es ganz ängstlich zumute; er sann über das Büchelchen nach und wollte nicht recht daran glauben, daß er es heute finden würde. Zwischen den Wolken, viel höher, unendlich hoch, sah er das klare, straffe Blau und darauf zarte, weiße, flaumgleiche Wölkchen in friedlich-unbeweglicher Ruhe hingestreckt.

»So muß es sein«, dachte er, »so hoch, so licht, so still.«

Da kam Robinetta; das Rotkehlchen war nicht bei ihr.

»Es ist gut, Johannes«, rief sie laut, »du darfst kommen und das Buch sehen.«

»Wo ist das Rotkehlchen?« fragte Johannes zweifelnd.

»Das ist nicht mitgekommen, wir gehen ja doch nicht spazieren.«

Er folgte ihr und dachte immer und immerfort: »Es kann nicht sein; so kann es nicht sein, es müßte alles ganz anders sein.«

Dennoch folgte er dem schimmernden Blondhaar, das vor ihm herleuchtete.

Ach! und jetzt erging es dem kleinen Johannes gar traurig. Ich wünschte, daß seine Geschichte hier zu Ende wäre. Habt ihr wohl einmal wunderbar herrlich geträumt von einem Zaubergarten, von Blumen und Tieren, die euch lieb hatten und die zu euch sprachen? Und ist euch dann auch wohl einmal im Traum plötzlich das Bewußtsein gekommen, daß ihr alsbald erwachen und all jene Herrlichkeit verlieren würdet? Dann müht ihr euch vergeblich, sie festzuhalten, und wollt das kalte Morgenlicht nicht sehen.

Solch ein Gefühl beschlich Johannes, während er Robinetta folgte.

Er kam in das Haus, in einen Flur, in dem seine Schritte kräftig widerhallten. Er roch den Duft von Speisen und Kleidern: er dachte an lange Tage, die er daheim hatte verbringen müssen – an Schulaufgaben und an alles das, was jemals in seinem Leben kalt und düster gewesen.

Er betrat ein Zimmer, in dem sich Menschen aufhielten. Wieviele es waren, das sah er nicht. Sie plauderten, doch als er eintrat, ward es plötzlich ganz still. Er blickte auf den Teppich, darauf prangten große Blumen in grellen Farben. Sie waren ebenso seltsam und so mißgestaltet, wie die auf der Tapete daheim in seinem Schlafstübchen.

»Ist das nun der kleine Gärtnerbursche?« fragte eine Stimme, ihm gerade gegenüber. »Komm du nur her, Freundchen, du brauchst dich nicht zu fürchten.«

Und plötzlich erklang neben ihm eine andere Stimme: »Du, Robbi, da hast du dir aber einen netten Schatz ausgesucht.«

Was hatte das alles zu bedeuten? – Wiederum legten sich tiefe Schatten über Johannes' dunkle Kinderaugen, und erschreckt und ratlos blickte er um sich.

Da saß ein schwarz gekleideter Mann, der ihn mit kalten, grauen Augen ansah.

»So, so, du wolltest also das Buch der Bücher kennen lernen? Es wundert mich, daß dein Vater, den ich als einen frommen Mann kenne, dir das nicht gegeben hat.«

»Sie kennen meinen Vater nicht – der ist weit fort.«

»So – nun, das ist ganz gleich. Sieh, mein kleiner Freund, hierin sollst du fleißig lesen, es wird dir auf deinem Lebenswege ...«

Johannes aber hatte das Buch bereits erkannt. So konnte er auch nicht dazu gelangen, das mußte ganz anders zugehen. Er schüttelte den Kopf.

»Nein, nein, das ist es nicht, was ich meine. Dieses kenne ich. Dies ist es nicht.«

Er hörte Ausrufe des Staunens und fühlte die stechenden Blicke, die ihn von allen Seiten trafen.

»Wie? Was meinst du denn eigentlich, du kleiner Mann?«

»Ich kenne dieses Buch, es ist das Menschenbuch. Aber es ist nicht das rechte – denn sonst würde unter den Menschen Ruhe und Frieden herrschen, und die sind nirgendwo zu finden. Ich meine etwas anderes – etwas, an dem niemand zweifeln kann, der es sieht. Ich meine ein Buch, in dem beschrieben steht, warum alles so ist, wie es ist, ganz klar und deutlich.«

»Wie ist das nur möglich? Wo hat der Junge das her?«

»Wer hat dich das gelehrt, Freundchen?«

»Ich glaube, daß du ganz verkehrte Bücher gelesen hast, mein Junge, und daß du das alles jetzt nachschwätzest.«

So und ähnlich klangen die Stimmen. Johannes fühlte, wie seine Wangen erglühten. Ihn schwindelte. Das Zimmer drehte sich vor seinen Blicken und die großen Blumen im Teppich schwebten auf und nieder. Wo war das Mäuschen, das ihn in der Schule an jenem ersten Tage so getreulich gewarnt hatte? Jetzt brauchte er es gar nötig.

»Ich schwätze nichts aus Büchern nach, und der mich das alles gelehrt hat, gilt mehr, als Ihr alle zusammen. Ich kenne die Sprache der Blumen und der Tiere, ich bin ihr Vertrauter. Ich weiß auch, was Menschen sind und wie sie leben. Ich kenne all die Geheimnisse der Feen und der Heinzelmännchen, denn mich haben sie lieber als die Menschen.«

Mäuslein! Mäuslein!

Um sich her und hinter sich hörte Johannes Kichern und Lachen. In seinen Ohren summte und sauste es gar seltsam.

»Er scheint Andersen gelesen zu haben.«

»Er ist nicht recht gescheit.«

Der Mann ihm gegenüber sagte:

»Wenn du Andersen kennst, Kleiner, dann müßtest du doch wohl etwas mehr Ehrfurcht vor Gott und seinem Worte hegen.«

»Gott«, dieses Wort kannte er, und er gedachte der Lehren Windekinds.

»Ich hege keine Ehrfurcht vor Gott. Gott ist eine große Petroleumlampe, durch die Tausende irregeführt werden und verunglücken.«

Kein Gelächter – dafür aber eine beklemmende Stille, in der Abscheu und Entsetzen fühlbar umgingen. Johannes fühlte die stechenden Blicke, die auf ihm ruhten. Ihm war zumute wie in dem Traum der verflossenen Nacht.

Der schwarz gekleidete Mann erhob sich und packte ihn beim Arm. Das tat weh und hätte ihm beinahe den Mut zerbrochen.

»Höre mal, mein Junge, ich weiß nicht, ob du nicht recht gescheit oder ob du durch und durch verdorben bist. Aber solche Gottlosigkeit dulde ich hier nicht – geh jetzt, und komm' mir nicht wieder unter die Augen, das sage ich dir. Ich werde nicht verfehlen, Nachfrage nach dir zu halten, aber in diese Gegend setzest du keinen Fuß mehr. Verstanden?«

Aller Blicke waren kalt und feindlich, genau so wie in der verflossenen Nacht. Ängstlich schaute Johannes um sich. »Robinetta! Wo ist Robinetta?«

»Jawohl, ich werde mir mein Kind verderben lassen! Nimm dich in acht, wenn du je wieder mit ihr zu sprechen wagst.«

»Nein, laßt mich zu ihr, ich will sie nicht verlassen. Robinetta!« rief Johannes weinend.

Die aber saß angstbeklommen in einer Ecke und blickte nicht auf.

»Mach, daß du fortkommst, Schlingel, hörst du denn nicht? Und daß du dich nicht unterstehst, jemals hierher zurückzukommen!«

Und die derb und schmerzhaft zugreifende Hand führte ihn durch den schallenden Flur – die Glastür klirrte – und Johannes stand draußen unter dem dunkeln, tief herabhängenden Gewölk.

Er weinte nicht mehr, sondern starrte nur still vor sich hin, während er langsam weiterging. Die trüben Schatten über seinen Augen hatten sich vertieft und verloren sich nicht mehr.

Das Rotkehlchen saß in einem Lindenbaum und blickte ihn an. Er stand stille und blickte schweigend zu ihm herüber. Allein es sprach kein Zutrauen mehr aus den scheuen, spähenden Äuglein, und als er um einen Schritt näher trat, flog das flinke Tierchen eiligst von dannen.

»Fort, fort, ein Mensch!« zwitscherten die Spatzen, die auf dem Gartenpfad beisammen saßen, und schleunigst stoben sie auseinander. Auch die aufgeblühten Blumen lachten nicht, sondern schauten ernst und gleichgültig drein, so wie sie es jedem Fremden gegenüber zu tun pflegen.

Johannes aber verstand dieses Zeichen nicht, sondern dachte nur an die Kränkung, die ihm von den Menschen widerfahren. Ihm war, als habe man ihm sein Innerstes, Heiligstes mit kalten, harten Händen entweiht. »Sie sollen mir glauben«, dachte er; »ich werde mein Schlüsselein»holen und es ihnen zeigen.«

»Johannes! Johannes!« rief plötzlich ein seines Stimmchen. Da war ein kleines Vogelnest in einem Myrthendorn, und Wistiks große Augen schauten über den Rand.

»Wo willst du hin?«

»Es ist alles deine Schuld, Wistik,« sagte Johannes. »Laß mich in Ruhe.«

»Warum sprichst du denn auch mit Menschen darüber? Menschen verstehen dich doch nicht. Warum erzählst du den Menschen diese Dinge? Das ist sehr dumm von dir.«

»Sie haben mich ausgelacht und mir wehe getan. Es sind abscheuliche Geschöpfe, ich hasse sie.«

»Nein, Johannes, du liebst sie.«

»Nein, nein!«

»Sonst würde es dich weniger schmerzen, daß sie anders sind als du; und was sie sagen, würde dir ganz gleichgültig sein. Du mußt dich weniger um die Menschen kümmern.«

»Ich will mein Schlüsselein: ich will es ihnen zeigen.«

»Das mußt du nicht tun, sie würden dir doch nicht glauben. Wozu denn?«

»Ich will mein Schlüsselein holen, unter dem Rosenstrauch. Weißt du den zu finden?«

»Ja, ja, dort drüben am Teich, nicht wahr? Ja, ja, ich weiß wohl.«

»So führe mich dorthin«, bat Johannes.

Wistik kletterte Johannes auf die Schulter und zeigte ihm den Weg. Sie liefen den ganzen Tag – es ging ein starker Wind, und von Zeit zu Zeit fiel ein Regenschauer herab; allein gegen Abend wurden die Wolken still und dehnten sich zu langen goldiggrauen Streifen.

Als sie an die Düne kamen, die Johannes kannte, ward es ihm weich ums Herz und er flüsterte einmal übers andere:

»Windekind! Windekind!«

Da war der Kaninchenbau – und die Düne, an deren Hang er einst geschlafen hatte. Das graue Renntiermoos war weich und feucht und raschelte nicht unter seinem Fuße. Die Rosen waren aufgeblüht und die gelben Nachtkerzen mit ihrem süßlichen betäubenden Duft streckten ihre Kelche zu Hunderten empor. Höher noch erhoben sich die langen stolzen Fackeldisteln mit ihren dicken filzigen Blättern.

Suchend spähte Johannes nach dem seinen bräunlichen Laub der Dünenrose.

»Wo ist sie, Wistik? ich sehe sie nicht.«

»Davon weiß ich nichts«, antwortete Wistik. »Du hast das Schlüsselein verborgen, nicht ich.«

Wo einst die Rose geblüht, war jetzt ein Feld voll gelber Blumen, die seelenlos hinaufblickten. Johannes befragte sie und auch die Fackeldisteln. Die aber waren viel zu stolz, denn ihre langen Blütendolden ragten hoch über ihn empor und so fragte er denn die kleinen dreifarbigen Veilchen, die auf dem sandigen Boden wuchsen.

Allein niemand wußte etwas von der Dünenrose. Sie alle stammten aus diesem Sommer. Sogar die eingebildete Fackeldistel, die so hoch gewachsen war.

»Ach, wo ist sie? wo ist sie?«

»Also hast auch du mich gefoppt«, sagte Wistik. »Ich dachte es mir beinahe, so ergeht es Einem immer mit den Menschen.«

Und er ließ sich von der Schulter des kleinen Johannes herabgleiten und eilte davon durch die Halme.

Verzweifelt schaute Johannes um sich her. – Dort stand ein kleiner Dünenrosenstrauch.

»Wo ist die Rose?« fragte Johannes. »Die große, die hier früher gestanden?«

»Wir sprechen nicht mit Menschen«, antwortete der kleine Strauch.

Das war das Letzte, was er hörte – alles Lebendige um ihn her schwieg, nur die Halme rauschten leise in dem sanften Abendwind.

»Bin ich ein Mensch?« dachte Johannes. »Nein, das kann nicht, das kann nicht sein. Ich will kein Mensch sein, ich hasse die Menschen.«

Er war müde und sein Denken trübe. Er streckte sich am Rand des kleinen Feldes auf weiches graues Moos hin, das einen starken feuchten Duft ausströmte.

»Jetzt kann ich nicht zurückkehren, und auch Robinetta werde ich nicht wiedersehen. Ob ich nicht sterben werde, wenn ich sie nicht habe? Ob ich wohl am Leben bleibe und ein Mensch wie jene andern, die mich auslachten?«

Da sah er plötzlich wieder die beiden weißen Falter, die von dorther, wo die Sonne unterging, zu ihm herüberflatterten. Gespannt folgte er ihrem Fluge. Ob sie ihm wohl den Weg weisen würden? Sie flogen über seinem Kopfe dahin, näherten sich einander, trennten sich dann wieder und umkreisten sich beständig in launigem, neckischem Spiel. Langsam entfernten sie sich von der Sonne und schwebten endlich über den Dünenrand dem Walde zu; nur dessen höchste Wipfel flammten noch in der Abendglut, die grellrot unter den langen düsteren Wollenzügen brannte.

Johannes folgte ihnen. Aber als sie über den ersten Bäumen waren, da sah er, wie ein dunkler Schatten ihnen in unhörbar flatterndem Fluge folgte und sie einholte. Im nächsten Augenblick waren sie verschwunden. Der schwarze Schatten flog auf ihn zu, und angstvoll bedeckte er das Gesicht mit beiden Händen.

»Ei, Kleiner, was sitzest du da und weinst?« klang eine scharfe spöttische Stimme dicht neben ihm. Johannes hatte eine große Fledermaus auf sich zufliegen sehen, aber als er aufblickte, da stand auf der Düne ein schwarzes Männlein, das nicht größer war als er selber. Er hatte einen großen Kopf mit langen Ohren, die sich dunkel vom lichten Abendhimmel abhoben und einen hageren Körper auf dünnen Beinen. Von seinem Gesicht sah Johannes nur die kleinen funkelnden Augen.

»Hast du etwas verloren, Kleiner? dann will ich dir suchen helfen,« sagte er. Johannes aber schüttelte schweigend den Kopf.

»Sieh mal! soll ich dir das schenken?« hub er dann von neuem an, während er die Hand öffnete. Darinnen sah Johannes etwas Weißes, das sich von Zeit zu Zelt flüchtig regte. Es waren die kleinen weißen Falter, die sterbend mit den zerrissenen gebrochenen Flügelchen schlugen. Johannes fühlte einen Schauder, gleich als blase ihm jemand heftig gegen den Hinterkopf, und voller Entsetzen blickte er zu dem seltsamen Wesen auf.

»Wer bist du?« fragte er.

»Möchtest du meinen Namen wissen, Kleiner? Nun, nenne du mich nur Klauber. Kurzweg Klauber. Ich habe zwar noch schönere Namen, aber die verstehst du doch nicht.«

»Bist du ein Mensch?«

»Nun hör doch bloß einer an! Ich habe doch wahrhaftig Arme und Beine und einen Kopf – und sieh mal, was für einen Kopf! – und nun fragt mich solch ein Bürschlein, ob ich ein Mensch sei. Aber, Johannes, Johannes!« und dabei lachte das Männchen mit schrillem piependem Klang.

»Wie weißt du denn, wer ich bin?« fragte Johannes.

»O, das ist ein Leichtes für mich, ich weiß noch viel, viel mehr. Ich weiß auch, woher du kommst und was du hier suchst. Ich weiß erstaunlich viel, beinahe alles.«

»Ach, Herr Klauber!«

»Klauber, kurzweg Klauber, bitte keine Umstände.«

»Wißt ihr denn auch ...« Aber plötzlich verstummte Johannes. »Er ist ein Mensch«, dachte er.

»Von deinem Schlüsselein, meinst du? Ja, freilich.«

»Und ich glaubte doch, daß Menschen davon nichts wissen könnten.«

»Dummer Junge! Und Wistik hat es doch schon so vielen verraten!«

»Kennst du den Wistik denn auch?«

»O ja, er ist einer meiner besten Freunde – und ich habe viele Freunde. – Aber das wußte ich auch schon ohne Wistik. Ich weiß viel mehr als Wistik. Wistik ist ein guter Kerl, aber dumm, außerordentlich dumm. Ich aber nicht, ganz im Gegenteil.« – Und dabei schlug sich Klauber mit seinen mageren Händchen selbstgefällig auf den großen Kopf.

»Weißt du, Johannes«, fuhr er fort, »was Wistiks größtes Gebrechen ist? Du darfst es ihm aber niemals sagen, sonst wird er sehr ärgerlich.«

»Nun, was denn?« fragte Johannes.

»Daß er gar nicht besteht. Das ist natürlich ein großes Gebrechen, das er aber nicht eingestehen will. Und er behauptet von mir, daß ich nicht bestehe – aber das lügt er. Und ob ich bestehe! Teufel noch mal!«

Und dabei steckte Klauber die Schmetterlinge in seine Tasche und stellte sich plötzlich vor Johannes auf den Kopf. Dabei grinste er gar scheußlich und streckte eine lange Zunge heraus. Johannes, den es ohnehin schon grauste, mit diesem wunderlichen Wesen bei hereinbrechender Nacht so ganz allein in den Dünen zu sein, zitterte jetzt vor Angst.

»Das ist eine reizende Art und Weise sich die Welt anzusehen«, sagte Klauber, noch immer auf dem Kopf stehend. »Wenn du willst, so werde ich es dich auch lehren. Man sieht alles dann viel schärfer und viel natürlicher.«

Und dabei zappelte er mit den spindeldürren Beinchen in der Luft umher und drehte sich auf seinen Händen um und um. Als der rote Abendschein auf das umgekehrte Gesicht fiel, fand Johannes es abscheulich. Die kleinen Äuglein zwinkerten im Licht und zeigten das Weiß an der Seite, wo man es in der Regel nicht zu sehen pflegt.

»Siehst du, so erscheinen die Wolken wie der Boden – und die Erde wie der Deckel der Welt. Man kann das ebenso gut behaupten wie das Gegenteil. Es gibt doch weder ein Oben noch ein Unten. Schön müßte es sich wandeln lassen dort auf den Wolken.«

Johannes blickte hinauf zu den langen Wolkenzügen. Er fand, daß sie einem gepflügten Acker voll roter Furchen glichen, und es war, als quelle Blut daraus empor, über dem Meer leuchtete das Tor der Wolkengrotte.

»Kann man dorthin gehen und da hinein gelangen?« fragte er.

»Unsinn!« sagte Klauber, der zu des Johannes großer Beruhigung plötzlich wieder auf den Füßen stand. »Unsinn! wenn du dort bist, ist alles genau so wie hier – und dann scheint all das Schöne wieder um ein wenig weiter fortgerückt zu sein. In jenen schönen Wolken ist es kalt und grau und neblig.«

»Ich glaube dir nicht,« sagte Johannes. »Jetzt sehe ich es erst so recht, daß du ein Mensch bist!«

»So, so, du glaubst mir also nicht, mein bester Junge, weil ich ein Mensch bin? Ja, sag mal, bist du denn etwa selber was gar so Besonderes?«

»Ach, Klauber, bin ich denn auch ein Mensch?«

»Ja, was glaubst du denn? Ein Elfe etwa? Elfen verlieben sich nicht.« Und Klauber setzte sich dem Johannes gerade gegenüber, kreuzte die Beine und grinste ihn unverwandt an. Johannes fühlte sich unter diesem Blick unsäglich verlegen und beklommen, und am liebsten hätte er sich verkrochen oder unsichtbar gemacht. Allein er vermochte die Augen nicht abzuwenden.

»Nur Menschen verlieben sich, Johannes, hörst du wohl? Und das ist auch gut so, denn sonst würde es schon längst keine mehr geben. Und du hast dich bis über die Ohren verliebt, so jung wie du bist. An wen denkst du jetzt eben?«

»An Robinetta!« flüsterte Johannes kaum hörbar.

»Nach wem sehnst du dich am meisten?«

»Nach Robinetta.«

»Ohne wen glaubst du nicht leben zu können?«

Johannes' Lippen flüsterten fast lautlos: »Robinetta!«

»Ei nun, Kleiner,« sagte Klauber grinsend, »wie kommst du denn dazu, dir einzubilden, du seist ein Elfe? Elfen verlieben sich nicht in Menschenkinder.«

»Aber es war Windekind ...« stammelte Johannes in seiner Verlegenheit. Da schaute Klauber mit einem Mal entsetzlich falsch drein und packte Johannes mit seinen knochigen Händchen bei den Ohren.

»Was ist das für ein Unsinn! Wolltest du mich etwa mit dem Kauz bange machen? Der ist noch viel dümmer als Wistik – viel, viel dümmer. Der weiß überhaupt nichts. Und was viel schlimmer ist, er besteht gar nicht und hat niemals bestanden. Nur ich bestehe, begreifst du mich? Und wenn du mir nicht glaubst, so werde ich es dich schon fühlen lassen, daß ich da bin.«

Und dabei zupfte er den armen Johannes ganz empfindlich an den Ohren.

Der rief: »Aber ich kenne ihn doch schon so lange, und so weit, so weit bin ich mit ihm fortgezogen.«

»Du hast geträumt, sage ich dir. Wo ist denn dein Rosenstrauch und dein Schlüsselein, he? – Aber jetzt träumst du nicht, fühlst du das wohl?«

»Au! au!« rief Johannes; denn Klauber kniff ihn.

Es dunkelte bereits und die Fledermäuse strichen unter schrillem Kreischen dicht an ihren Köpfen vorüber. Der Himmel war schwer und schwarz – im Walde regte sich kein Blättlein.

»Darf ich heim gehen?« bat Johannes flehentlich. »Zu meinem Vater?«

»Zu deinem Vater? Was willst du denn dort?« fragte Klauber. »Der Mann wird dich wohl nicht allzu freundlich empfangen, nachdem du so lange fort geblieben bist.«

»Ich sehne mich nach Hause,« sagte Johannes, und er gedachte des traulichen hellerleuchteten Wohnzimmers, in dem er so oft mit seinem Vater gesessen und dem Kritzeln seiner Feder gelauscht hatte. Dort war es friedlich und behaglich.

»Ja, dann hattest du nur nicht fortgehen und fortbleiben sollen. Um dieses Einfaltspinsels willen, der überhaupt gar nicht einmal besteht. Jetzt ist es zu spät. Und es macht auch gar nichts, ich werde schon für dich sorgen. Ob ich das tue oder dein Vater, das ist im Grunde genommen genau dasselbe. So 'n Vater, – das ist alles doch nur Einbildung. Hast du ihn dir etwa selber ausgesucht? Glaubst du denn, daß es nicht andere gibt, die ebenso gut und ebenso klug sind? Ich bin ebenso gut und viel klüger, – viel klüger noch.«

Johannes hatte nicht den Mut zu antworten. – Er schloß die Augen und nickte müde.

»Und von jener Robinetta hast du auch nichts zu erwarten,« fuhr der kleine Mann fort. Er legte Johannes die Hände auf die Schultern und sprach, jetzt ganz dicht an seinem Ohr: »Das Kind hat dich ebenso gut zum Narren gehalten wie die Andern. Sahst du denn nicht, daß sie still in ihrer Ecke sitzen blieb und kein Wort sagte, während man dich auslachte? Sie ist um kein Haar besser als all die übrigen. Sie fand, daß du ein nettes Bürschlein seist und hat mit dir gespielt und zwar so, wie sie mit einem Maikäfer spielen würde. Ihr lag nichts daran, ob du fortgingst oder nicht, und von jenem Büchelchen wußte sie gar nichts. Ich aber wohl – ich weiß wo es ist, und ich will dir suchen helfen. Ich weiß beinahe alles.«

Und Johannes begann ihm zu glauben.

»Kommst du mit? Willst du mit mir suchen?«

»Ich bin so müde,« sagte Johannes, »laß mich doch irgendwo schlafen.«

»Ich bin im allgemeinen kein Freund vom Schlafen,« sagte Klauber, »dazu bin ich viel zu lebhaft. – Ein Mensch soll immerfort denken und aus den Augen schauen. Aber ein kleines Weilchen will ich dir doch Ruhe gönnen – auf morgen also.«

Darauf machte er das freundlichste Gesicht, das er zu machen imstande war, und Johannes blickte starr in die glitzernden Äuglein – bis er nichts anderes mehr sah. Der Kopf wurde ihm schwer, und müde lehnte er sich an den moosbewachsenen Dünenhang. Die Äuglein schienen aus immer weiterer und weiterer Ferne zu leuchten, bis sie Sterne am stillen Nachthimmel wurden. Ihm war, als höre er den Klang ferner Stimmen, als weiche die Erde unter seinen Füßen – dann hörte sein Denken auf.


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