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Aus den Erinnerungen von A. P. Miljukow.
1848-1849

Literaturhistoriker der fünfziger Jahre, Verfasser der ersten Literaturgeschichte, die von den Ideen Bjelinskijs durchdrungen war.

Ich lernte Dostojewskij im Winter 1848 kennen. Für die damalige gebildete Jugend war es eine schwere Zeit. Nach der Februarrevolution in Paris, den Reformen Pius IX., den Erhebungen in Mailand, Venedig und Neapel, dem Sieg der freiheitlichen Ideen in Deutschland und den Revolutionen in Berlin und Wien glaubten alle an die Wiedergeburt der ganzen europäischen Welt. Die durchfaulten Pfeiler der Reaktion stürzten einer nach dem andern ein, und in ganz Europa schien neues Leben zu keimen. Doch in Rußland herrschte zu der gleichen Zeit die schwerste Reaktion; Wissenschaft und Presse konnten unter dem harten Drucke der Regierung kaum atmen, und jede Äußerung des geistigen Lebens wurde erstickt. Aus dem Auslande wurden eine Menge freiheitlicher Schriften, teils wissenschaftlichen, teils literarischen Inhaltes, eingeschmuggelt. In den französischen und deutschen Zeitungen las man trotz der strengsten Zensur aufreizende Artikel, bei uns war aber jede wissenschaftliche und literarische Betätigung fast unmöglich gemacht, und die Zensur wütete gegen jedes neue Buch. Selbstverständlich wirkte das alles höchst aufreizend auf die Jugend, die einerseits durch die aus dem Auslande kommenden Bücher und Zeitschriften nicht nur liberale Ideen, sondern auch die extremsten sozialistischen Lehren kennen lernte und andererseits bei sich zu Hause jeden noch so unschuldigen freiheitlichen Gedanken aufs grausamste verfolgt sah; man las die zündenden Reden, die im französischen Parlamente und in Frankfurt gehalten wurden, und erlebte täglich, daß irgend jemand für ein unvorsichtiges Wort oder ein verbotenes Buch wie ein Verbrecher bestraft wurde. Fast jede ausländische Post brachte Nachrichten von neuen Rechten, die sich die Völker erkämpft hatten, während man in der russischen Gesellschaft nur von neuen Ausnahmegesetzen und Verfolgungen hörte. Jeder, der sich noch an diese Zeit erinnert, weiß, wie das alles auf die Jugend wirkte.

Nun bildeten sich in Petersburg kleine Zirkel gleichgesinnter junger Leute, die zum größten Teil erst vor kurzem die Hochschule verlassen hatten. Man kam zusammen, nur um die letzten Neuigkeiten und Gerüchte auszutauschen und frei seine Ansichten zu äußern. In diesen Zirkeln wurden neue Bekanntschaften angeknüpft und alte erneuert.

So kam auch ich eines Abends in eine solche Versammlung, die bei dem jungen Dichter A. N. Pleschtschejew stattfand. Ich lernte dort eine Reihe von Menschen kennen, deren Andenken ich immer heilig halten werde. Unter anderen waren anwesend: Porfirij Lamanskij, Sergej Durow, die Gardeoffiziere Nikolai Monbelli und Alexander Palm und die Brüder Michail und Fjodor Dostojewskij. Alle diese jungen Männer waren mir außerordentlich sympathisch. Besonders intim wurde ich mit den beiden Dostojewskijs und mit Monbelli. Der letztere wohnte damals in der Kaserne, und auch bei ihm hatten wir Zusammenkünfte. In seinem Zirkel lernte ich noch einige andere Personen kennen und erfuhr, daß bei einem gewissen M. W. Butaschewitsch-Petraschewskij große Versammlungen stattfanden, wo Vorträge über politische und soziale Fragen gehalten wurden. Jemand erklärte sich bereit, mich bei Petraschewskij einzuführen; ich lehnte aber ab, nicht aus Angst oder Gleichgültigkeit, sondern weil mir Petraschewskij, den ich vor kurzem kennen gelernt hatte, nicht sonderlich gefiel: er äußerte gar zu paradoxe Ansichten und zeigte eine gewisse Abneigung gegen alles Russische.

Dagegen nahm ich die Aufforderung, dem kleinen Kreise, welcher sich um Durow gruppierte, beizutreten, sehr gern an; bei Durow verkehrten mehrere junge Leute, die auch zum Petraschewskijschen Kreise gehörten, doch gemäßigteren Anschauungen huldigten. Durow wohnte um jene Zeit mit Palm in der Gorochowaja-Straße. In seiner kleinen Wohnung versammelte sich jeden Freitag ein organisierter Kreis junger Leute, unter denen auch das Militär vertreten war. Da die Gastgeber nur bescheidene Mittel hatten, und die Gäste jedesmal bis nach drei Uhr nachts blieben, mußte jeder für die Bewirtung und die Miete eines Klaviers einen monatlichen Beitrag zahlen. Ich besuchte diese Abende regelmäßig, bis die Versammlungen infolge der Verhaftung Petraschewskijs und der Mitglieder seines Kreises aufgehoben wurden.

Auch Dostojewskij besuchte die Abende bei Durow. Unser Kreis befaßte sich mit keinerlei revolutionären Plänen und hatte keinerlei geschriebene Statuten; jedenfalls konnte er durchaus nicht als eine geheime Verbindung bezeichnet werden. Man versammelte sich, um die damals verbotenen Bücher auszutauschen und Fragen zu besprechen, die man öffentlich nicht diskutieren durfte. Am meisten beschäftigte uns die Frage von der Befreiung der Bauern, und bei unseren Zusammenkünften wurde immer über Mittel und Wege zu dieser Reform gesprochen. Die einen meinten, angesichts der Reaktion, die bei uns durch die europäischen Revolutionen hervorgerufen war, werde die Regierung sich unmöglich entschließen, die Befreiung der Bauern durchzuführen, und die Befreiung werde eher von unten als von oben kommen; die anderen behaupteten dagegen, unser Volk habe gar keine Lust, in die Fußstapfen der europäischen Revolutionäre zu treten, und werde geduldig auf die Entscheidung seines Schicksals durch die Regierung warten. In diesem Sinne äußerte sich mit besonderem Nachdruck Fjodor Dostojewskij. Als jemand in seiner Gegenwart die Ansicht aussprach, die Befreiung der Bauern auf legalem Wege sei höchst zweifelhaft, entgegnete er, daß er an keinen anderen Weg glaube.

Von Literatur wurde bei uns nur im Anschluß an bemerkenswerte Zeitschriftenartikel gesprochen. Man sprach auch zuweilen von den älteren Schriftstellern, wobei oft sehr scharfe, einseitige und ungerechte Urteile laut wurden. Als die Rede einmal auf Derschawin kam und jemand erklärte, dieser sei viel eher ein hochtrabender und kriecherischer Odendichter und Höfling gewesen, als der große Dichter, für welchen ihn die Zeitgenossen und Schulmeister hielten, sprang Dostojewskij wie von einer Wespe gestochen auf und rief:

»Wie?! Gibt es denn bei Derschawin keinen poetischen Aufschwung und keine wahre Begeisterung? Ist es denn nicht erhabenste Poesie?!«

Und er deklamierte sofort aus dem Gedächtnis ein Gedicht Derschawins mit solcher Kraft, mit solcher Begeisterung, daß der Sänger Katharinas der Großen sofort in unserer Achtung stieg. Ein anderes Mal trug er einige Gedichte von Puschkin und Victor Hugo ähnlichen Inhalts vor und bewies uns mit großem Erfolg, daß unser Dichter ein viel bedeutenderer Künstler sei als der Franzose.

Im Durowschen Kreise gab es auch einige hitzige Sozialisten. Von den Utopien gewisser ausländischer Theoretiker berauscht, sahen sie in diesen Lehren den Anfang einer neuen Religion, welche dereinst die ganze Menschheit auf Grund einer neuen sozialen Ordnung umgestalten sollte. Alles, was über diese Frage in der französischen Literatur erschien, kam bei uns sofort zur Diskussion. Es wurde immerfort über die Utopien von Robert Owen und Cabet gesprochen; besonders aber über die Phalanstère von Fourier und die Theorie der progressiven Besteuerung von Proudhon. Wir alle hatten das gleiche Interesse für die Sozialisten, doch viele von uns wollten an die Möglichkeit der praktischen Verwirklichung ihrer Lehren nicht glauben. Unter den letzteren war auch Dostojewskij. Er las wohl alle Werke über den Sozialismus, verhielt sich aber durchaus skeptisch. Obwohl er auch zugab, daß allen diesen Lehren edle Absichten zugrunde lagen, hielt er die Sozialisten nur für ehrliche, doch naive Schwärmer. Er sagte immer wieder, daß alle diese Theorien für uns keinerlei Bedeutung haben könnten und daß wir die Mittel zur Entwicklung der russischen Gesellschaft nicht aus den Lehren ausländischer Sozialisten, sondern aus dem Leben und den von Jahrhunderten geheiligten Lebensformen unseres Volkes, in dem schon längst viel dauerhaftere und normalere Einrichtungen als alle Utopien von Saint-Simon beständen, schöpfen müßten. Ihm erscheine das Leben in einer ikarischen Kommune oder einer Phalanstère viel schrecklicher als in einem sibirischen Zuchthause. Selbstverständlich blieben unsere Sozialisten bei ihrer Meinung.

Auch alle neuen Gesetze und sonstigen Handlungen der Regierung wurden bei uns besprochen und scharf kritisiert. Angesichts der Willkür, die bei uns herrschte, und der großartigen Ereignisse, die sich in Westeuropa abspielten und uns die Hoffnung auf ein besseres und freieres Leben einflößten, war unsere Unzufriedenheit durchaus begreiflich. In dieser Beziehung zeigte Dostojewskij den gleichen Eifer und die gleiche Empörung wie die anderen Mitglieder unseres Kreises. Ich kann mich auf den Wortlaut seiner Reden nicht mehr besinnen, ich weiß aber noch, daß er immer gegen alle Maßregeln, die irgendwie zur Bedrückung des Volkes dienten, protestierte, und daß ihn besonders die Mißbräuche empörten, unter denen die untersten Gesellschaftsschichten und die studierende Jugend zu leiden hatten. An seinen Urteilen konnte man ihn immer als den Autor der »Armen Leute« erkennen. Jemand von uns machte den Vorschlag, in unseren Versammlungen Vorträge einzuführen: jeder sollte einen anklagenden politischen Artikel schreiben und bei uns vorlesen; Dostojewskij lobte diesen Plan und versprach, auch selbst etwas Derartiges zu verfassen. Ich weiß nicht mehr, ob er sein Versprechen eingelöst hat. Der erste Vortrag, den einer von den Offizieren hielt, behandelte eine damals stadtbekannte Anekdote; Dostojewskij tadelte wie den Inhalt so auch die Form dieser Arbeit. Ich las an einem der Abende einen von mir ins Kirchenslawische übersetzten Abschnitt aus den » Paroles d'un Croyant« von Lamennais. Dostojewskij erklärte mir, die ernste biblische Sprache in meiner Übersetzung klänge viel ausdrucksvoller als das Original. Später wurde beschlossen, einzelne der von unseren Mitgliedern gehaltenen Vorträge lithographisch zu vervielfältigen und in weiteren Kreisen zu verbreiten; dieser Plan gelangte jedoch nicht zur Ausführung, denn bald darauf wurde die Mehrzahl unserer Freunde, und zwar alle, die auch die Abende bei Petraschewskij besucht hatten, verhaftet.

Kurz vor der Auflösung des Durowschen Zirkels war eines der Mitglieder in Moskau gewesen und hatte von dort eine Abschrift des bekannten Briefes, den Bjelinskij an Gogol anläßlich dessen »Briefwechsel mit den Freunden« gerichtet hatte, mitgebracht. Fjodor Dostojewskij las diesen Brief wie in unserem Kreise so auch bei vielen seiner Bekannten vor und gab ihn auch verschiedenen Personen zur Herstellung neuer Abschriften. Dies bildete später den Hauptgrund zu seiner Verhaftung und Verbannung. Der Brief Bjelinskijs, dessen paradoxe Einseitigkeit heutzutage kaum jemand hinreißen kann, übte damals auf alle Geister einen starken Einfluß aus. Neben diesem Brief kursierte in unserem Kreise ein gleichfalls aus Moskau mitgebrachter humoristischer Aufsatz Alexander Herzens, in dem ebenso geistreich wie gehässig unsere beiden Hauptstädte verglichen wurden. Bei der Verhaftung der Mitglieder des Petraschewskijschen Kreises wurden wohl zahlreiche Exemplare dieser beiden Werke beschlagnahmt. Außer Diskutier- und Leseabenden hielten wir auch Musikabende ab. Bei unserer letzten Zusammenkunft spielte ein sehr begabter Pianist die »Wilhelm-Tell«-Ouvertüre von Rossini.

Am 23. April 1849 erfuhr ich durch Michail Dostojewskij von der Verhaftung seines Bruders Fjodor, sowie Durows, Monbellis, Filippows und anderer. Nach zwei Wochen teilte man mir eines Morgens mit, daß auch Michail Dostojewskij in der vergangenen Nacht verhaftet worden sei. Seine Frau und Kinder blieben ganz ohne Mittel, denn er besaß keinerlei Vermögen und lebte ausschließlich von literarischer Arbeit. Da ich den ruhigen und zurückhaltenden Charakter Michail Dostojewskijs kannte, war ich um sein Schicksal eigentlich wenig besorgt; er hatte zwar die Versammlungen bei Petraschewskij besucht, stand aber in Opposition zu den meisten Mitgliedern dieses Kreises. Soviel ich wußte, konnte gegen ihn wenig Belastendes vorliegen. Daher hoffte ich, daß man ihn bald aus der Haft entlassen werde. Ende Mai wurde er tatsächlich freigelassen und kam gleich am Morgen zu mir, um seinen ältesten Sohn Fedja, den ich bei mir beherbergt hatte, aufzusuchen. Am Abend des gleichen Tages erzählte er mir von den näheren Umständen seiner Verhaftung, von seinem Aufenthalte in der Festung und von den Fragen, die man ihm in der Untersuchungskommission vorgelegt hatte. Aus diesen Fragen konnten wir auch ersehen, was für eine Anklage gegen Fjodor erhoben worden war. Obwohl man ihm nur einige freimütige Äußerungen über hochgestellte Persönlichkeiten und die Verbreitung verbotener Schriften und des verhängnisvollen Briefes Bjelinskijs zur Last legte, konnte man der Sache bei schlechtem Willen auch eine sehr ernste Wendung geben; in diesem Falle erwartete ihn ein trauriges Schicksal. Allerdings wurden viele von den Verhafteten nach und nach freigelassen; es hieß aber, daß vielen die Verbannung drohe.

Der Sommer 1849 war für uns alle eine traurige Zeit. Jede Woche kam ich mit Michail Dostojewskij zusammen. Die Nachrichten über unsere verhafteten Freunde lauteten sehr unbestimmt; wir wußten nur, daß sie alle gesund waren. Die Untersuchungskommission hatte ihre Tätigkeit beendet, und wir warteten täglich auf die Entscheidung. Es verging aber der Herbst, und erst kurz vor Weihnachten wurde das Schicksal der Verurteilten bekannt. Zu unserem größten Erstaunen und Schrecken waren sie alle zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde aber, wie bekannt, nicht vollstreckt; die Todesstrafe wurde im letzten Augenblick in andere Strafen umgewandelt. Fjodor Dostojewskij bekam vier Jahre Zwangsarbeit in Sibirien und sollte nach Abbüßung der Strafe als gemeiner Soldat in eines der sibirischen Linienregimenter eingereiht werden. Dies alles geschah so schnell und unerwartet, daß weder ich noch sein Bruder der Urteilsverkündung auf dem Semjonowschen Platze beiwohnen konnten; wir erfuhren vom Schicksal unserer Freunde erst, als alles zu Ende war und als sie alle in die Peter-Pauls-Festung zurückgebracht worden waren (bis auf Petraschewskij, den man direkt von der Richtstätte nach Sibirien verschickt hatte).

Die Verurteilten wurden in Partien zu zwei und zu drei Mann aus der Festung in die Verbannung abgeschickt. Am dritten Tage nach der Exekution teilte mir Michail Dostojewskij mit, daß man seinen Bruder am gleichen Abend verschicken werde und daß er von ihm in der Festung Abschied nehmen wolle. Auch ich wollte mich von Fjodor Dostojewskij verabschieden. Wir fuhren beide in die Festung und wandten uns an den Platzmajor M., den wir von früher kannten und durch dessen Vermittlung wir die Erlaubnis zu erlangen hofften, den Verurteilten sehen zu dürfen. Er bestätigte uns, daß Dostojewskij und Durow noch am gleichen Abend nach Omsk verschickt werden sollten. Die Erlaubnis, unsere Freunde sehen zu dürfen, mußten wir uns aber noch vom Kommandanten der Festung holen.

Man führte uns in ein großes Zimmer im Erdgeschoß des Kommandanturgebäudes. Es war schon Abend, und im Zimmer brannte eine Lampe. Wir mußten recht lange warten und hörten zweimal das Glockenspiel der Festungskathedrale. Endlich ging die Türe auf, und ins Zimmer traten in Begleitung eines Offiziers Fjodor Dostojewskij und Durow; die Wachsoldaten blieben draußen. Wir begrüßten sie mit kräftigem Händedruck.

Trotz der langen Einzelhaft hatten sich die beiden fast gar nicht verändert: der eine schien noch ebenso ernst und ruhig, der andere heiter und freundlich wie vor der Verhaftung. Beide trugen schon die Reisekleider – Halbpelze und Filzstiefel –, in denen man Sträflinge zu transportieren pflegte. Der Offizier setzte sich bescheiden in einiger Entfernung von uns auf einen Stuhl und störte uns nicht in unserem Gespräche. Fjodor äußerte vor allen Dingen seine Freude darüber, daß sein Bruder dem gleichen Schicksal entronnen war; dann erkundigte er sich mit warmem Interesse nach der Familie Michails und nach allen Einzelheiten seines Lebens. Während dieser Zusammenkunft kam er noch einigemal auf dieses Thema zurück. Dostojewskij und Durow sprachen mit aufrichtiger Sympathie vom Festungskommandanten, welcher sie überaus human behandelt und alles, was in seiner Macht stand, getan habe, um ihre Lage zu erleichtern. Weder der eine noch der andere klagte über das strenge Gericht oder das harte Urteil. Das ihnen bevorstehende Leben im Zuchthause erschreckte sie nicht; sie ahnten wohl nicht, welchen Einfluß die Strafe auf ihre Gesundheit haben würde.

Als die Brüder Dostojewskij voneinander Abschied nahmen, war es mir klar, daß nicht derjenige, der nach Sibirien mußte, sondern derjenige, der in Petersburg zurückblieb, mehr litt. Der ältere Bruder weinte, seine Lippen zitterten, während Fjodor Michailowitsch ruhig schien und ihn sogar tröstete.

»Hör doch auf, Bruder,« sagte er, »du kennst mich ja. Du begleitest mich doch nicht zum Grabe; auch im Zuchthause sind keine Tiere, sondern Menschen, und viele von ihnen sind vielleicht besser und würdiger als ich ... Wir werden uns ja noch wiedersehen, ich hoffe fest darauf, ich zweifle gar nicht, daß wir uns wiedersehen werden ... Schreibt mir nach Sibirien, schickt mir Bücher; ich werde von dort aus mitteilen, was für Bücher ich brauche; ich werde dort wohl lesen dürfen ... Und wenn ich einmal das Zuchthaus hinter mir habe, werde ich regelmäßig schreiben. In diesen Monaten habe ich vieles innerlich erlebt; und wieviel werde ich noch in der Zukunft sehen und erleben! Ich werde wohl genug Stoff zum Schreiben haben ...«

Man hatte den Eindruck, als ob dieser Mensch die ihm bevorstehende Zuchthausstrafe wie eine Vergnügungsreise ins Ausland auffaßte, wo er schöne Landschaften und Kunstdenkmäler sehen und in voller Freiheit neue Menschen kennen lernen sollte. Er dachte wohl gar nicht daran, daß er vier Jahre im »Totenhause«, in Ketten, in Gesellschaft von Verbrechern zubringen mußte; vielleicht beschäftigte ihn der Gedanke, daß er in den am tiefsten gesunkenen Verbrechern jene menschlichen Züge, jene unter Asche glimmenden, doch nicht erloschenen Funken eines göttlichen Feuers finden würde, welches, nach seiner Überzeugung, auch im verworfensten Menschen und im verstocktesten Verbrecher brenne.

Unsere letzte Zusammenkunft währte über eine halbe Stunde; obwohl wir vieles miteinander besprachen, erschien uns diese Zeit kurz. Das melancholische Glockenspiel ertönte von neuem, als der Platzmajor ins Zimmer trat und sagte, der Besuch sei zu Ende. Zum letzten Male umarmten wir einander. Ich ahnte damals nicht, daß ich Durow nie wieder und Fjodor Dostojewskij erst in acht Jahren wiedersehen sollte.


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