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LXIV.
An Nikolai Nikolajewitsch Strachow.
Dresden, den 23. April (5. Mai) 1871

[In der ersten Hälfte des Briefes rät Dostojewskij Strachow, seine Tätigkeit als Kritiker unter keinen Umständen aufzugeben.]

Infolge der kolossalen Umwälzungen, wie in der Politik so auch in den engeren literarischen Kreisen, sind bei uns die allgemeine Bildung und Urteilsfähigkeit vorübergehend zersplittert und gesunken. Die Leute haben sich in den Kopf gesetzt, daß sie für Literatur keine Zeit mehr haben (als ob die Literatur eine Spielerei wäre; eine nette Bildung!); infolgedessen ist das Niveau des literarischen Geschmacks so entsetzlich tief gesunken, daß heute kein Kritiker, wie bedeutend er auch sei, den richtigen Einfluß auf das Publikum haben kann. Dobroljubows und Pissarews Erfolge beruhen eigentlich darauf, daß sie die ganze Literatur, dieses ganze Gebiet des menschlichen Geisteslebens, in Bausch und Bogen ablehnen. Man darf derartige Erscheinungen nicht begünstigen und muß seine kritische Tätigkeit fortsetzen. Verzeihen Sie, daß ich Ihnen Ratschläge erteile; ich würde aber an Ihrer Stelle so handeln.

In einer Ihrer Broschüren stand eine wunderbare Beobachtung, die vor Ihnen noch niemand gemacht hat, nämlich, daß jeder einigermaßen bedeutende und wirklich talentierte Schriftsteller sich schließlich dem nationalen Gefühl zuwandte und Slawophile wurde. So hat z. B. der leichtsinnige Puschkin schon lange vor allen Slawophilen die Gestalt des Chronisten im Tschudowkloster Szene im Drama »Boris Godunow« von Puschkin. geschaffen, d. h. das tiefste Wesen des Slawophilentums viel tiefer als alle die Kirejewskij, Chomjakow usw. erfaßt. Schauen Sie sich dann den Herzen an: welch eine Sehnsucht, welch ein Bedürfnis, den gleichen Weg einzuschlagen! Nur infolge seiner persönlichen schlechten Eigenschaften hat er es doch nicht getan. Das ist noch nicht alles: dieses Gesetz der Bekehrung zum Nationalen kann man nicht nur an Dichtern und Literaten, sondern auch auf allen andern Gebieten beobachten. So daß man schließlich auch noch ein anderes Gesetz aufstellen kann: wenn ein Mensch wirklich talentiert ist, so hat er das Bestreben, aus der verwitterten oberen Gesellschaftsschicht zum Volk zurückzukehren; wenn er aber kein Talent hat, so wird er nicht nur in der verwitterten Schicht bleiben, sondern auch noch ins Ausland auswandern, zum Katholizismus übertreten usw.

Bjelinskij, den Sie auch heute noch schätzen, war an Talent schwach und ohnmächtig; daher hat er auch Rußland verdammt und seiner Heimat mit voller Überlegung viel geschadet (über Bjelinskij wird man in der Zukunft noch viel sprechen, dann werden Sie es ja sehen). Ich will aber nur das eine sagen: der von Ihnen ausgesprochene Gedanke ist außerordentlich wichtig und erfordert eine weitere und speziellere Erörterung.

Ihre Briefe machen mir viel Freude. Zu Ihrem letzten Urteil über meinen Roman will ich Ihnen aber folgendes sagen: erstens: Sie haben die Vorzüge, die Sie im Roman fanden, viel zu hoch eingeschätzt; zweitens: Sie haben ungewöhnlich treffend auf seinen Hauptfehler hingewiesen. Ja, das war und ist immer meine größte Qual: ich kann noch immer meine Mittel nicht beherrschen. Wenn ich einen Roman schreibe, so dränge ich eine Menge einzelner Romane und Novellen in ihn hinein; daher fehlt dem Ganzen Maß und Harmonie. Sie haben das erstaunlich richtig erfaßt; wie furchtbar habe ich immer darunter gelitten, denn ich war mir dessen stets bewußt. Ich habe auch noch einen größeren Fehler gemacht: ohne mit meinen Mitteln zu rechnen, habe ich mich von der poetischen Begeisterung hinreißen lassen und die Ausführung einer Idee unternommen, für die meine Kräfte nicht ausreichen. ( NB. Die Kraft der poetischen Begeisterung ist übrigens immer, z. B. bei Victor Hugo, größer als die künstlerischen Mittel. Selbst bei Puschkin sieht man Spuren dieses Mißverhältnisses.) Damit richte ich mich aber zugrunde.

Ich muß noch hinzufügen, daß die Übersiedlung nach Rußland und die vielen Sorgen, die mir im Sommer bevorstehen, dem Roman außerordentlich schaden werden. Jedenfalls danke ich Ihnen für Ihre Sympathie. Schade, daß wir uns noch so lange nicht sehen werden. Inzwischen bin ich Ihr, Ihnen ganz ergebener

Fjodor Dostojewskij.


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