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LXXI.
An eine Mutter, Petersburg, den 27. März 1878

Sehr geehrte gnädige Frau! Ihren Brief vom 2. Februar beantworte ich erst heute, nach einem Monat. Ich war krank und sehr beschäftigt und bitte Sie daher, mir diese Verzögerung nicht übel zu nehmen.

Sie stellen mir Fragen, die man nur in langen Abhandlungen und unmöglich in einem Briefe beantworten kann. Außerdem gibt auf solche Fragen nur das Leben selbst Antwort. Wenn ich Ihnen auch zehn Bogen schreiben wollte, könnte irgendein Mißverständnis, das bei einer mündlichen Unterredung leicht aufzuklären wäre, bewirken, daß Sie mich gar nicht verstünden und alle zehn Bogen ablehnen würden. Kann man denn überhaupt über solche Dinge zu gänzlich unbekannten Menschen und dazu noch brieflich sprechen? Ich halte es für ganz unmöglich und glaube, daß es der Sache sogar schaden kann.

Aus Ihrem Briefe schließe ich, daß Sie eine gute Mutter sind und sich große Sorgen wegen Ihres heranwachsenden Kindes machen. Ich kann aber unmöglich begreifen, wozu Sie die Lösung der Fragen brauchen, mit denen Sie sich an mich wenden: Sie stellen sich zu große Aufgaben, und Ihre Sorge ist übertrieben und krankhaft. Sie können die Sache viel einfacher machen. Sie fragen mich z. B.: »Was ist gut und was ist nicht gut?« Wohin sollen solche Fragen führen? Diese Fragen gehen nur Sie an und haben mit der Erziehung Ihres Kindes nicht das geringste zu tun. Jeder Mensch, der überhaupt die Wahrheit erfassen kann, fühlt es mit seinem Gewissen, was gut und was böse ist. Seien Sie gut und lassen Sie auch Ihr Kind erkennen, daß Sie gut sind; damit werden Sie Ihrer Pflicht dem Kinde gegenüber vollständig genügen, denn auf diese Weise werden Sie ihm unmittelbar die Überzeugung beibringen, daß man gut sein soll. Glauben Sie es mir. Ihr Kind wird dann sein Leben lang mit großer Ehrfurcht, vielleicht auch mit Rührung Ihrer gedenken. Und selbst wenn Sie auch manches Schlechte, d. h. Leichtsinnige, Krankhafte und sogar Lächerliche tun, wird Ihr Kind dies alles früher oder später vergessen und nur das Gute behalten. Merken Sie sich, daß Sie für Ihr Kind überhaupt nichts anderes tun können. Und das ist auch mehr als genug. Die Erinnerung an die guten Handlungen der Eltern, an ihre Wahrheitsliebe, Rechtschaffenheit, Herzensgüte und daran, daß sie keine falsche Scham hatten und womöglich auch nie logen, wird aus Ihrem Kinde früher oder später einen neuen Menschen machen; glauben Sie es mir. Denken Sie nicht, daß dies zu wenig ist. Wenn man auf einen großen Baum einen winzigen Zweig pfropft, werden dadurch auch die Früchte des Baumes verändert.

Ihr Kind ist jetzt acht Jahre alt; machen Sie es mit dem Evangelium bekannt, lehren Sie es an Gott glauben und zwar streng nach der Überlieferung. Dies ist ein sine qua non, anders können Sie aus Ihrem Kinde keinen guten Menschen machen, sondern im besten Falle einen Dulder, und im schlimmsten Falle – einen gleichgültigen fetten Menschen, was noch viel schlimmer ist. Etwas Besseres als den Heiland können Sie gar nicht erfinden, glauben Sie es mir.

Stellen Sie sich nun vor, daß Ihr Kind mit fünfzehn oder sechzehn Jahren zu Ihnen kommt (nachdem es mit verdorbenen Schulfreunden verkehrt hat) und an Sie oder seinen Vater die Frage richtet: »Warum soll ich euch lieben und warum stellt ihr es mir als meine Pflicht dar?« Glauben Sie mir: dann werden Ihnen keinerlei Fragen und Kenntnisse helfen, und Sie werden darauf nichts erwidern können. Daher müssen Sie zu erreichen suchen, daß es Ihrem Kinde überhaupt nie einfällt, zu Ihnen mit dieser Frage zu kommen. Dies ist aber nur dann möglich, wenn Ihr Kind mit solcher Liebe an Ihnen hängt, daß eine solche Frage ihm überhaupt nie in den Sinn kommt; es wird sich höchstens in der Schule solche Ansichten aneignen können; Ihnen wird es aber ein leichtes sein, das Falsche vom Wahren zu scheiden; und wenn Sie einmal wirklich diese Frage zu hören bekommen, können Sie sie mit einem einfachen Lächeln beantworten und fortfahren, schweigend Gutes zu tun.

Wenn Sie sich überflüssige und übertriebene Sorgen über Ihre Kinder machen, können Sie ihnen leicht die Nerven ruinieren und ihnen lästig fallen; Sie können ihnen selbst bei einer großen gegenseitigen Liebe lästig werden; daher müssen sie vorsichtig sein und in allen Dingen Maß halten. Mir scheint, daß Ihnen in dieser Beziehung jedes Gefühl für Maß abgeht. In Ihrem Briefe steht z. B. folgender Satz: »Wenn ich für sie (d. h. für den Gatten und die Kinder) lebe, so ist es ein egoistisches Leben; darf ich aber so egoistisch leben, wenn es um mich herum noch viele andere Menschen gibt, die meiner Hilfe bedürfen?« Welch ein müßiger und unnützer Gedanke! Wer hindert Sie, für die andern Menschen zu leben und dabei eine gute Mutter und Gattin zu bleiben? Im Gegenteil: wenn Sie auch für die andern leben und ihnen Ihre Güte und Herzensmühe zuteil werden lassen, geben Sie Ihren Kindern ein leuchtendes Beispiel, und Ihr Mann muß Sie dann noch viel mehr liebhaben. Da Ihnen aber überhaupt solche Fragen in den Sinn kommen, muß ich annehmen, daß Sie es für Ihre Pflicht halten, so sehr an Ihrem Gatten und Ihren Kindern zu kleben, daß Sie dabei die ganze Welt vergessen, d. h. ohne jedes Maß. Auf diese Weise können Sie Ihrem Kind nur lästig werden, selbst wenn es Sie lieben sollte. Es kann leicht kommen, daß Ihnen Ihr Wirkungskreis plötzlich zu klein erscheint und daß Sie nach einem andern großen, beinahe weltumfassenden streben. Hat aber auch ein jeder Mensch das Recht, danach zu streben? Glauben Sie mir: es ist ungemein wichtig und nützlich, selbst in einem kleinen Wirkungskreise als gutes Beispiel zu wirken, denn auf diese Weise beeinflußt man Dutzende und Hunderte von Menschen. Ihr Vorsatz, nie zu lügen und in Wahrheit zu leben, wird die leichtsinnigen Menschen in Ihrer Umgebung nachdenklich stimmen und beeinflussen. Das allein ist schon eine große Tat. Auf diese Weise können Sie ungeheuer viel erreichen. Es ist doch wirklich unsinnig, alles liegen zu lassen und mit dergleichen Fragen nach Petersburg zu reisen, um in die Medizinische Akademie einzutreten oder sich in der Frauenhochschule herumzutreiben. Ich begegne hier täglich solchen Frauen und Mädchen; welch eine furchtbare Beschränktheit! Und alle, die früher gut waren, werden hier verdorben. Da sie in ihrer Umgebung keine ernste Tätigkeit sehen, beginnen sie, die Menschen ganz abstrakt, nach dem Buche zu lieben; sie lieben die Menschheit und verachten den einzelnen Unglücklichen, sie langweilen sich in seiner Gesellschaft und gehen ihm aus dem Wege.

Ich weiß absolut nicht, was ich auf Ihre Fragen antworten soll, denn ich verstehe diese Fragen überhaupt nicht. Am schlechten Charakter eines Kindes sind selbstverständlich die ihm angeborenen schlechten Triebe schuld (es steht außer jedem Zweifel, daß der Mensch immer mit schlechten Trieben geboren wird), wie auch zugleich die Erzieher, die unfähig oder zu faul sind, um diese Triebe niederzudrücken oder (durch ihr eigenes Beispiel) in andere Bahnen zu lenken. Von der Notwendigkeit der Arbeit will ich überhaupt gar nicht sprechen. Wenn Sie Ihrem Kinde gute Neigungen anerziehen, so wird es die Arbeit von selbst liebgewinnen. Nun ist es genug, ich habe Ihnen viel geschrieben, bin müde geworden, habe aber eigentlich wenig gesagt; Sie werden mich aber wohl verstehen.

Mit aller Hochachtung Ihr ergebenster Diener

Fjodor Dostojewski.

P. S. Peter der Große hätte ja mit seinen Staatseinkünften von eineinhalb Millionen bei seinem ruhigen und satten Leben im Moskauer Zarenschloß bleiben können, und doch hat er sein ganzes Leben durch gearbeitet. Er wunderte sich immer über die Menschen, die nicht arbeiten.


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