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XVII.
An den Bruder Michail, den 18. Juli 1849

[Aus der Festung.]

Lieber Bruder, ich habe mich über deinen Brief unsagbar gefreut; ich habe ihn am 11. Juli erhalten. Endlich bist du frei, und ich kann mir lebhaft vorstellen, wie glücklich du warst, als du deine Familie wieder sahst. Mit welcher Ungeduld haben sie dich wohl erwartet! Wie ich sehe, beginnst du dir dein Leben anders einzurichten. Womit bist du jetzt beschäftigt und, vor allen Dingen, wovon lebst du jetzt? Hast du Arbeit, und was für welche? Der Sommer ist ja in der Stadt so schwer zu ertragen. Du berichtest nur, daß du dir eine neue Wohnung gemietet hast; da wirst du es wohl noch enger haben. Es ist schade, daß du nicht den ganzen Sommer auf dem Lande verbringen kannst. Ich danke dir für deine Sendungen; sie haben mir Erleichterung und Zerstreuung verschafft. Du schreibst mir, geliebter Freund, ich solle den Mut nicht verlieren. Ich verliere ja gar nicht meinen Mut; es ist mir allerdings recht langweilig und traurig, was soll ich aber machen! Übrigens ist es auch nicht immer langweilig. Die Zeit vergeht mir überhaupt recht ungleichmäßig – bald zu schnell, bald zu langsam. Zuweilen habe ich den Eindruck, als hätte ich mich bereits an dieses Leben gewöhnt und als wäre mir alles gleich. Ich suche mir natürlich alle verführerischen Gedanken aus dem Kopfe zu jagen, kann aber mit ihnen oft nicht fertig werden; das frühere Leben mit den früheren Eindrücken bestürmt meine Seele, und ich durchlebe alles Vergangene von neuem. Das ist ja auch in der Ordnung der Dinge. Die Tage sind jetzt zum größten Teil heiter, und es ist mir etwas lustiger zumute. Die regnerischen Tage sind dagegen unerträglich, und die Kasematte sieht dann noch viel unfreundlicher aus. Ich habe auch Beschäftigung. Ich habe die Zeit nicht unnütz vertan: ich habe den Plan zu drei Erzählungen und zwei Romanen gefaßt; einen Roman schreibe ich jetzt, vermeide aber, zuviel zu arbeiten.

Solche Arbeit, besonders wenn ich sie mit großer Lust mache (ich habe nie so sehr con amore gearbeitet wie jetzt), hat mich immer angegriffen und auf meine Nerven gewirkt. Solange ich in Freiheit arbeitete, mußte ich immer die Arbeit durch Zerstreuungen unterbrechen; hier muß aber die auf die Arbeit folgende Erregung ganz von selbst vergehen. Meine Gesundheit ist gut, bis auf die Hämorrhoiden und die Zerrüttung der Nerven, die crescendo fortschreitet. Ab und zu bekomme ich Anfälle von Atemnot, der Appetit ist wie früher sehr ungenügend, der Schlaf ist schlecht und dazu noch mit krankhaften Träumen. Ich schlafe etwa fünf Stunden am Tage und erwache jede Nacht an die viermal. Dies ist das einzige, was mich bedrückt. – Am unangenehmsten sind die Stunden der Abenddämmerung! Um neun Uhr ist es bei uns schon ganz finster. Ich schlafe oft erst um ein und um zwei Uhr nach Mitternacht ein, und die fünf Stunden, die ich im Finstern liegen muß, sind schwer zu ertragen. Dadurch wird meine Gesundheit am meisten angegriffen. Wann unser Prozeß beendigt sein wird, kann ich gar nicht sagen, denn ich habe jede Vorstellung für die Zeit verloren und führe nur einen Kalender, auf dem ich rein passiv jeden vergangenen Tag streiche: erledigt! Ich habe hier nicht sehr viel gelesen: zwei Beschreibungen von Reisen ins Heilige Land und die Werke des Demetrius von Rostow. Die letzteren haben mich sehr interessiert; doch diese Lektüre ist nur ein Tropfen im Meere; jedes andere Buch würde mich, wie mir scheint, ganz außerordentlich freuen und könnte mir auch recht nützlich sein, denn so würde ich meine eigenen Gedanken durch fremde unterbrechen oder auf einen anderen Ton stimmen.

Hier hast du alle Einzelheiten über mein jetziges Leben; sonst kann ich dir nichts mitteilen. Es freut mich, daß du deine Familie bei bestem Wohlsein angetroffen hast. Hast du schon nach Moskau von deiner Befreiung geschrieben? Es ist schade, daß dort nichts werden will. Wie gerne möchte ich wenigstens einen Tag mit euch verbringen! Es sind schon bald drei Monate, seit wir hier in der Festung sitzen; was wohl noch weiter kommen mag! Vielleicht werde ich in diesem Sommer überhaupt kein grünes Blatt zu sehen bekommen. Weißt du noch, wie man uns manchmal im Mai ins Gärtchen spazieren führte? Dort begann es damals zu grünen, und ich mußte an Reval denken, wo ich dich um diese Jahreszeit besuchte, und an den Garten am Ingenieurhause. Es schien mir immer, daß auch dir dieser Vergleich in den Sinn kommen müsse; so traurig war mir zumute. Ich hätte auch Lust, manche andere Menschen zu sehen. Mit wem kommst du jetzt zusammen? Alle sind wohl aus dem Lande. Unser Bruder Andrej muß jetzt unbedingt in der Stadt sein; hast du Nikolja gesehen? Grüße sie alle von mir. Küsse von mir alle deine Kinder, grüße deine Frau und sage ihr, daß es mich sehr rührt, daß sie an mich denkt; mache dir nicht zu viel Sorgen wegen mir. Ich habe nur den einen Wunsch, gesund zu sein; die Langeweile ist etwas Vorübergehendes, und die gute Laune hängt ja schließlich von mir selbst ab. Im Menschen steckt unglaublich viel Zähigkeit und Lebenskraft; ich hatte nie erwartet, daß ich so viel davon habe; nun weiß ich es aus Erfahrung. Lebe wohl! Ich hoffe, daß dir diese wenigen Zeilen recht viel Freude machen werden. Grüße alle, die du siehst, und die ich kannte; vergiß niemand. Ich habe niemand vergessen. Was mögen wohl deine Kinder über mich denken und wie suchen sie sich zu erklären, wohin ich verschwunden bin! Lebe wohl. Wenn es irgendwie geht, schicke mir die »Vaterländischen Annalen«. So werde ich wenigstens etwas zu lesen haben. Schreibe mir auch einige Zeilen, es wird mich außerordentlich freuen.

Auf Wiedersehen!
Dein Bruder F. Dostojewskij.


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