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XLIV.
An die Nichte Sofia Alexandrowna Iwanowa-Chmyrowa.
Mailand, den 26. Oktober (7. November) 1868

Meine liebe und gute Freundin Ssonetschka, ich habe Ihnen schon sehr lange nicht geschrieben. Ich kann zu meiner Rechtfertigung nur das eine sagen: ich bin immer noch mit meinem Roman beschäftigt. Glauben Sie mir, liebe Freundin, ich arbeite wirklich Tag und Nacht; wenn ich nicht gerade schreibe, so gehe ich im Zimmer auf und ab, rauche und denke an meine Arbeit. Ich kann es mir beinahe selbst nicht glauben, daß ich keine einzige freie Stunde finden konnte, um Ihnen zu schreiben. Doch es ist wirklich so. Von mir und meinem Leben kann ich Ihnen folgendes berichten:

Ich lebe mit meiner Frau im besten freundschaftlichen Einvernehmen. Sie ist geduldig, und meine Interessen gehen ihr über alles; doch ich sehe, daß sie sich nach Rußland zu ihren Freunden und Verwandten sehnt. Dies macht mir manchmal Schmerz, aber meine Lage ist noch so wenig geklärt, daß wir für die nächsten Monate noch keinerlei Pläne fassen dürfen. Meine Lage hat sich entgegen meinen bisherigen Berechnungen sehr ungünstig gestaltet.

In zwei Monaten geht nämlich das Jahr zu Ende, doch von den vier Teilen meines Romans sind erst drei abgeschlossen; den vierten und größten habe ich aber noch nicht angefangen. Und da es ganz unmöglich ist, in einem Monat (wenn man das ganze Jahr ununterbrochen schreibt) mehr als dreieinhalb Bogen zu schreiben (ich sage es aus eigener Erfahrung), so werde ich in diesem Jahre mit sechs Bogen im Rückstande bleiben, d. h. das Ende des Romans wird im Dezemberheft des »Russischen Boten« nicht erscheinen können. Dies versetzt mich in eine höchst unangenehme und peinliche Lage: erstens verursache ich damit der Redaktion Unannehmlichkeiten und auch Schaden, denn sie muß dann den Schluß des Romans ihren Abonnenten als Sonderheft geben (was, ganz abgesehen von allem andern, mit großen Unkosten verbunden ist); zweitens habe ich selbst davon einen Verlust von neunhundert Rubel, denn ich habe der Redaktion vorgeschlagen, sie dadurch zu entschädigen, daß ich für diese sechs Bogen, mit denen ich im Rückstande bin, kein Honorar verlange. Schließlich ist dieser vierte Teil und besonders sein Schluß das Wichtigste am ganzen Roman, der eigentlich nur dieses Schlusses wegen erdacht und geschrieben worden ist.

Von unserm persönlichen Leben will ich Ihnen folgendes schreiben. Nachdem wir Ssonja in Genf beerdigt hatten, zogen wir, wie Sie schon wissen, nach Vevey. Zu Anna Grigorjewna kam ihre Mutter, die längere Zeit bei uns blieb. Im winzigen und malerischen Vevey lebten wir wie die Einsiedler und machten nur manchmal Spaziergänge in die Berge. Von der Schönheit der Landschaft will ich gar nichts sagen: so etwas erlebt man nicht einmal im Traume; doch Vevey wirkt schlecht auf die Nerven; dies ist allen Ärzten in der Welt bekannt; ich hatte es aber nicht gewußt.

Ich hatte viel unter epileptischen und andern nervösen Anfällen zu leiden. Auch meine Frau war krank. Dann fuhren wir über den Simplon (die feurigste Phantasie kann sich nicht ausmalen, wie schön die Bergstraße über den Simplon nach Italien ist) nach Italien und ließen uns in Mailand nieder; die Mittel erlaubten uns nicht weiter zu reisen (in den letzten eineinhalb Jahren habe ich vom »Russischen Boten« so viel auf Vorschuß genommen, daß ich mir jetzt alle Mühe geben muß, die Rechnung zu begleichen; sie schicken mir zwar immer und regelmäßig größere Summen, doch habe ich es oft sehr schwer, damit auszukommen; auch habe ich nach Petersburg seit längerer Zeit weder Pascha noch Emilie Fjodorowna etwas geschickt, was mich sehr bedrückt). In Mailand regnet es zwar sehr viel, doch das Klima ist für meinen Zustand außerordentlich günstig. Es heißt übrigens, daß in Mailand Schlaganfälle außerordentlich häufig sind; vielleicht werde ich doch von einem Schlaganfall verschont werden. Das Leben in Mailand ist sehr teuer. Es ist eine große und bedeutende Stadt, doch nicht sehr malerisch und dem eigentlichen Italien wenig ähnlich. In der Umgebung, d. h. eine halbe Stunde Eisenbahnfahrt von Mailand entfernt, liegt der wunderschöne Comer See, doch ich war dieses Mal noch nicht dort. Das einzig Sehenswerte in der Stadt ist der berühmte Mailänder Dom; er ist aus Marmor erbaut, riesengroß, gotisch, ganz durchbrochen und fantastisch wie ein Traum. Sein Inneres ist außergewöhnlich schön. Ende November will ich nach Florenz übersiedeln, denn es gibt dort russische Zeitungen, und vielleicht ist dort auch das Leben billiger. Unterwegs mache ich einen Abstecher nach Venedig (um es meiner Frau zu zeigen), was mich etwa hundert Franken kosten wird.

Nun habe ich Ihnen kurz alles über mich berichtet. Mir ist sehr schwer zumute: ich habe Heimweh und die Ungewißheit meiner Lage, meine Schulden usw. bedrücken mich sehr. Dazu kommt noch, daß ich mich so sehr vom russischen Leben entwöhnt habe, daß es mir schwer fällt, hier ohne beständige russische Eindrücke etwas zu schreiben; denken Sie sich nur: seit sechs Monaten habe ich keine einzige russische Zeitung gelesen. Ich habe auch noch den vierten Teil meines Romans zu schreiben, auf den ich so große Hoffnungen setze und der noch etwa vier Monate in Anspruch nehmen wird. Genug von mir. Schreiben Sie mir ausführlich von allen Ihrigen, von Ihren äußern Lebensumständen und von Ihrem Seelenzustand. Umarmen Sie Ihre Mama: ich denke oft an sie und bete für sie jeden Tag. Ich denke auch oft an unsere vergangenen Tage zurück. Küssen Sie Ihren Missenjka. Teilen Sie mir Ihre genaue Adresse mit. Schreiben Sie mir nach Mailand, poste restante.

Auch wenn ich nicht mehr in Mailand, sondern in Florenz oder in Venedig (das mir als Winteraufenthalt empfohlen wird) sein sollte, so werde ich doch Ihren nach Mailand adressierten Brief bekommen; ich werde vor der Abreise meine neue Adresse dem hiesigen Postamt mitteilen. Sobald ich in eine andere Stadt gezogen bin, werde ich Ihnen sofort Mitteilung machen. Meine Frau läßt Sie grüßen und küssen. Wir beide sehnen uns nach unserer Heimat.

Es wurde mir mitgeteilt, daß in Petersburg nach Neujahr eine neue Zeitschrift erscheinen soll. Der Verleger ist Kaschpirew, der Redakteur – mein Freund Strachow. Man bittet mich um meine Mitarbeiterschaft. Das Unternehmen scheint durchaus ernst und sehr schön zu sein. Maikow schreibt mir darüber sehr entzückt.

Lesen Sie doch im Septemberheft des »Russischen Boten« den Aufsatz: »Britischer Gelehrtenkongreß«.

Ich küsse und umarme Sie und drücke Sie an mein Herz. Ihr Freund und Bruder

Fjodor Dostojewskij.


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