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Carlet als Großvater.

Dreiunddreißigstes Kapitel.
Lebewohl, Vater Carlet!

Jetzt ist Vater Carlet ein ganz alter Mann geworden. Er selbst weiß nicht genau anzugeben, wieviel Jahre er eigentlich zählt, aber die Achtzig hat er längst überschritten, das steht fest. Doch trotz seines hohen Alters ist er munter und gesund, und seine Augen blicken so hell und klar um sich, als hätten sie ihm niemals den Dienst versagt. Glücklich und zufrieden lebt er in der Familie seines geliebten Kindes; seine Enkel hängen mit der zärtlichsten Liebe an dem Großvater, und nur mit Kummer denkt er daran, daß er wohl bald von ihnen wird scheiden müssen.

Im Gegensatz zu allen andern alten Leuten, deren Erinnerung hauptsächlich die Eindrücke der Jugend bewahrt, spricht Vater Carlet fast niemals von seinen jüngeren Jahren. Es hat den Anschein, als seien diese aus seinem Gedächtniß verwischt, und er vermeidet es ängstlich, von jener Zeit zu reden. Seine Erinnerungen beginnen erst mit dem Augenblicke, in dem er das arme, verlassene, kleine Wesen in seine Arme nahm, das dazu bestimmt war, sein guter Engel zu werden und ihn zum nützlichen Menschen zu machen. Tief beschämt denkt er jetzt daran zurück, daß er den größten Theil seines Lebens nutzlos verbracht hat, ohne zu wissen, weshalb und für wen er lebte.

»Ich mag gar nicht daran zurückdenken,« sagt er oftmals zu Ella, »daß ich fast sechzig Jahre lang nicht das geringste Gute gethan habe.«

»Aber du hast es nachher um so reichlicher nachgeholt, Väterchen,« antwortet ihm die junge Frau dann lachend.

Johann hat sich im Lauf der Jahre in seinem Fache einen guten Namen gemacht. Er ist stets mit Aufträgen überhäuft; in seiner Werkstatt wird nie gefeiert, und während des ganzen Tages hört man dort muntere Lieder, welche die rüstige Arbeit begleiten.

»Arbeit macht frohen Sinn,« sagt ein altes Sprüchwort, und in Meister Lebeau's Werkstatt sind Müssiggang und Trübsinn unbekannte Gäste. Und während ihr Gatte fleißig wirkt und schafft, ist auch Ella im Lauf der Jahre nicht müßig geworden. Lange Zeit arbeitete sie noch für das Puppenmagazin, dem sie als Mädchen ihren ganzen Erwerb verdankte. Aber jetzt hat sie diese Nebenbeschäftigung aufgeben müssen. Die Erziehung ihrer Kinder nimmt sie zu sehr in Anspruch, und seit sie auch die Sorge für ihren großen Haushalt wieder auf sich genommen hat, welchem ihre Schwiegermutter in den ersten Jahren vorstand, bleibt ihr keine Zeit für andre Dinge übrig. Auch Frau Lebeau ist jetzt alt und gebrechlich geworden und verlangt selbst viel Pflege und Sorge; da leidet Ella nicht länger, daß sie sich mit der Wirthschaft noch ferner Mühe macht.

Wohl niemals hat eine Mutter ihre Kinder zärtlicher geliebt und treuer für sie gesorgt, als es Ella für ihre Kleinen thut. All die Liebe und das Glück, dessen ihre eigne Jugend beraubt war, häuft sie nun doppelt auf das Haupt ihrer Kinder. Und oftmals, wenn sie über den Bretagne-Platz geht und auf der Stelle, wo ihre Mutter starb, eine neue Kunstreiterbude stehen sieht, schaudert sie im Gedanken an die Vergangenheit. Mitleidig reicht sie ihr Almosen dar, wenn dann ein kleines Mädchen in buntem Flitterstaat an sie herantritt und bittend die Hand zu ihr emporhebt, und eilig schreitet sie weiter und dankt Gott mit inbrünstigem Gebet, daß er ihre Kleinen vor diesem Schicksal bewahrte.

So betagt Vater Carlet auch bereits ist, so kann er doch noch immer seiner früheren Beschäftigung nachgehen. Wenn der Regen gegen die Scheiben schlägt, und der Wind über die Dächer saust, bleibt er still daheim. Er sitzt dann an seinem Arbeitstisch; vor ihm steht der Kleistertopf, und neben demselben liegen Stöckchen und buntes Papier in reicher Auswahl. Dann fertigt er für seine Enkelkinder Spielwerk aller Art und schmückt seinen Stock mit neuen, bunten Mühlen. Aber sobald die Strahlen der Sonne wieder erglänzen, leidet es ihn nicht länger zu Haus. Munteren Schrittes eilt er dann hinaus in die Straßen der Stadt, und vielleicht sind es die Enkel seiner ersten kleinen Kunden, die jetzt ihre Augen sehnsüchtig auf die kleinen Mühlen richten und das lustige Spielwerk aus der Hand des greisen Verkäufers empfangen.

Ella wagt es nicht, den Vater von der gewohnten Beschäftigung abzuhalten; freundlich bittet sie ihn nur, ihr ältestes Töchterchen mitzunehmen, damit die Kleine ein wenig an die Luft gehe. Aber heimlich flüstert sie dem Kinde zu, wohl auf den Großvater Acht zu haben, daß ihm kein Leides geschehe.

Die Kleine trägt nach Frau Terrasson, ihrer Pathe, den Namen Fanny; aber Vater Carlet nennt sie stets Ella, denn sie erinnert ihn so lebhaft an ihre Mutter, und wenn er, die Kleine an der Hand, durch die Straßen von Nantes streift, so glaubt er sich wieder um viele Jahre zurückversetzt. Unterwegs erzählt er dann seiner kleinen Gefährtin von dem armen, verlassenen Waisenkinde, das er bei sich aufgenommen und das ihn zum nützlichen Menschen gemacht hat. Hin und wieder unterbricht er für einige Augenblicke seine Erzählung. Dann nimmt er die Flöte an seine Lippen, bläst einige langgezogene Töne und singt mit schwacher, zitternder Stimme sein wohlbekanntes Verschen:

»Kommt, Kinder, kommt, ich bring euch hier
Die schönsten Mühlen von Papier.«

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