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Ich hab's auf der Straße gefunden.

Zwölftes Kapitel.
Frau Robert

Als Carlet seine Rechnung beendet, erhob er sich, nahm die Kleine an die Hand und ging mit ihr auf den Markt.

Hier konnte er stets auf gute Einnahmen rechnen. Die Bäuerinnen, die ihre Waaren verkauften, brachten alle gern den Kindern daheim ein kleines Geschenk aus der Stadt mit, und sie freuten sich, wenn sie für wenige Pfennige ein niedliches Spielwerk erhielten. Wo gab es aber in der ganzen Stadt wohl etwas hübscheres und billigeres, als Carlet's kleine Windmühlen? Alle Kinder der umliegenden Dörfer kannten sie gar wohl, und wenn das zierliche Spielzeug zerbrochen war, so wußten sie, daß die Mutter am nächsten Markttage ein neues mit heimbrachte. So war der Markt denn eine unerschöpfliche Quelle reicher Einnahme für den Alten.

Kaum war Carlet in die Nähe der Bäuerinnen gekommen, als eine lustige, obwohl nicht mehr jugendliche Stimme ihn anrief:

»Guten Morgen, Vater Carlet! Kommen Sie doch hierher, oder wollen Sie Ihre alten Freunde nicht mehr kennen?«

Carlet wandte den Kopf und eilte sogleich auf die Sprecherin zu.

»Sind Sie endlich wieder einmal da, Frau Robert? Ich habe Sie ja vierzehn Tage lang nicht gesehen. Ich glaubte schon, Sie hätten sich wieder verheirathet.«

Frau Robert lachte laut auf, und ihr Gesicht sah nun gerade aus, wie ein verschrumpfter Apfel.

»Nein,« rief sie, »davon kann keine Rede sein. Ich war krank und glaubte schon, daß ich für die bessre Welt bestimmt sei. Jetzt geht es schon wieder.« Neugierig fuhr sie dann fort:

»Nun aber sagen Sie mir vor allen Dingen, wie kommen Sie zu dem Kinde.«

»Ich hab's auf der Straße gefunden, vor der Thür meines Hauses.«

»Ach was! Erzählen Sie doch ordentlich. Ich kaufe Ihnen nachher auch ein ganzes Dutzend Mühlen ab, um Sie für die versäumte Zeit zu entschädigen.«

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Gerührt nahm Frau Robert die Kleine auf ihren Schooß.

Carlet folgte der Bitte gern, und Frau Robert hörte seiner Erzählung staunend zu und unterbrach dieselbe häufig durch die Ausrufe ihrer Verwunderung. Als er nun aber erzählte, wie sein Töchterchen die Fenster gewaschen habe, und wie sie ihm bei seiner Arbeit behülflich gewesen sei, da nahm die gute Frau zwei schöne Aepfel aus ihrem Korbe und reichte sie dem Kinde. Vergnügt biß Ella in den einen Apfel hinein, den andern aber legte sie in ihre Tasche und sagte:

»Den bekommt Vater Carlet.«

Gerührt nahm Frau Robert die Kleine auf ihren Schooß, umarmte sie zärtlich und konnte gar nicht genug von ihrem alten Freunde über das liebe Kind erfahren. Sie hatte das beste Herz von der Welt, und bei Carlet's Erzählung standen die Augen der guten Frau voll Thränen. Vater Carlet, welcher den tiefen Eindruck bemerkte, den die Geschichte des Kindes auf sie gemacht hatte, beeilte sich nun, sich mit ihr weiter über Ella zu berathen.

»Und was soll ich nun mit der Kleinen anfangen, was meinen sie wohl?« sagte er forschend.

»Wie? Was Sie mit ihr anfangen sollen? Wollen Sie das arme Ding vielleicht in der nächsten Nacht wieder auf die Straße legen, oder sie gar den Kunstreitern wiederbringen? Sie können doch gar nichts andres thun, als sie behalten.«

»Das habe ich auch gedacht,« erwiederte der Alte ermuthigt. »Aber ich weiß gar nicht, ob es der Kleinen bei mir gefallen wird. Ich verstehe doch nicht mit Kindern umzugehen, ich habe ja nie Frau und Kinder gehabt.«

»Was schadet denn das? Ich habe auch nie eigne Kinder gehabt, und doch kann ich die armen verwaisten Kinder meines Bruders recht gut erziehen,« entgegnete Frau Robert. »Das liebe, kleine Ding müssen Sie behalten, und wenn Sie einmal eines Rathes oder einer Unterstützung bedürfen, Sie wissen ja, Frau Robert hilft gern, wo sie kann. – Warten Sie hier, bis ich meinen Kram verkauft habe, oder sagen Sie mir lieber Ihre Wohnung. Wenn der Markt vorüber ist, komme ich hin und sehe zu, was Ihnen für das Kind fehlt. Ist Ihnen das recht?«

Mit dankbarem Herzen nahm Carlet die Hülfe der guten Bäuerin an und fühlte sich von aller Sorge befreit. Die Kosten, die Ella ihm verursachte, bekümmerten ihn jetzt nicht mehr, wohl aber die Pflege, die dem kleinen, zarten Mädchen so nöthig war. Nun war auch diese Last von seinem Herzen genommen, denn wenn Frau Robert sich seiner kleinen Pflegetochter annahm, so war sie in guten Händen.

Während des Gespräches der Beiden war Ella zwischen den Tischen und Körben umhergesprungen und hatte vom Boden die großen Flügelfedern ausgesucht, die Frau Robert soeben einem Huhne ausgerupft hatte. Sauber ordnete sie dieselben und strich sie glatt, und dann suchte sie eifrig nach einem Faden, um die Federn an einem Stocke zu befestigen. Frau Robert bemerkte die verlangenden Blicke des Kindes, und freundlich fragte sie:

»Was machst du denn da, mein liebes Kind?«

»Ich will mir gern einen kleinen Besen machen, um unsre Stube zu fegen,« erwiederte die Kleine. Die Bäuerin lachte:

»Was bist du für eine sorgsame kleine Hausfrau! Komm, mein Liebling, hier ist ein Faden; nun wollen wir ihn fest herum binden. Sieh, was für ein hübscher, kleiner Besen das ist! Behalte ihn nun, und fege fleißig eure Stube. – Nun will ich dir einmal einen Vorschlag machen: all die großen Federn von meinen Hühnern will ich dir schenken, und du machst kleine Besen daraus. Die kannst du dann an die Köchinnen verkaufen, um den Heerd damit zu reinigen. Einen Sou wird dir jede gern dafür geben.«

»Dann kann ich auch etwas verdienen,« jubelte Ella voller Freude; »das ist herrlich.«

»Wie brav sie ist!« sagte die Bäuerin mit leiser Stimme zu Carlet. »Das Kind müssen Sie behalten; Sie haben einen wahren Schatz an der Kleinen.«

Als Carlet den Markt schon längst verlassen hatte, waren die Gedanken der guten Frau noch immer mit ihm beschäftigt, und gerührt erzählte sie ihren Nachbarinnen immer wieder die Geschichte der kleinen Ella.

Frau Robert war die beste Frau unter der Sonne und schon seit vielen Jahren eine treue Freundin des alten Carlet. Er traf sie allwöchentlich auf dem Markte, wohin sie Eier, Butter, Käse und Geflügel zum Verkauf brachte. Sie war eine der reichsten Bäuerinnen des benachbarten Dorfes Couëron. Nach dem frühen Tode ihres Mannes hatte sie die verwaisten Kinder ihres Bruders zu sich genommen und erzog dieselben mit der Aufopferung und Liebe einer Mutter. Nebenbei aber fand sie immer noch Zeit, die ganze übrige Dorfjugend von Couëron mit Zärtlichkeiten und Züchtigungen, mit kleinen Geschenken und guten Rathschlägen zu bedenken, und unter diesen Geschenken spielten Carlet's kleine Windmühlen eine Hauptrolle.

Vergnügt kehrte Carlet indessen in seine Wohnung zurück, um Frau Robert's Besuch dort zu erwarten. Aber sobald er das Haus betrat, schwand das Lächeln von seinen Lippen. Die Mienen des Alten wurden ernster und sorgenvoller, je höher er die Treppen hinanstieg. Eilig schloß er die Thür des Zimmers, setzte sich schweigend an den Kamin und sah kummervoll vor sich nieder.

Eine neue Sorge bedrückte plötzlich das Herz des alten Mannes. Als er mit Ella durch den Hausflur ging, hatte er in einer dunklen Ecke den Trödler stehen sehn; er verhandelte an einen andern seidne Tücher, und beide Männer blickten dabei so ängstlich um sich, als sei das Geschäft, das sie abschlossen, kein ganz ehrliches. Auf der Treppe begegneten sie einem andern Bewohner des Hauses, der so betrunken hin und her schwankte, daß er die kleine Ella fast umwarf. Daneben spielten einige Knaben; sie waren in Lumpen gehüllt, und Gesicht und Hände waren derartig mit Schmutz bedeckt, daß man sie kaum mit der Feuerzange hätte anfassen mögen. Und in der obersten Etage zankte sich gar der Tischler mit seiner Frau, und beide brauchten dabei so abscheuliche Ausdrücke, daß Carlet sein Töchterchen rasch in die Stube zog und die Thür eilig hinter sich schloß.

Bisher hatte der Alte nie auf seine Umgebung geachtet. Es war ihm gleichgültig gewesen, daß seine Nachbarn stahlen und betrogen, daß sie sich stritten und prügelten, und daß auf der Treppe stets Zank und Schimpfreden an sein Ohr schlugen. Ihn selbst hätte es auch jetzt noch nicht belästigt, aber seine kleine Tochter durfte nicht unter diesen schlechten Einflüssen leiden. Er fühlte sich verantwortlich für alles, was an sie herantrat, und kopfschüttelnd mußte er sich sagen, daß dies Haus kein passender Aufenthalt für das Kind sei.

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