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Sie nahm einen Stein von der Erde auf.

Siebzehntes Kapitel.
Die Rache

Mehrere Tage lang blieb Ella still und träumerisch. Die Entdeckung, daß es so viele böse Menschen in der Welt giebt, hatte sie ernst und traurig gemacht. Es war zwar nicht das erste Mal, daß ihr jemand unfreundlich begegnet war, aber sie war in dem letzten halben Jahre so mit Liebe verwöhnt worden, daß die traurigen Eindrücke ihres früheren Lebens dadurch ganz verwischt wurden, und sie angefangen hatte zu glauben, daß nur die Kunstreiter böse Menschen seien. Jetzt aber fürchtete sie sich wieder vor Jedermann, und nur schüchtern wagte sie, ihre Waaren auszubieten und den Käufern für das Geld zu danken. Und selbst der alten Wirthin gegenüber war Ella scheu und zurückhaltend geworden, seit Frau Peters dem alten Carlet mehrmals ernstlich zugeredet hatte, die Kleine doch wieder in die Schule zu bringen. Nur gegen Vater Carlet war ihre Liebe dieselbe geblieben; aber wenn Ella schmeichelnd auf seinen Knieen saß, so vermißte er doch das muntere Lachen und die heitern Scherze, die sonst ihre Zärtlichkeiten begleitet hatten, und seufzend überlegte er, wie er das Herz des Kindes wieder von der Last befreien könnte, die es bedrückte. Aber wie sollte er die Furcht und das Mißtrauen beseitigen, wie konnte er all die Spott- und Schimpfnamen aus ihrem Gedächtniß verwischen, mit denen die Gefährten sie überhäuft hatten, und wie sollte er ihr klar machen, daß es unrecht sei, immer und immer wieder mit Befriedigung zu sagen: »Aber der liebe Gott wird sie schon bestrafen!«

Eine Woche war seit dem unglücklichen Schultage verflossen, als Carlet wieder einmal seine Schritte nach der Rosenstadt lenkte. Ella war wieder heiterer, als all die vergangnen Tage, und ungeduldig trippelte sie um den Alten herum, wenn dieser unterwegs immer wieder von Käufern aufgehalten wurde.

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»Wenn wir so spät kommen, sind die Kinder gewiß ausgegangen,« sagte sie vor sich hin und sah aufmerksam umher, ob sie keinen ihrer kleinen Freunde auf der Straße gewahrte. Fast hatten sie Terrasson's Haus erreicht, als Ella plötzlich ein kleines Mädchen bemerkte, das mit einem Korbe am Arm langsam an den Häusern entlang ging. Ella erkannte sie sogleich; es war diejenige ihrer Mitschülerinnen, die sie an dem entsetzlichen Schultage am ärgsten gequält und verspottet hatte. Das Blut stieg dem Kinde in die Wangen, und sie bebte vor Zorn und Erregung an allen Gliedern. Sie blieb einige Schritte hinter Vater Carlet zurück, bückte sich, nahm einen Stein von der Erde auf und warf ihn nach ihrer Feindin. Aber kaum war der Stein aus ihren Händen geflogen, so überdachte sie plötzlich die möglichen Folgen ihrer That. Angstvoll ergriff sie die Flucht und wandte nur noch den Kopf nach dem kleinen Mädchen zurück, um die Wirkung des Wurfes zu beobachten. Aber der Stein war von zu schwachen Händen geschleudert, denn er hatte augenscheinlich sein Ziel gar nicht erreicht. Das Mädchen schien ihn gar nicht einmal bemerkt zu haben, denn sie ging ruhig ihres Weges weiter und wandte den Kopf nach der andern Seite, um von Vater Carlet nicht erkannt zu werden. Ella folgte indessen mit hastigen Schritten Vater Carlet, und die Augen immer auf die verhaßte, kleine Mitschülerin gerichtet, achtete sie nicht auf den Weg. Ihr Fuß stieß an einen großen Stein, und unsanft fiel sie zur Erde. Jetzt erst wurde Carlet auf die Kleine aufmerksam. Schnell eilte er zu ihr zurück und hob sie von der Erde auf. Sie hatte einen recht unglücklichen Fall gethan; die Nase blutete heftig, eine ihrer Hände war arg zerstoßen, und der linke Fuß schmerzte so heftig, daß sie nicht im Stande war zu gehen.

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»O, mein Fuß, mein Fuß,« rief sie klagend, »er thut mir gar zu weh!«

Wenige Schritte von der Stelle, wo Ella zur Erde gefallen war, stand eine Schaar kleiner Knaben, welche Soldaten spielten. Kaum hatte der Hauptmann der kleinen Compagnie Ella bemerkt und ihre Worte gehört, als er in das benachbarte Haus eilte und gleich darauf in Begleitung seiner Mutter zurückkehrte.

»Das ist die kleine Ella, Mama,« sagte er, eifrig nach dem kleinen Mädchen zeigend. »Sie ist hingefallen und hat sich dabei den Fuß beschädigt. Komm, Mama, hilf doch schnell dem armen kleinen Mädchen.«

Dieser Hauptmann der kleinen Soldatenschaar war niemand anders, als Georg Terrasson. Seine Mutter eilte sogleich auf Ella zu, als sie die unglückliche Lage des armen Kindes bemerkte, und Carlet athmete erleichtert bei ihrer Ankunft auf. Er hatte soeben den Versuch gemacht, die Kleine auf seine Arme zu nehmen; aber es wollte ihm nicht gelingen, denn er hielt mit der einen Hand seine Mühlen und das Bündel Besen, und Ella war jetzt auch nicht mehr so klein und schmächtig, wie an dem Abend, da er sie in sein armseliges Kämmerchen getragen hatte. Frau Terrasson überlegte nicht lange, was hier zu thun sei. Sie achtete nicht auf die verwunderten Blicke der Vorübergehenden, sondern nahm die Kleine in ihre Arme und sagte zu Carlet:

»Kommen Sie mit in unser Haus; ich will nachsehn, ob sich Ella auch nicht ernstlich verletzt hat. Hier auf der Straße geht das nicht.«

Sie trug die Kleine vorsichtig in das Zimmer und setzte sich mit ihr auf einen Schemel. Carlet und die vier Kinder standen daneben; sie hielten angstvoll den Athem an und richteten besorgte Blicke auf Ella, deren Gesichtchen von Schmerz verzogen war. Die junge Frau streifte Schuh und Strümpfchen von dem verletzten Fuß, und ein Ausruf des Mitleids entschlüpfte ihren Lippen, als sie die heftige Anschwellung bemerkte. Sorgfältig untersuchte sie den Fuß und prüfte das Gelenk, dann aber wandte sie sich ruhig zu Carlet.

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Carlet und die vier Kinder standen daneben.

»Seien Sie ohne Sorge, guter Vater Carlet, es hat nichts zu bedeuten. Der Fuß ist nur etwas verstaucht; wir wollen kalte Umschläge machen, dann ist es bald wieder gut. Pauline, gieb mir eine Schüssel mit frischem Wasser her, das wird gut sein. Habe keine Angst, mein kleiner Liebling, du bist bald wieder ganz gesund. Du hast dich gewiß recht erschrocken, nicht wahr? Hier, trinke etwas Zuckerwasser, dann schlägt das kleine Herz nicht mehr so heftig. So, nun halte Paulinen deine Hand hin, sie wird sie dir waschen. Siehst du wohl, nun blutet sie gar nicht mehr und die kleine Nase auch nicht. Ist dein Fuß jetzt etwas besser? Thut er nicht mehr so weh?«

Ella bejahte diese Frage zwar, aber doch konnte sie den Fuß noch immer nicht gebrauchen. Frau Terrasson dachte einige Augenblicke nach.

»Wollen Sie mir das Kind hier lassen, Vater Carlet?« fragte sie. »Wenn ich jetzt noch fleißig kalte Umschläge mache, ist Ella morgen wieder ganz gesund. Ich glaube, es wäre nicht gut, wenn sie den Fuß jetzt anstrengen müßte. Er würde wieder heftiger anschwellen und könnte leicht noch schlimmer werden. Ich verspreche Ihnen, es soll für Ella gut gesorgt werden.«

»Sie bleibt bei uns! Sie bleibt bei uns!« riefen die Kinder jubelnd. »Ella du bleibst heut bei uns.«

»Ich borge dir alle meine Puppen.«

»Und ich dir meinen Gürtel mit dem Säbel dran; du kannst dann das Bataillon kommandiren.«

»Ich gebe dir beim Essen mein Besteck und meinen Becher.«

»Und ich borge dir meinen kleinen Lehnstuhl.«

Carlet wandte sich gerührt zu Frau Terrasson, die noch immer eifrig mit Ella beschäftigt war.

»Sie sind zu freundlich gegen mein armes, kleines Mädchen. Aber freilich haben Sie wohl recht, das Gehen könnte ihr schaden, und ich würde sie kaum tragen können, der Weg ist so weit … Aber nun haben Sie deshalb so viel Umstände …«

»Davon ist nicht die Rede. Wo vier Kinder sind, macht ein fünftes nichts aus. Denken Sie doch, wenn Ihnen die Kleine nun krank würde! Sie könnten Ella doch nicht selbst pflegen; Sie müßten sie ja geradezu ins Krankenhaus bringen, und dann wären Sie lange Zeit von ihr getrennt.«

»Wenn Sie Ella hier behalten wollen, liebe Frau Terrasson, mir ist es recht. Der liebe Gott wird es Ihnen vergelten. Ich bin ja nur ein armer Mann und kann Ihnen meine Dankbarkeit durch nichts bezeugen. – Willst du bei der guten Dame bleiben, mein Liebling?« wandte sich Carlet dann zu Ella. »Morgen hole ich dich wieder ab, dann bist du wieder ganz gesund.«

Ella nickte und sah Frau Terrasson dankbar an. Noch einmal umarmte Carlet zärtlich die Kleine, und dann verließ er schnell das Zimmer. Eiligen Schrittes entfernte er sich von dem Hause, aber schon nach wenigen Minuten stand er seufzend still. Er kehrte wieder um, schlich sich leise an das Fenster und warf noch einen Blick in das Zimmer. Erst als er sich überzeugt hatte, daß sein geliebtes Kind die kurze Trennung leicht ertrage, setzte er seinen Weg beruhigt fort.

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