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Da habe ich Arbeit für dich.

Dreiundzwanzigstes Kapitel.
Gute Folgen

Als Ella am anderen Morgen Frau Terrasson's Zimmer betrat, warf sie einen verwunderten Blick auf den Arbeitstisch. Eine Menge kleiner, bunter Zeugstücken waren auf demselben ausgebreitet, und daneben lagen in einer offnen Schachtel zierliche, hölzerne Püppchen mit beweglichen Gliedern.

»Da habe ich Arbeit für dich, mein liebes Kind,« wandte sich Frau Terrasson zu Ella. »Bis jetzt hast du alles, was du brauchtest, von deinem Pflegevater erhalten; aber es wird jetzt Zeit, daß du anfängst, auch für ihn zu sorgen. Vorgestern, bei dem Feste in Couëron hast du die Bemerkung gemacht, daß seine Kleider sehr häßlich sind; aber du wirst auch gesehen haben, daß sie dünn werden und nicht mehr recht warm halten. Bis zum Winter mußt du für den Vater das Geld zu einem neuen Rocke verdient haben.«

»Ach, wie glücklich wäre ich, wenn ich das könnte,« rief Ella erfreut. »Aber wie soll ich das anfangen?«

»Du sollst diese kleinen Puppen ankleiden; ich werde dir zeigen, wie du die Kleider machst, das ist nicht schwer. Ein Dutzend dieser Puppen kostet zwei Francs; für die Stoffe brauchst du nichts zu bezahlen; es sind kleine Stücken, die keinen Werth mehr haben. Von verschiedenen Seiten hat man mir noch mehr solcher Reste versprochen, so daß du für lange Zeit genug haben wirst. Ich weiß auch bereits eine Händlerin, welche dir die Puppen gern abkaufen wird; sie bezahlt zwanzig bis dreißig Centimes für das Stück, je nach der Schönheit ihres Anzuges. Aus diese Weise kannst du jeden Tag mit Leichtigkeit zwei Francs verdienen.«

Ella war ganz außer sich vor Freude. Sie nahm sogleich eine Puppe und ein Stück blauen Kattun zur Hand, und bald war der Anzug der kleinen Dame vollendet. Da die Puppen nicht dazu bestimmt waren, ausgezogen zu werden, so genügten einige Stiche oder ein wenig Leim, um das ganze Kostüm zu befestigen. Kleine Stücken Seidenband wurden als Gürtel oder als Kopfputz verwendet, und unscheinbare Spitzenrestchen dienten noch zum elegantesten Besatz. Je nach der Beschaffenheit des Stoffes schuf Ella in wenigen Minuten eine Köchin, ein Schulmädchen, oder eine Balldame. In kurzer Zeit war der Anzug der zwölf Puppen fertig. Frau Terrasson machte sich mit Ella sogleich auf den Weg zu der Händlerin, welche mit der Arbeit so zufrieden war, daß sie Ella beauftragte, ihr so viele Puppen zu liefern, wie sie nur irgend anfertigen könne. Glücklich über das wohlgelungene Unternehmen kehrte Ella heim, und im Geiste sah sie bereits Vater Carlet in stattlichen, neuen Kleidern einhergehen, die er dem Fleiße seines Kindes verdankte.

Ella's Traum sollte sich aber noch nicht sobald verwirklichen, als sie hoffte. Denn wie emsig sie auch jetzt Tag für Tag arbeitete, dem eigentlichen Ziele ihres Fleißes kam sie doch um keinen Schritt näher. Ihr Verdienst mußte die täglichen Ausgaben des kleinen Haushalts decken, denn Vater Carlet war krank. Hatte er sich nun auf der Hochzeit in Couëron, oder bei dem ungewohnten Nachtlager am Kamin erkältet, – er wußte es selbst nicht; aber Ella wartete eines Abends vergeblich, daß er sie aus der Rosenstadt abhole. Vater Carlet hatte sich im Laufe des Tages so matt und krank gefühlt, daß er bald wieder nach Hause zurückgekehrt war, um einige Stunden zu ruhen, bevor er den Weg nach der Rosenstadt antrat.

Die Stunde jedoch, in der sich der Alte sonst immer bei Terrasson's einfand, war längst vorüber, er aber hatte es nicht bemerkt. Im heftigsten Fieber warf er sich auf seinem Lager hin und her, und als Ella endlich das Zimmer betrat, erkannte der Vater sie nicht einmal mehr. Zum Tode erschrocken rief Ella die alte Wirthin herbei und flehte sie um Hilfe an. Frau Peters hatte Carlet's Heimkehr nicht bemerkt; jetzt eilte sie sogleich an sein Lager, reichte ihm ein kühlendes Getränk, und da sie wohl erkannte, daß hier einsichtsvolle Hilfe nöthig sei, so schickte sie Ella aus, einen Arzt herbeizuholen.

Vater Carlet war an einer Lungenentzündung erkrankt, und während mehrerer Tage schwebte sein Leben in ernster Gefahr. Ella machte sich im Herzen die bittersten Vorwürfe, daß sie wohl die Schuld an seiner Krankheit trage. Auf jede Weise suchte sie die Leiden des Vaters zu lindern und war die aufmerksamste und zärtlichste Pflegerin. An jedem Abend legte sie ihre Matratze auf die Erde neben Carlet's Bett, und kaum stieß er einen Schmerzenslaut aus oder warf sich unruhig hin und her, so stand Ella schon neben seinem Lager, ordnete seine Kissen und reichte ihm seine Arznei oder den kühlenden Trank. Und all diese Liebesdienste begleitete sie mit den zärtlichsten Schmeicheleien und den herzlichsten Worten, so daß Vater Carlet nicht in Zweifel bleiben konnte, daß sein Kind noch immer mit der innigsten Liebe an ihm hinge und ihr Unrecht aufrichtig bereue. Er fühlte sich so glücklich und zufrieden, daß ihm seine Krankheit fast Freude machte, und nur die Sorge stieg zuweilen in ihm auf, daß Ella sich zu sehr überanstrengen möchte und es ihr vielleicht an Geld fehlen könne.

»Mutter Peters,« sagte er eines Tages bittend, als er sich mit der alten Wirthin allein befand, »sorgen Sie recht gut für die Kleine, und geben Sie ihr reichlich zu essen. Wenn ich wieder arbeiten kann, zahle ich es Ihnen mit Zinsen zurück.«

Frau Peters beruhigte den Alten und versicherte ihm immer auf's Neue, daß noch reichlich Geld vorhanden sei.

Das war allerdings richtig, aber freilich hatte es Vater Carlet nicht selbst verdient. Seine geringen Ersparnisse waren längst aufgezehrt, bevor er, auf Ella gestützt, die wenigen Schritte bis in Frau Peters' Zimmer gehen konnte, um dort bei einem fröhlichen, kleinen Mahle seine Genesung zu feiern. Aber wer hatte dies kleine Fest veranstaltet, wer die theuren Arzeneien und die kräftigen Speisen für den Kranken bezahlt? Niemand anders, als Ella! Frau Terrasson hatte der fleißigen Arbeiterin immer neuen Vorrath von Puppen und Stoffen gebracht, und während Ella am Bette des Kranken wachte, waren ihre Hände nicht müssig gewesen. Selbst Frau Peters hatte sich jetzt davon überzeugt, daß Ella bei den »vornehmen Leuten« zu nützlicher Arbeit angeleitet wurde. Auch Frau Robert besuchte ihren alten Freund fleißig während seiner Leidenszeit, und auf Ella's Bitte brachte sie, wenn sie kam, eine Menge niedlicher, kleiner Federn mit, die sie jetzt stets beim Rupfen des Geflügels für ihren fleißigen Liebling zurücklegte. Für Ella waren diese bunten Federn von großem Werth; sie benutzte dieselben zum Putz für ihre Puppen und erhöhte deren Werth dadurch um ein Bedeutendes.

Wie groß war ihre Freude, eines Tages ihrem geliebten Vater zu erzählen, in welcher Weise sie während der letzten Wochen für ihn gesorgt hatte, und indem sie ihn zärtlich in ihre Arme schloß, fügte sie hinzu:

»Du siehst, Väterchen, du kannst dich vollständig zur Ruhe setzen; ich bin jetzt groß genug, um für uns Beide zu arbeiten.«

Vater Carlet war freilich mit diesem Vorschlag nicht einverstanden, aber der Gedanke machte ihn glücklich, daß sein geliebtes Kind jetzt auch ohne ihn ihren Weg durch die Welt finden könne. Während seiner Krankheit hatte der Alte sich oftmals voller Unruhe mit Ella's Zukunft beschäftigt; aber jetzt war alle Sorge von ihm genommen, und mit frohem Staunen bewunderte er ihren Fleiß und ihre große Geschicklichkeit. Sobald aber seine Kräfte wiederkehrten, wollte auch er nicht länger müssig sein. Durch das Anfertigen der Windmühlen hatte er eine große Gewandtheit in Papierarbeiten erlangt, und nun fing er an, aus leichter Pappe allerlei zierliche Gegenstände zu verfertigen, wie Betten und Tische, Bänke und Stühle, und was sonst noch zu einer Puppeneinrichtung gehört. Frau Robert nahm einen Theil des zierlichen Spielwerks mit nach Couëron hinaus, und überall, wo man es sah, erregte es das Entzücken der Kinder und hatte, seines billigen Preises wegen, einen größeren und schnelleren Absatz, als die schönsten Möbel von Rosenholz.

Endlich war Carlet wieder soweit hergestellt, daß er den Verkauf seiner Windmühlen wieder aufnehmen konnte. Ella begleitete den Alten häufig wieder auf seinen Wanderungen, und leichten Herzens gingen die Beiden neben einander her. Carlet sah jetzt einer ruhigen, sorglosen Zukunft entgegen, und Ella fühlte mit Befriedigung, daß sie ihr Unrecht nach Kräften gut gemacht, und daß der Vater ihr verziehen habe.

So floß die Zeit ruhig dahin, und Ella wuchs zu einem blühenden Mädchen heran, das treu und gewissenhaft seine Pflichten erfüllte. Aber je älter sie wurde, desto öfter fühlte sie sich von jener Traurigkeit ergriffen, unter der sie als Kind schon schmerzlich gelitten hatte. Immer wieder verglich sie ihr Leben mit dem anderer Kinder, und mit Betrübniß dachte sie daran, wie einsam sie in der Welt dastehe. Während die meisten Kinder von liebender Mutterhand sorglich gepflegt werden, hatte sie ihre Eltern kaum gekannt und wußte nicht einmal, wo sie ihr Grab zu suchen habe.

Auch hier verstand es Frau Terrasson wieder, das junge Mädchen auf den richtigen Weg zu leiten. Sie begriff sogleich, daß es kein besseres Mittel gäbe, Ella ihren trüben Gedanken zu entreißen, als ihr eine Aufgabe zu stellen, die ihr ganzes Denken und ihre volle Kraft in Anspruch nahm. Diese Aufgabe war für Ella leicht gefunden. Anstatt liebende Sorgfalt und Zärtlichkeit von Andern in Anspruch zu nehmen, sollte sie dieselben ihrem alten Vater zu Theil werden lassen. Frau Terrasson überzeugte das junge Mädchen mit Leichtigkeit, daß Vater Carlet jetzt, wo er alt werde, einer viel größeren Liebe und Fürsorge bedürfe, wie bisher, und daß es ihre Pflicht sei, sich viel mit ihm zu beschäftigen, ihn zu pflegen so viel sie konnte und ihn mit Liebe zu überhäufen. Und nichts konnte Ella willkommener sein, denn nichts schmeichelt schwachen Menschen mehr, als gerade der Gedanke, anderen ein Halt und Schutz zu sein. Ella gab sich ihrer neuen Aufgabe mit einer wahren Begeisterung hin und meinte wirklich, ein ganz erwachsenes Mädchen zu sein. Nun sorgte sie für ihren alten Vater, wie für ein kleines, hilfloses Kind, war dabei aber fleißig wie bisher, arbeitete für ihn und zahlte auf diese Weise alle Liebe und Sorge zurück, die er ihr im Lauf der Jahre erzeigt hatte. Welch reichen Dank erntete Ella aber auch für all ihre Bemühungen! Vater Carlet konnte nicht Worte genug für seine Bewunderung finden, und selbst Frau Peters kargte nicht mehr mit ihrem Lobe.

»Des Bischofs Köchin könnte nicht besser kochen,« sagte die alte Wirthin schmunzelnd, als sie von der wohlgelungnen Suppe kostete, die Ella eines Tages bereitet hatte, und als das junge Mädchen nun auch die Mützen der alten Wirthin zurecht machte, ihre Strümpfe stopfte und die ganze Wäsche selbstständig besorgte, da war auch sie mit der Erziehung ausgesöhnt, die Ella erhalten hatte.

Alle diese häuslichen Künste hatte das junge Mädchen im Laufe der Jahre bei der guten Frau Terrasson erlernt und daneben noch vieles andre. Sie konnte auch recht hübsch schreiben, lesen und rechnen, und vor allem verstand sie die seltne Kunst, niemals Langeweile zu empfinden und sich jederzeit nützlich zu machen.

So war es denn kaum zu verwundern, daß Frau Peters das junge Mädchen liebte, wie ihr eigenes Kind. Und als sie nach einigen Jahren starb, nachdem Ella sie aufs Liebevollste und Sorglichste bis zur letzten Stunde gepflegt hatte, setzte sie das sechzehnjährige Mädchen zu ihrer Erbin ein. Wie groß war Vater Carlet's Freude über das Glück Ella's. Nie hätte er sich träumen lassen, daß das Kind, welches er von der Straße aufgenommen hatte, einst die Eigenthümerin – wenn auch nur einer halben Etage – sein werde.

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