Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

.

Die Kleine trank gierig.

Viertes Kapitel.
Vater Charlet's Erziehung beginnt

Das ganze Haus lag schon in tiefem Schlafe, als Vater Carlet die Treppen hinauf stieg. Aus keiner Thür glänzte ihm mehr ein Lichtstrahl entgegen, nur das tiefe Athmen der Schlafenden drang an sein lauschendes Ohr, und so erreichte er endlich sein eignes Kämmerchen, ohne für die kleine Ella einen Zufluchtsort gefunden zu haben. Aber natürlich kam es ihm nicht in den Sinn, sie wieder vor die Thüre zu tragen. Er legte sie auf seinen Strohsack nieder, zündete ein. Lichtstümpfchen an und beugte sich über das Kind, um es zu betrachten.

.

»Armes Dingelchen!« sagte er mitleidig. »Wie kann solch kleines Wesen so verlassen sein. Sie ist gar nicht häßlich! Sechs Jahre ist sie alt? Das ist ja kaum möglich; Kinder von sechs Jahren sind nicht so klein, das muß ich wissen. Seit ich die kleinen Windmühlen verkaufe, sehe ich täglich so viele Kinder. – Wenn sie nur wieder zu sich käme! Kleine! Kleine! – Sie antwortet nicht und ihre Händchen sind so kalt wie Eis. Ich will Feuer im Kamin machen, das wird ihr gut thun. Ich habe ja noch den Holzvorrath, den mir mein Nachbar hinterlassen hat.« Carlet holte schnell einige Stücken von dem Holze herbei, das bereits seit drei oder vier Jahren unbenutzt in einer Ecke seines Zimmers lag. Mit einer Hand voll Papierschnitzel, den Resten seiner kleinen Mühlen, setzte er das Holz in Brand, und bald knisterte es im Kamin so lustig, als ob es sich freue, endlich seine Bestimmung erreicht zu haben. Nun trug Carlet die Kleine an das Feuer, setzte sich mit ihr auf den Schemel, wärmte seine breite Hand an den Flammen und rieb damit die erstarrten Glieder des armen Kindes.

Die Wärme wirkte so wohlthätig auf die kleine Ella, daß sie schon nach wenigen Augenblicken wieder zu sich kam.

»Mich durstet,« flüsterte sie.

»Sie durstet,« murmelte Carlet betroffen, »und ich habe nicht einen Tropfen Wein im Hause. Wenn ich Durst habe, gehe ich in eine Schenke. – Aber wo in aller Welt soll ich jetzt für das Kind etwas finden?«

»Mama, Wasser!« rief die Kleine ängstlich bittend.

»Armes Ding! sie hat vergessen, daß ihre Mutter todt ist! Wasser will sie? Es ist wahr, man kann auch Wasser trinken; das geht ganz gut. Warte, mein Kind, Wasser sollst du gleich bekommen, das habe ich hier.«

Er holte einen halb zerbrochenen Topf herbei und füllte ihn aus einem Kruge mit Wasser; dann kam er zu Ella zurück, richtete sie in seinen Armen auf und führte das Gefäß an ihre Lippen. Die Kleine trank gierig einige Schlucke, und öffnete dann weit die Augen. Aber heftig erschrocken fuhr sie zurück, als sie dicht vor sich das fremde Gesicht des Alten erblickte, das mit seinem langen grauen Barte und den verwirrten Haaren einen wenig freundlichen Eindruck machte. Sie sprang rasch empor, als wolle sie entfliehen, aber ihr ganzer Körper zitterte so sehr, daß sie nicht im Stande war, aufrecht zu stehen. Carlet fing sie in seinen Armen auf, legte sie wieder auf den Strohsack nieder und streichelte sie wie einen kleinen Hund.

.

»Komm, mein Liebling, du mußt artig sein, sonst wirst du dir Schaden thun. Willst du noch etwas frisches Wasser? Nein? Dann wollen wir uns dicht ans Feuer setzen und dein Köpfchen waschen, das noch immer blutet. Du mußt dich aber nicht mehr vor mir fürchten; ich esse keine kleinen Kinder, sondern lieber Brod und Käse.«

Ueber diesen Witz mußte Carlet jetzt selbst herzlich lachen, Ella aber blieb ganz still. Sie leistete keinen Widerstand mehr, als der Alte sie auf seine Kniee setzte, um sie zu erwärmen; aber bleich, mit zusammengekniffnen Lippen und weitgeöffneten Augen war sie ein Bild stiller Verzweiflung.

Dieser Mann, den sie noch nie gesehen hatte, die düstre, kaum vom Feuer ein wenig erhellte Dachkammer, alles, was sie umgab, erschien der Kleinen entsetzlich. Sie war fest überzeugt, daß die Kunstreiter sie gefunden und zu diesem graubärtigen Alten gebracht hatten. Er war gewiß von Scharf beauftragt, ihre Glieder geschmeidig zu machen, oder ihr ein Mittel einzugeben, damit sie klein bleibe, wie ein Zwerg. Sie konnte sich nun nicht mehr retten, konnte sich mit ihren schwachen Kräften gegen nichts wehren. Sie war verloren, und es wäre nutzlos gewesen, noch ferner Widerstand zu leisten. Aber ihr Herz empörte sich gegen das Unrecht, das wie sie meinte, ihr zugefügt worden war, und es füllte sich mit Haß gegen den guten, alten Carlet, der indessen eifrig bemüht war, sie zu erwärmen, indem er sie bequem auf seinen Schooß setzte und zärtlich mit seinen Armen umschloß.

»Hör einmal, mein Liebling,« sagte er zu dem Kinde, »wie heißt du denn? Willst du es mir nicht sagen? Weißt du, wie ich heiße? Ich bin Vater Carlet. Du kennst wohl meinen Namen gar nicht? Das ist curios; daran sehe ich gleich, daß du nicht aus Nantes bist, denn hier kennen mich alle kleinen Kinder; das heißt, natürlich nur die artigen. Willst du eine Windmühle haben? Sieh, da hast du eine mit schönen, rothen Flügeln. Wenn du auf der einen Seite bläst, so ist es der Nordwind: puh! Sieh, wie sie sich dreht. Und auf dieser Seite ist es der Südwind: puh! Siehst du wohl, nun dreht sie sich nach der andern Seite. Nun gefällt dir das nicht?«

Ella hatte die Mühle in ihre kleine Hand genommen. Sie warf einen Blick darauf, versuchte sogar leise gegen die bunten Flügel zu blasen, aber bald ließ sie das Spielwerk auf den Kamin herabfallen, und Carlet rettete es nur mit raschem Griffe aus den Flammen.

.

Willst du eine Windmühle haben?

»Willst du die Mühle nicht? Du bist wohl heut zu müde, nicht wahr? Morgen wirst du damit spielen? Du sollst einmal sehen, wie sehr du dich freuen wirst, wenn sie am Fenster ihre bunten Flügel in der Sonne dreht. – Und nun komm, nun will ich dir deine kleine Stirn abwaschen. Nicht wahr, sie thut nicht mehr weh? Die Wunde hat sich schon ganz geschlossen, und du wirst prächtig schlafen. Morgen bist du dann wieder so vergnügt, wie ein kleiner Fisch. Gute Nacht, mein Liebling.«

Bei diesen Worten legte Vater Carlet die Kleine auf den Strohsack, dessen eines Ende er, um das Kopfkissen zu ersetzen, ein wenig umbog. Die Füße des Kindes bedeckte er mit einem warmen Federkissen, dem Geschenk einer Geflügelhändlerin, die ihm die Kundschaft des »grünen Baums« verdankte. Dann zog er seinen langen Ueberrock aus, breitete ihn noch sorglich über das Kind, wickelte sich in seine wollne Decke und legte sich an den Kamin nieder. Ella rührte sich nicht mehr; müde und erschöpft schloß sie die Augen und war schon nach wenigen Augenblicken eingeschlafen.

.


 << zurück weiter >>