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Mache den kleinen Mund weit auf, so!

Sechstes Kapitel.
Beginn der Freundschaft

Hätte Ella den guten, alten Carlet angesehen, als er in das Zimmer trat, so wäre sie nicht so angstvoll vor ihm geflohen. Er zitterte ein wenig vor Frost in seiner leichten Kleidung, aber sein Gesicht strahlte vor Vergnügen bei dem Gedanken, wie köstlich die warme Milch dem kleinen Mädchen schmecken werde. Nun setzte er den kleinen Topf auf den Tisch und holte dann aus dem Kasten desselben einen Napf und ein Stück Brod hervor.

»Nun komm, mein Herzchen,« rief er; »komm, du scheues, kleines Vögelchen, du mußt dich nicht fürchten. Du weißt ja, Vater Carlet ißt keine kleinen Kinder. Hast du gut geschlafen, und willst du nun etwas essen? Mutter Günther hatte eben die Milch abgekocht, als ich bei ihr war; wer zuerst kommt, der erhält den guten, dicken Rahm. Sieh, heut habe ich ihn in meinem Topfe. Komm und iß nun die köstliche Suppe, mein Liebling.«

Verwundert lauschte Ella diesen freundlichen Worten. Sie fühlte sich mehr und mehr beruhigt und wagte endlich sogar, die Hände von den Augen zu nehmen und den Kopf ein wenig herum zu drehen.

Aber gerade in diesem Augenblick öffnete Carlet sein großes Messer, um das Brod zu zerschneiden. Bei diesem Anblick schrie Ella entsetzt auf; sie glaubte, ihre letzte Stunde sei gekommen und an allen Gliedern zitternd, warf sie sich Carlet zu Füßen und rief:

»Mein guter Herr, bitte thun Sie mir nichts Böses; ich habe Ihnen ja nichts zu Leide gethan.«

Gerührt blickte Carlet auf das arme Kind. Er verstand nicht, was die Kleine mit ihren Worten sagen wollte; er sah nur, daß sie sich vor ihm fürchtete, und das that ihm leid, denn überall wurde er ja mit Jubel von den Kindern begrüßt.

»Böses?« wiederholte er verwundert. »Was meinst du damit? Du denkst wohl noch an die Männer, bei denen du gestern Abend warst, und hältst mich auch für einen Kunstreiter, wie? Ich bin ja der Vater Carlet, der die kleinen Papiermühlen verkauft, und alle Kinder freuen sich, wenn sie mich sehen. Ich habe dich gestern Abend auf der Straße gefunden. Du lagst halbtodt an meiner Thür, und da nahm ich dich mit in meine Wohnung. Das weißt du wohl alles gar nicht mehr? Nun mußt du dich aber nicht mehr vor mir fürchten, mein kleiner Fisch.«

»Sind die Andern nicht vor der Thür?« sagte Ella unruhig.

»Die Andern? Wen meinst du denn?«

»Nun Scharf und Springer und …«

»Ach, die Kunstreiter! Nun verstehe ich! Nein, mein Liebling, die sind nicht da. Ich kenne sie ja gar nicht. Als ich gestern Abend im ›grünen Baum‹ saß, habe ich sie freilich gesehen, und dann bemerkte ich auch, daß sie zornig forteilten, um dich zu suchen. Aber fürchte dich nicht, hier werden sie dich nicht finden. Nun mußt du aber auch nicht mehr weinen; komm und iß die Suppe. Mache den kleinen Mund weit auf, so!«

Carlet hatte indessen das Brod in kleine Stücke geschnitten, legte es in den Napf und goß die Milch darüber. Dann schöpfte er einen Löffel voll heraus, blies, daß es kühl wurde, und bei den letzten Worten schob er einen Löffel voll warmer Milch in den geöffneten Mund des Kindes, das ihm begierig zuschaute. Dem ersten Löffel folgte ein zweiter, dem zweiten ein dritter. Ella hatte großen Hunger, und Carlet sah mit unbeschreiblichem Vergnügen, wie es ihr schmeckte. Einen Löffel nach dem andern steckte er dem Kinde in den Mund, bis der Napf ganz leer war.

»Wie hungrig das kleine Schäfchen gewesen ist,« sagte er, indem er mit seiner großen Hand liebevoll über das Haar des Kindes strich. »Nun bist du doch artig und fürchtest dich nicht mehr, wenn ich dich auch einen Augenblick allein lasse? Nicht wahr? Ich muß jetzt noch einmal zu Mutter Günther gehen und fragen, ob sie für mich auch noch etwas warme Milch hat.«

»Da habe ich wohl dein Frühstück aufgegessen?« fragte Ella bestürzt.

»Nein,« sagte Carlet lachend, »da du es gegessen hast, so gehört es dir. Aber ich muß nun etwas andres für mich holen.«

Die Augen des Kindes füllten sich mit Thränen. Sie ergriff Carlet's rauhe Hand, zog sie an ihre Lippen und sagte zärtlich:

»Ich habe dich sehr lieb.«

»Nun ich wußte ja, daß du dich nicht lange vor mir fürchten könntest. Aber warum hast du mich jetzt auf einmal lieb?«

»Weil du mir dein eigenes Frühstück gegeben hast. Das hat noch niemand für mich gethan, nicht einmal meine Mama. Sie ließ mich nicht hungern; niemals aber durfte ich einen Bissen mehr nehmen, als sie mir gab.«

»Armes Kind! deine Mama wird wahrscheinlich nicht reich gewesen sein.«

»Und du? Bist du denn reich, oder bist du auch arm?«

Carlet sah die Kleine betroffen an. Sie hatte die Frage ganz unbefangen an ihn gerichtet, und doch verwirrte sie ihn ein wenig, denn er hatte selbst noch nie darüber nachgedacht, ob er reich oder arm sei. Endlich erwiederte er lächelnd, indem er seinen Ueberrock anzog:

»Ja, das weiß ich eigentlich selbst nicht. Sieh, ich bin nicht reich, denn ich habe nicht viel Geld; aber arm bin ich auch nicht; denn ich brauche ja nichts.« Ella schaute verwundert auf; noch niemals hatte sie so gleichgültig über den Besitz des Geldes urtheilen hören. An jedem Abend hatte die Mutter, statt ihr ein Schlummerliedchen zu singen, an ihrem Bett die Einnahme des Tages gezählt, und stets hatte sie dabei geklagt, wie klein die Summe sei und wie theuer das Leben. Oft war sie sogar bei der Theilung des Geldes mit ihren Gefährten in Streit gerathen, denn keiner war zufrieden. Wie sonderbar erschien nun der kleinen Ella dieser alte Mann, der so heiter und zufrieden war, obgleich er fast nichts besaß.

Lachend sah Carlet in das erstaunte Gesicht des Kindes und die Thür öffnend, sagte er:

»Nun sei recht artig, während ich mein Frühstück hole. Ich will bis zum Bretagneplatz gehen und sehen, ob die Kunstreiter noch dort sind. Du darfst nicht eher aus dem Hause, als bis sie die Stadt verlassen haben, das versteht sich.«

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