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Was meinte der alte Herr mit seinen feierlichen Worten?

Vierundzwanzigstes Kapitel.
Die Erbin

Kurze Zeit nach dem Tode der alten Wirthin kamen Carlet und Ella eines Tages vom Notar nach Hause, welcher die Erbschaftsangelegenheit der Frau Peters geordnet hatte. Vater Carlet war natürlich zum Vormund des jungen Mädchens ernannt worden, und der Notar hatte ihm über seine neuen Pflichten eine lange, feierliche Rede gehalten. Aber Vater Carlet hatte von alledem kein Wort verstanden. Mit weitgeöffneten Augen staunte er den alten, stattlichen Herrn an, der ihm, inmitten seiner Bücher und Acten sitzend, auf's dringendste anempfahl, sorgsam mit Ella's Besitz umzugehen, die Zinsen verständig zu benutzen, aber das Kapital ja nicht anzugreifen. Was meinte der alte Herr mit seinen feierlichen Worten? Er hatte ihm wiederholt gesagt, er solle die Pflichten eines Vaters an Ella erfüllen; aber that er das nicht schon seit langer Zeit? Und meinte der Notar, er solle Ella's Geld nicht verschwenden und es ihr nicht stehlen? Das waren unnöthige Worte; denn wer konnte glauben, daß Vater Carlet sein geliebtes Kind betrügen werde! Er war es ja auch gar nicht gewohnt, das Geld wieder anzurühren, wenn er es des Abends in Frau Peters Kasse abgeliefert hatte. So war er fest überzeugt, der ernste Herr in der blauen Brille habe noch etwas anderes gemeint, und er beschloß endlich, Ella zu befragen, ob sie mit ihrem klaren Geist die Worte des Notars besser verstanden habe als er selbst. Mitten auf der Straße blieb er stehen, und zu dem jungen Mädchen gewendet, fragte er:

»Ella, sage mir, hast du vielleicht verstanden, was ich thun soll? Es wäre mir lieb, wenn du es mir einfach und deutlich sagen wolltest, denn aus den Worten des Notars bin ich nicht klug geworden.«

Ella lachte.

»Du hast nichts weiter zu thun, als was du schon seit vielen Jahren gethan hast, Väterchen«, sagte sie. »Die Wirthschaftskasse übernehme ich. In der letzten Zeit habe ich Frau Peters bei allem geholfen; ich werde mich auch damit leicht zurecht finden, sorge dich nicht.«

»Dann bin ich zufrieden. Aber wie werden wir es nun einrichten? Ich dächte, du nähmst Frau Peters Stube jetzt für dich. Sie ist hell und groß und hübscher, wie deine kleine Kammer. Was meinst du dazu?«

»Ja, das bringt uns aber kein Geld ein.«

»Kein Geld! Da hast du allerdings recht; man könnte die Stuben lieber vermiethen; daran hatte ich gar nicht gedacht. Das Zimmer auf der andern Seite ist auch leer, das muß auch vermiethet werden.«

»Ganz gewiß! Ich will einen Zettel an das Fenster hängen und auch einen an die Hausthür, daß die Zimmer zu vermiethen sind. Es wird sich gewiß Jemand melden.«

Und wirklich war noch keine Woche vergangen, da klopfte an Carlet's Thür eine kleine, dicke Frau von etwa funfzig Jahren, die eine Wittwenhaube trug und fragte, ob sie die Zimmer sehen könne. Während Ella die Schlüssel herbeiholte, hatte die Fremde bereits mit Carlet ein Gespräch angeknüpft. Sie schien keine Freundin vom Schweigen zu sein und unterbrach deshalb die augenblickliche Stille mit der Klage, daß man doch gar zu viel Leid in diesem Leben erfahre.

»Doch nicht zu viel,« wollte Carlet eben einwenden, denn er hatte bisher noch niemals gegen sein Schicksal gemurrt. Aber er war etwas schwerfällig im Sprechen, und ehe die Worte noch über seine Lippen kamen, hatte die Fremde bereits wieder den Faden der Unterhaltung aufgenommen und erzählte dem Alten ihre ganze Lebensgeschichte.

Sie war bereits seit funfzehn Jahren Wittwe und stand nach dem Tode ihres Gatten mit einem fünfjährigen Knaben ganz allein in der Welt. Welche Aufgabe war es für eine arme, verlassene Frau, einen Sohn zu erziehen und nebenbei auch noch den Lebensunterhalt zu gewinnen! Doch aber war sie damit zu Stande gekommen. Sie hatte ihren Johann in die Schule geschickt, und wie zufrieden seine Lehrer jederzeit mit ihm gewesen waren, bewies der Kasten voll Prämien, den sie daheim verwahrte. Dann war Johann auf die Gewerbeschule gekommen und von dort als Lehrling zu dem Tischlermeister Lauvain, dessen bester Arbeiter er geworden war.

Jetzt verdiente er ein hübsches Stück Geld, und Frau Lebeau – sie hatte sich bereits längst vorgestellt – hatte nun nicht mehr nöthig, sich die Augen mit feinen Stickereien zu verderben. Aber sie arbeitete trotzdem noch immer fleißig, wenn auch nicht mehr so viel wie in früheren Jahren, da sie doch ihrem Sohne nicht zur Last fallen wollte.

Carlet nickte bei dieser Aeußerung zwar beifällig mit dem Kopfe, wagte aber bescheiden dazwischen zu werfen, daß eine Mutter, die lange Zeit für den Sohn gearbeitet habe, sich in ihrem Alter wohl könne von ihm versorgen lassen. Frau Lebeau versicherte ihm sogleich, daß dies auch Johann's Ansicht sei, aber so lange sie noch arbeiten könne, wolle sie niemandem eine Last sein. Indessen hatte Ella das Zimmer der verstorbenen Wirthin geöffnet. Sie traten hinein, und Frau Lebeau brach das Gespräch ab, um die Zimmer zu betrachten.

»Sehen Sie, Madame,« sagte Ella, indem sie das Fenster öffnete, »haben wir hier nicht eine schöne Aussicht ins Freie? Hier sieht man auf den Fluß und auf die Schiffe mit Holz, Kohlen und Steinen; dort ist die verrufene Brücke, weiter hin die Pappelallee nach Rennes, und wenn Sie sich ein wenig herausbiegen, sehen Sie sogar die Loire. Das Zimmer ist sehr behaglich,« fuhr Ella lobend fort, »und im Winter auch gar nicht kalt. Wir wollen es möblirt vermiethen; die Sachen sind alle in gutem Zustand und sehr haltbar und sauber. Außerdem ist dies ein sehr angenehmes stilles Haus; es wohnen nur anständige Leute darin.«

»Also möblirt?« fragte Frau Lebeau noch einmal. »Dann wird es wohl sehr theuer sein? Ich habe nämlich meine eignen Möbel, ein Bett, einen schönen, großen Schrank, eine Kommode, einen Tisch und vier Stühle; die muß ich doch auch unterbringen. Dann würde ich auch noch ein Schlafcabinet für meinen Johann gebrauchen; denn, sehen Sie, seit er aus der Lehre ist, schläft er nicht mehr bei seinem Meister. Ich habe ihm nun immer eine Matratze in die Küche gelegt, und das geht auch ganz gut, wenn die Küche nicht kleiner ist, wie die Matratze.«

»Wir haben ganz, was Sie brauchen, Madame,« entgegnete Ella und öffnete die Thür des Nebenzimmers. »Hier ist noch eine unmöblirte Stube, welche Ihrem Herrn Sohn wohl zusagen wird. Dort kann das Bett stehen und daneben der Schrank; die Kommode schieben wir in die Ecke und der Tisch bleibt in der Mitte der Stube stehen. – Sie können es sich auch noch bequemer einrichten. Hier an dieser Stelle war früher eine Thür, die in das Nebenzimmer führte, und die man zugesetzt hat. Sie läßt sich leicht wieder öffnen, damit Sie nicht immer über den Corridor gehen müssen, um aus einem Zimmer in das andre zu gelangen.«

Vater Carlet war stumm vor Bewunderung. »Wie klug sie ist, und wie sie stets die richtigen Worte findet! Und mich hat man zu ihrem Vormund gemacht! Das klingt fast wie ein Scherz, sie könnte besser mein Vormund sein. Um dies Mädchen braucht sich niemand Sorge zu machen, sie verwaltet ihr Eigenthum musterhaft.«

Frau Lebeau prüfte nun alles genau, öffnete alle Thüren und Schränke, maß die Wände aus und überlegte sich die Sache dann einige Augenblicke.

»Wie wäre denn der Preis für beide Zimmer?« fragte sie dann zögernd.

»Das eine davon ist sehr hübsch möblirt, Madame; ich denke, den Monat fünfunddreißig Frank für beide ist nicht zu viel. Ich sollte meinen, das ist nicht theuer, wenn Sie die hübsche Lage und die Stille im Hause mit in Anschlag bringen.«

Frau Lebeau fand den Preis ein wenig hoch; da aber ihre bisherige Wohnung sehr eng gewesen war, so gefielen ihr die großen, geräumigen Stuben doch gar zu gut.

»Nun, wir können es ja jetzt,« sagte sie endlich mit einem gewissen Stolze und erklärte sich mit Ella's Forderung einverstanden.

Frau Lebeau hatte also die beiden Stuben gemiethet, und acht Tage darauf zog sie in die neue Wohnung ein, begleitet von ihrem Sohne Johann. Der junge Tischler war etwa zwanzig Jahre alt. Er hatte ein rundes, freundliches Gesicht mit lustigen, klaren, braunen Augen und einen kleinen, noch etwas spärlichen Schnurrbart.

Vater Carlet, der seinen neuen Miethern seine Dienste beim Umzug angeboten hatte, war ganz entzückt von dem jungen Manne. Er konnte gar nicht genug des Guten über den hübschen Burschen sagen und lobte immer wieder, wie höflich und zuvorkommend er sei, nicht nur gegen seine Mutter, sondern überhaupt gegen alle alten Leute; auch sei er so geschickt in seinem Handwerk und schlage alle Nägel und Haken so kunstgerecht ein, wie ein Meister.

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