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»Haben Sie ihn gefunden?« rief sie.

Dreißigstes Kapitel.
Wiedergefunden

Johann Lebeau eilte indessen auf einer Straße in die andre; er fragte, suchte und forschte überall umher, aber immer vergebens. Jeder hohen Männergestalt, die er durch den Nebel einherschreiten sah, eilte er voll neuer Hoffnung nach; aber immer fühlte er sich getäuscht, sobald er sich ihr näherte. Nirgends war eine Spur von Vater Carlet zu entdecken, und voller Verzweiflung dachte der gute Bursche an den Jammer des jungen Mädchens, das indessen daheim Stunde auf Stunde vergeblich seiner Rückkehr harrte. Immer von Neuem durchirrte er wieder die Straßen und hoffte eine Spur von dem Verschwundenen zu entdecken, denn ohne Nachricht wagte er nicht, zu dem jungen Mädchen zurückzukehren.

Es war indessen vollständig Nacht geworden. Mit röthlichem Schein glänzten die Lichter matt durch den Nebel und waren nicht im Stande, die Straßen zu erhellen. Tiefe Dunkelheit bedeckte die ganze Stadt, und mit schwerem Herzen mußte Johann endlich seine fruchtlosen Nachforschungen aufgeben und den Heimweg einschlagen.

Er war nicht mehr weit von seiner Wohnung entfernt, als plötzlich ein Wagen in scharfem Trabe um die Ecke bog und mit der Deichsel unsanft Johann's Schulter berührte.

»Acht geben!« rief der Kutscher von seinem Sitze herab und brachte das Pferd mit festem Griff zum stehen.

Johann sprang rasch auf die Seite, und unwillkürlich glitt sein Blick über die Insassen des Wagens.

»Vater Carlet!« rief er laut und schwang sich auf den Tritt des Wagens. »Vater Carlet, wo wollen Sie denn hin? Soll denn Ella vor Kummer über Sie sterben?«

»Das ist Johann, lieber Herr,« sagte der Blinde zu seinem Gefährten. »Bitte, lassen Sie den Wagen halten, damit ich mit ihm reden kann.«

»Steigen Sie rasch zu uns ein, junger Herr,« sagte Carlet's Retter freundlich; »während wir Sie zu Fräulein Ella zurückbringen, sollen Sie alles erfahren. Auf diese Weise erhält sie am schnellsten beruhigende Nachricht über den Vater.«

Johann hatte nicht Zeit, seiner Verwunderung Worte zu geben. Er war glücklich, daß er Vater Carlet wiedergefunden hatte und setzte sich zu ihm in den Wagen, der rasch weiter rollte und bald im Nebel verschwunden war.

Ella wartete indessen daheim von Stunde zu Stunde mit wachsender Verzweiflung. Zuerst hatte sie versucht, ihre Arbeit wieder aufzunehmen; aber sie war so unruhig, und ihre Hände zitterten so stark, daß sie nicht im Stande war, die Nadel zu halten. So machte sie sich im Zimmer allerlei zu schaffen, schürte das Feuer an und rückte den Korbstuhl des Blinden an den gewohnten Platz am Kamin. Dann holte sie des Vaters Pfeife herbei, legte sie auf einen kleinen Tisch, so, daß er sie von seinem Sitze aus mit der Hand erreichen konnte, setzte seine Pantoffeln vor den Stuhl und legte den alten Schlafrock zurecht. Thräne auf Thräne perlte dabei über ihre Wangen, und mit immer steigender Angst erfüllte sie der Gedanke, daß vielleicht all diese Vorbereitungen für seinen Empfang unnütz seien, daß sie vielleicht niemals wieder sein geliebtes Antlitz sehen werde.

»Wenn die Nachbarin wenigstens heimkäme!« sagte sie aufseufzend und ging unruhig im Zimmer auf und ab. »Sie könnte dann hier auf den Vater warten und ihn versorgen, wenn er zurück kommt. Dann könnte ich doch auch fortgehen und ihn suchen. Ach, ich weiß es, ich würde ihn sicher finden.«

Aber die Nachbarin kam nicht nach Hause. Stunde auf Stunde verrann, und Ella blieb allein in ihrer Angst, ihrer Verzweiflung. Sie öffnete das Fenster und horchte auf die Straße hinaus, aber alles blieb still. Endlich zündete sie die Lampe an und versuchte von Neuem eine Arbeit zur Hand zu nehmen, als hastige Schritte die Treppe herauf stürmten. Angstvoll öffnete Ella schnell die Thür; der Schein ihrer Lampe fiel hell auf das freudestrahlende Gesicht des jungen Tischlers, der in mächtigen Sätzen die Treppe herauf sprang.

»Haben Sie ihn gefunden?« rief sie mit bebender Stimme.

»Ja, er lebt, es geht ihm gut; bald werden Sie ihn wiedersehen.«

Ella war sprachlos vor Freude. Endlich aber faßte sie sich wieder, und halb lachend, halb weinend wandte sie sich zu ihrem jungen Freunde und sagte, ihm die Hand reichend: »Wie sehr danke ich Ihnen. Aber ist es auch wahr? Wer hat es Ihnen gesagt? Wo ist er? Warum kommt er nicht selbst?«

»Ich habe ihn gesehen, gesprochen, er hat mir alles erzählt. Vor allem aber läßt er Sie bitten, ruhig zu sein und sich keine unnöthige Sorge um ihn zu machen.«

»Aber warum haben Sie ihn denn nicht mit hergebracht? Sie wollen mir etwas verbergen. Gewiß ist er krank oder hat sich verletzt; ich weiß nicht, was es ist, aber Sie sagen mir nicht alles.«

»Er ist nicht krank und hat sich auch nicht verletzt; es geht ihm ganz gut; aber er kann weder heut, noch morgen nach Hause kommen. In etwa vierzehn Tagen werden Sie ihn wiedersehen.«

»In vierzehn Tagen! … Kann ich denn nicht zu ihm gehen?«

»Nein, das dürfen Sie nicht … Aber so weinen Sie doch nicht! Seh' ich denn aus, als ob ich der Verkündiger schlechter Neuigkeiten wäre?«

Ella blickte zu dem jungen Manne auf; sein Gesicht strahlte vor Freude und Zuversicht, und so faßte auch sie wieder ein wenig Muth.

»Vierzehn Tage von ihm getrennt sein!« sagte sie traurig. »Er muß mich gar nicht mehr lieb haben, daß er mir diesen Kummer anthun kann.«

»Aber der kleine Kummer führt ja zu desto größerer Freude. Ich darf jeden Tag zu ihm gehen und kann Ihnen allabendlich seine Grüße bringen. Meine Mutter, die ich eben traf, und die schon von allem unterrichtet ist, hat mir versprochen, während dieser Zeit bei Ihnen zu wohnen, damit Sie nicht so verlassen sind. Also Muth! Ich verspreche Ihnen, daß alles gut werden wird. – Setzen Sie denn gar kein Vertrauen in meine Worte?«

Ella antwortete ihm nur mit einem schwachen Lächeln und blickte flehend zu ihm auf; aber er durfte ihrer stummen Bitte nicht nachgeben, und um sein Geheimniß nicht endlich doch noch zu verrathen, sagte er ihr mit herzlichem Gruß Lebewohl und überließ sie ihren eigenen Gedanken. Kummervoll stützte sie den Kopf in die Hand; die qualvolle Ungewißheit über ihres Vaters Geschick lastete schwer auf ihr, und sie wagte nicht, dem Gedanken Glauben zu schenken, daß dies alles noch zu einem glücklichen Ende führen werde.

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