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Carlet's Haus.

Zweites Kapitel.
Die Theilung der Erbschaft

Das Haus, welches Carlet bewohnte, lag in einer kleinen Straße, nahe dem Bretagneplatz. Dieser Theil von Nantes ist eine kleine Welt für sich; er ist nicht so großartig und reich, wie andre Theile der Stadt, auch nicht so belebt, wie der Mittelpunkt derselben, aber dennoch besitzt er einen ganz eigenthümlichen Reiz und einen ganz besonderen Character. In den Kaufläden giebt es die merkwürdigsten Dinge, die man sonst nirgends zu sehen bekommt; neben Möbeln und Bildern aus allen Jahrhunderten findet man da Geschirr, Kupferwaaren und Kleidungsstücke, Lumpen, die früher einmal Sammt, und andere, die ehemals Seide waren. Alles bietet in wirrem Durcheinander das Bild malerischer Unordnung. Da giebt es noch Kleidungsstücke, wie sich unsre Großmütter erinnern, sie in ihrer Jugend gesehen zu haben und Hüte, wie sie niemand gekannt hat; denn das Alter hat ihnen jede Form genommen. An den Markttagen werden diese Gegenstände aus ihren Winkeln hervorgeholt, und all diese Reste vergangener Pracht liegen im Sonnenschein auf dem Bretagneplatz zur Schau.

Am andern Ende des Platzes erheben sich die Buden der Kunstreiter und der Thierbändiger, die hier fast zu keiner Jahreszeit fehlen. Die Trommel rasselt den ganzen Tag, die Trompete schmettert, die Pfeife schrillt, und der Hanswurst wird nicht müde, all die Wunder zu rühmen, die dem schaulustigen Publicum hier geboten werden.

Alterthümliche Wirthshäuser, die unter den einladenden Namen des »goldenen Löwen,« der »goldenen Kugel« oder des »grünen Baumes« dem Reisenden ein gastliches Obdach bieten, umstehen den Platz in weitem Kranze und laden zum Besuche ein.

Eines Abends kam Carlet von seiner Wanderung durch die Stadt nach Hause. Er hatte eine gute Einnahme gehabt und Geld genug, um den folgenden Tag davon zu leben, und um bei Gevatter Michel, dem Wirth zum grünen Baum, einen Schoppen Landwein zu trinken. So trat er denn in die Wirthsstube ein.

An einem Tische, nahe der Wand, saßen drei Männer von ziemlich schlechtem Aussehn, eifrig mit Essen und Trinken beschäftigt. Neben ihnen saß ein kleines Mädchen, das bleich und krank aussah und von Müdigkeit und Kummer ganz erschöpft schien. Die Augen des Kindes waren geröthet, als hätte es viel geweint; im Augenblick aber besaß es nicht einmal mehr die Kraft zu weinen und suchte die kleinen, mageren Arme auf dem Tische zu kreuzen, um den Kopf darauf ruhen zu lassen. Immer wieder wurde es vom Schlafe übermannt. Dann glitten die kleinen Arme vom Tisch herab; der Kopf fiel gegen einen der Gefährten, der die kleine Schläferin dann mit unfreundlicher Miene emporrichtete und wieder gerade auf die Bank setzte. Endlich erhob sich einer der Männer von seinem Platze.

»Wenn du schlafen willst, so gehe dorthin,« sagte er zu dem kleinen Mädchen, legte es auf die Ofenbank und kehrte dann zu seinen Kameraden zurück. Die Kleine streckte die Füße, an denen sie zierliche, rothe Stiefelchen trug, gegen das Feuer und schien sich der Wärme zu freuen. Es war Winter, und ihr Mieder von rosa Seide reichte eben so wenig hin, sie vor der Kälte zu schützen, wie das reich mit Flittergold verzierte Seiltänzerröckchen, mit dem sie bekleidet war. Die Männer, in deren Gesellschaft sie sich befand, trugen ebenfalls das Costüm der Kunstreiter, aber die leichte, theatralische Kleidung derselben wurde durch warme Reisemäntel verdeckt. »Da ist sie wahrhaftig schon eingeschlafen!« sagte jetzt der eine von ihnen und deutete auf das kleine Mädchen, das sich in eine Ecke gedrückt hatte und sich nun nicht mehr rührte.

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Immer wurde es vom Schlafe übermannt.

»Dann laßt uns die Geschäfte besprechen,« versetzte ein anderer. »Was wollen wir nun nach dem Tode der Directorin anfangen? Die Vorstellung hat heut Abend wenig eingebracht: fünf Frank und acht Sou haben wir eingenommen! Es ist nicht möglich in dieser Weise fortzuleben. Was sagst du dazu, Springer?« »Ich,« erwiederte der Angeredete, »ich wollte nur sagen, daß ich mich von euch trenne. Ich habe bereits mit dem Besitzer der großen Bude gesprochen; er hat mich engagirt und es ist nur nöthig, daß wir noch unsre Angelegenheiten in Ordnung bringen.«

»Welche Angelegenheiten?« unterbrach ihn Strobel, der bis dahin zu sehr mit Trinken beschäftigt war, um an dem Gespräche Theil zu nehmen.

»Nun, du Dummkopf, haben wir denn nicht die Theilung vorzunehmen? Die Direktorin ist todt, und wir sind ihre Erben; da müssen wir doch den ganzen Besitz unter uns vertheilen, ehe wir uns trennen. Ist's nicht so? Wie?«

»Ja, das ist richtig,« erwiederte Strobel. »Ich nehme den Affen; ich bin gewöhnt, mit ihm meine Kunststücke zu machen. »Und ich behalte die Bude,« rief der, welcher zuerst gesprochen hatte.

»Du bist nicht dumm! Scharf bleibt sich doch immer gleich; er nimmt für sich den größten Antheil,« rief Springer.

»Weil ich der gewandteste von euch bin. Wüßtet ihr wohl so viel Possen zu treiben, wie ich? Euch überlasse ich den Affen, das Eichhörnchen und die andern Thiere, sowie die Costüme und Instrumente.«

»Und Ella?«

»Ja, das ist wahr! Was machen wir mit der Kleinen?«

»Sie ist zu nichts zu gebrauchen; wir bringen sie am besten ins Waisenhaus,« sagte Strobel.

»Sie kann das Geld einsammeln,« erwiederte Scharf. »Sie ist so klein, sie zieht das Publicum an. Und übrigens, wenn man sie auf eine bestimmte Art ernährte, wäre es nicht schwer, eine Zwergin aus ihr zu machen, mit der man den Zwerg Tom Puß und all die andern überbieten könnte.«

»Das ist aber eine unsichre Sache. Ihre Mutter war eine rechte Närrin. Hätte sie zur rechten Zeit erlaubt, daß die Kleine in den Vorstellungen mitwirkte, so wäre sie eine Künstlerin ersten Ranges geworden. Sie ist so zierlich und geschickt; es ist ein Jammer, daß es nun schon zu spät ist.«

»Zu spät? Sie ist ja kaum sechs Jahr alt, da ist es noch immer Zeit. Wir wollen es versuchen, und gelingt es, so übernehme ich ihre Erziehung.«

»Dann bist du uns aber eine Entschädigung schuldig, wenn du die Bude und das Kind behältst.«

»Man muß erst sehen, was die Kleine werth ist; wenn sie ein Krüppel wird und nicht lernt Kunststücke machen …«

»So bleibt dir noch immer der Ausweg, sie ins Waisenhaus zu bringen.«

»Immerhin kann man sie für den Augenblick nicht in die Theilung mit einschließen.«

»Gut, wir werden sehen. – Strobel, gieb uns einmal den Wein herüber, du behältst ihn ganz für dich. – Wir haben nun also zu theilen: einen Affen, vier abgerichtete Hunde, ein Eichhörnchen, fünf Musikinstrumente, das Costüm eines Marquis, das eines Türken … aber halt, wo ist denn Ella hingekommen?«

Strobel und Springer wandten sich erstaunt um – das Kind war verschwunden.

»Sollte sie fortgelaufen sein? Das ist doch nicht möglich,« sagte Strobel bestürzt. »Ich habe sie noch vor einer kleinen Weile gesehen, als ich mir mein letztes Glas Wein eingoß. Sie wird wohl mit der Katze spielen, die soeben durch die Stube lief.«

»Ella, komm her!« rief Springer mit rauher Stimme.

Aber niemand antwortete seinem Rufe. Umsonst durchsuchte er mit seinen Gefährten alle Winkel des Saales, befragte den Wirth, die Dienstboten, die Gäste; niemand konnte ihm sagen, was aus der Kleinen geworden sei; sie war verschwunden wie ein Irrlicht.

»O, dies abscheuliche, kleine Geschöpf,« rief Scharf; »da that sie nun, als ob sie schliefe! Sie hat unser Gespräch mit angehört und ist davongelaufen. Aber wir müssen sie wiederfinden; wir wollen sogleich die benachbarten Straßen durchsuchen, sie kann noch nicht weit sein.«

Und die drei Männer entfernten sich in verschiedenen Richtungen.

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