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Sie kletterte in die Raufe.

Drittes Kapitel.
Vor Carlet's Thür

Scharf's Vermuthung, Ella habe sich nur schlafend gestellt, um sie zu belauschen, war eine falsche. Gerade in dem Augenblick, als die Kleine die müden Augen schloß, hatte sie ihre Gefährten von der »Directorin« sprechen hören, und dies eine Wort genügte, sie wieder völlig zu ermuntern. Die Directorin, die am Morgen begraben worden war, und in deren Hinterlassenschaft die drei Kunstreiter sich theilten, war die Mutter der kleinen Ella und zugleich das einzige Wesen, welches das arme Kind je geliebt hatte. Auf ihren Vater besann sich Ella nicht mehr genau; er war bereits vor Jahren bei einem Sturz vom Seile gestorben, und seit seinem Tode war die Mutter stets traurig, weinte viel und behandelte sie oft ziemlich rauh. Kurze Zeit nach des Vaters jähem Ende war Springer zu ihnen in die Bude gekommen und tanzte an Stelle des Vaters auf dem Seile. Nun hörte die Kleine oft, wenn sie am Abend in ihrem Bettchen lag, wie die Mutter mit Strobel, Scharf und Springer in Streit gerieth, und soviel sie von den Gesprächen verstehen konnte, suchte ihre Mutter sie vor diesen Männern zu schützen, die ihr etwas zu leide thun wollten. Deshalb lebte das arme Kind in steter Angst vor ihren drei Gefährten, besonders jetzt, wo sie nach dem Tode der Mutter schutzlos in deren Händen zurückgeblieben war.

In der Wirthsstube hatte Ella nun das Gespräch der Männer mit angehört und jedes ihrer Worte verstanden. Eine namenlose Angst bemächtigte sich ihrer; sie sah, daß die Thür des Zimmers offen war, und geräuschlos eilte sie hinaus, ohne noch einen Blick auf ihre Begleiter zu werfen.

Mit wenigen Schritten erreichte sie den Hof, der hinter dem Gasthause in tiefer Dunkelheit lag. Nur aus dem Innern eines Stalles glänzte ihr das Licht einer Laterne entgegen, und schnell lief sie darauf zu und schaute sich vorsichtig in dem schwach erhellten Raume um. Ueber der Raufe, in der noch etwas Heu für die Pferde lag, bemerkte sie ein kleines, zerbrochnes Fenster, und sogleich kam ihr der Gedanke, von hier aus ihre Flucht fortzusetzen. Mit Hilfe einer an die Mauer gelehnten Heugabel kletterte sie in die Raufe, erreichte das Fenster und sah unter sich eine schmale, düstere Seitengasse, in der sich eine Menge kleiner Wagen und Karren befanden. Ein größerer Wagen stand dicht an der Mauer des Stalles und reichte mit seinem Leinwandverdeck fast bis an das Fensterchen hinauf. Ella steckte ihre kleinen Füße durch die Oeffnung, sprang hinab, und ohne sich zu beschädigen, gelangte sie auf den Wagen und von dort zur Erde. Nun eilte sie ohne Zögern vorwärts; aber erschreckt hielt sie bei dem geringsten Geräusch den Athem an und horchte angstvoll, ob sie Schritte und Stimmen höre, die sie verfolgten. So lief sie, ohne zu wissen, wo sie sich befand, aus einer Straße in die andere, nur immer von dem Wunsche vorwärts getrieben, sich möglichst weit von ihren Begleitern zu entfernen. Indessen war die Nacht vollständig hereingebrochen, und die arme, kleine Ella war so müde und erschöpft, daß sie sich kaum noch aufrecht zu halten vermochte. Mehrere Male schon war sie gefallen, aber immer richtete sie sich wieder empor und versuchte, ihren Weg fortzusetzen. Da plötzlich stieß ihr Fuß an einen großen Stein; sie stolperte und schlug mit der Stirn so heftig an den steinernen Pfeiler eines Hausthors, daß sie ohnmächtig zusammenbrach.

Während Ella hier zum Tode erschöpft hingesunken war, hatten die Kunstreiter die Flucht des Kindes bemerkt. Sie verließen erregt das Wirthshaus, und auch Carlet, der seine Pfeife geraucht und seinen Wein getrunken hatte, trat den Heimweg an. Ein eisiger Wind, der sich nach Sonnenuntergang erhoben hatte, blies ihm entgegen, und mit schnellen Schritten eilte er durch einige kleine Gassen und gelangte so in das Häusergewirr, das hinter dem Wirthshause lag.

»Ist das eine Finsterniß!« murmelte er vor sich hin. »Wenn nur meine Pfeife nicht ausgegangen wäre, so würde die mir ein wenig leuchten, und bei diesem Winde ist es auch nicht einmal möglich, sie wieder anzuzünden. Nun, ich muß ja bald zu Hause sein. Das Beste ist, ich taste mich von Thür zu Thür, bis ich an mein Haus komme.«

Aber kaum hatte Carlet einige Schritte vorwärts gethan, als sein Fuß an einen Gegenstand stieß, der im Wege lag. Erschrocken wich der Alte rasch einen Schritt zurück und strauchelte hierbei, aber ein Griff nach der Thür verhinderte zum Glück seinen Fall; nur die kleinen Mühlen entglitten seiner Hand und fielen zu Boden.

»Was in aller Welt liegt denn hier?« sagte er verwundert zu sich selbst, indem er sich zur Erde beugte, um nach der Ursache seines Unfalls zu forschen. »Ein Paket Wäsche? – Nein, es ist lebendig. Es scheint sehr klein zu sein; ich glaube fast, es ist ein Kind! Aber was kann das hier an meinem Thorweg wollen? Bei diesem Wetter kann doch niemand auf der Straße schlafen. Das arme, kleine Ding! Ich werde es wecken und ihm eine Windmühle schenken, wenn sie nicht alle bei dem Falle verdorben sind.«

Indem er dies sagte, hatte er die Thür seines Hauses geöffnet und gegen den Wind geschützt, ein kleines Lichtchen angezündet. Zu seinen Füßen sah er die kleinen Mühlen auf dem Pflaster verstreut. Schnell bückte er sich und sammelte das bunte Spielzeug auf; dann aber fiel sein Blick auf das Kind. Es war Ella, die noch immer leblos am Boden lag, das Köpfchen gegen den steinernen Pfeiler gelehnt.

»Ach, das ist ja die Kleine, die ich vorher im Wirthshause sah!« rief er verwundert. »Wie kommt die denn hierher? Ich glaube gar, sie hat sich beschädigt; sie blutet ja und liegt so still da, wie eine Todte. Das arme Ding! sie könnte morgen früh leicht wirklich todt sein, wenn sie in dieser kalten Nacht hier auf der Straße bliebe. Was in aller Welt soll ich jetzt aber thun? Könnte mir doch irgend jemand einen guten Rath geben, wohin ich das Kind bringen soll. Aber zu so später Stunde geht niemand mehr durch diese Straße. Und doch kann ich das Kind nicht hier liegen lassen; ich werde einmal sehen, ob ich hier im Hause nicht irgend eine Frau finden kann, die sich der Kleinen annehmen will.«

Sorgfältig nahm Vater Carlet nun das Kind auf den Arm und trat mit ihm in das Haus, das er hinter sich verschloß.

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