Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

.

Fünf Paar strahlende Kinderaugen folgten gespannt …

Siebenundzwanzigstes Kapitel.
Ein alter Bekannter

Aber der junge Tischler begnügte sich nicht mit dieser ersten Gabe, denn er richtete die Dachstube der armen Hausgenossen nach und nach wieder mit den nöthigsten Gegenständen ein. Den kleinen Bänken folgten vier Stühle, ein Tisch und sogar ein kleiner Schrank, und hatte Johann dies alles auch nur aus rohem Holz zusammengefügt, so war es doch für die arme Familie von großem Werth und erfüllte seinen Zweck vollkommen. Auch Johann's Mutter wollte hinter den anderen nicht zurückbleiben. Sie war eine wohlwollende Frau und that in der Stille gern etwas Gutes, wenn sie es auch selten eingestand. So unterstützte sie auch jetzt die hilfsbedürftigen Hausgenossen, so weit es in ihren Kräften stand, und versah die ganze Familie mit neuen Anzügen, die sie aus den eignen abgelegten Kleidern und aus denen ihres Sohnes fertigte.

So war unter reger Thätigkeit der Winter vorgerückt und der heilige Dreikönigstag herangekommen. Wie es in Frankreich allgemein Sitte ist, so sollte auch bei Vater Carlet dieser Festtag auf seine eigenthümliche Weise gefeiert werden. Frau Lebeau hatte deshalb den Königskuchen gebacken, der die eine verhängnißvolle Bohne enthält und der an diesem Tage in keinem Hause Frankreichs fehlen darf. Feierlich setzte sie ihn am Abend vor Carlet auf den Tisch und als dieser kopfschüttelnd bemerkte, daß vier Personen ihn wohl kaum mit einem Male verzehren könnten, erwiederte Frau Lebeau, indem sie sich lächelnd zu Ella wandte: »Die Kleinen aus der Dachstube werden gewiß gern dabei helfen.«

Sogleich eilte das junge Mädchen aus dem Zimmer, die Kinder herbeizuholen, und wenige Minuten später saß die kleine Gesellschaft heiter um den runden Eßtisch versammelt. Fünf Paar strahlende Kinderaugen folgten gespannt den Bewegungen der guten Frau, die das herrlich duftende Gebäck in zehn gleiche Theile zerlegte. Frau Lebeau hatte von dem Kuchen ein Stück mehr geschnitten, als Personen in der Gesellschaft waren. Es ist dies eine allgemein verbreitete Sitte; das überzählige Stück heißt das Theil des Armen, das sogenannte Gottestheil und wird einem vorübergehenden Bettler gereicht.

Der Kuchen war zerschnitten, die Stücke vertheilt, und mit klopfendem Herzen prüfte nun ein jeder, ob sein Theil die verhängnißvolle Bohne enthalte, die jedes gern sein eigen nennen möchte. Der Glückliche nämlich, dem der Zufall die Bohne zuertheilt hat, ist der König des Festes. Lauter Jubel erklingt, die Gläser werden aneinander gestoßen, und immer auf's Neue ertönt der Ruf: »Es lebe der König!«

Aber vergebens warteten die um Carlet's Tisch Versammelten; der Kuchen war verzehrt, und die Bohne hatte sich in keinem der Stücke gefunden. Nur das Theil des Armen lag noch auf der Schüssel, und so nahm denn Ella das kleinste der Kinder an die Hand und sagte:

»Komm, wir wollen auf die Straße gehen und einem Armen das Gottestheil geben. Er soll unser König sein, denn die Bohne ist in seinem Stück.« Das junge Mädchen stieg langsam mit dem Kinde die Treppe hinab, und ängstlich hielt sich der Kleine an Ella's Rocke fest, während diese das Licht in der einen Hand trug und es mit der andern vor dem Luftzug schützte. Am Fuße der Treppe setzte sie den Leuchter auf eine Bank nieder, öffnete die Hausthür und spähte nach einem Bettler auf die Straße hinaus. Sie hatte nicht nöthig lange Zeit zu warten, denn kaum fiel der helle Schein des Lichtes durch die Thür, so hinkte eine zerlumpte Gestalt dem Hause zu. Mitleidig betrachtete Ella den armen Alten, als er näher kam, denn sein linkes Bein war nicht nur steif, es fehlte ihm auch der eine Arm; schlaff und leer hing der Rockärmel an der linken Seite hernieder.

»Kommt näher, armer Alter,« rief sie freundlich und reichte ihm mit dem Kuchen ein kleines Geldstück.

»Haben Sie Mitleid, liebe Dame! Erbarmen Sie sich meiner!« sagte dieser mit zitternder Stimme und kam an die Hausthür, um die dargereichte Gabe in Empfang zu nehmen.

.

Er ist es, er ist es!

Aber kaum trat er aus dem Dunkel hervor und näherte sich dem jungen Mädchen, das schon bei dem Klange seiner Stimme erschreckt aufgeblickt hatte, so taumelte sie zurück und stieß einen herzzerreißenden Schrei aus, der durch das ganze Haus schallte. Bis in Carlet's Zimmer war dieser Schrei gedrungen, und der Alte sowohl, wie auch Johann eilten im Fluge zu Ellas Hilfe herbei.

Kaum erblickte das junge Mädchen Vater Carlet in ihrer Nähe, so klammerte sie sich angstvoll an seinen Arm und rief, indem sie mit verstörter Miene auf den Bettler zeigte:

»Er ist's, er ist's.«

Carlet ging auf den Fremden zu, blickte ihm prüfend in das Gesicht, und sogleich hatte auch er ihn erkannt. Seine Augen funkelten vor Zorn, und wüthend, wie ihn Ella nur gesehen, als er sie den Mißhandlungen ihrer Mitschülerinnen entriß, packte er den Bettler bei den Schultern und rief:

»Was hast du ihr gethan? Sage es augenblicklich, oder ich schlage dich zu Boden.«

»Ich habe ihr gar nichts gethan, Sie können es mir glauben,« entgegnete der Bettler erschrocken. »Ich habe sie nur um eine Gabe gebeten, und als sie mir diese geben wollte, schrie sie plötzlich laut auf. Ich weiß nicht weshalb, ich habe ihr nichts gethan. – Aber so lassen Sie mich doch endlich los, Sie erdrosseln mich ja!«

»Du hast sie also nicht wieder erkannt, Elender? Sie aber hat ein gutes Gedächtniß. Das arme Kind hat sich deiner wohl erinnert; sie hat nicht vergessen, wieviel sie durch dich gelitten hat. Und ich habe dich auch sofort erkannt, obgleich ich dich nur ein Mal in meinem Leben sah. Mache daß du fortkommst, und wehe dir, wenn du je wieder in Ella's Nähe kommst!«

»Ella?« rief der Bettler bestürzt und versuchte, auf die Straße hinaus zu entfliehen. Aber das junge Mädchen, das nun wieder zu sich gekommen war und sich in Vater Carlet's Nähe in sicherm Schutz wußte, trat entschlossen vor und hinderte seine Flucht. Ihre Hand zitterte zwar, als sie den Arm des Unglücklichen berührte, aber sie hielt ihn dennoch fest und sagte sanft:

»Ich habe mich nur erschrocken, als ich dich erkannte, Scharf. Es kam mir vor, als sei ich eben von dir fort gelaufen, und du hättest mich nun plötzlich wieder in deiner Gewalt. Aber das war thöricht von mir. Ich sehe ja, wie unglücklich du bist, und vergebe dir von Herzen alles Böse, was du mir jemals zugefügt hast. – Und nun nimm dein Stück Königskuchen; die Bohne muß darin sein. Iß es, und trinke ein Glas Wein dazu, während wir alle rufen: »Es lebe der König.«

Frau Lebeau war indessen auch herunter gekommen, um zu sehen, was es gäbe, aber erschrocken fuhr sie sogleich zurück.

»Wie könnt ihr denn solchen Menschen in das Haus herein lassen,« sagte sie leise zu ihrem Sohn; »er sieht aus, als wollte er uns alle ermorden.«

»Laß nur gut sein, Mutter,« erwiederte Johann, »der arme Mann hat nur einen Arm und ist lahm, vor dem brauchen wir uns doch nicht zu fürchten. Außerdem bin ich ja zu deinem Schutze da, und Vater Carlet hat auch noch seine Kräfte.«

Scharf hatte bei Ella's Worten ganz betroffen aufgeblickt, und dann schlug er beschämt die Augen vor dem Kinde nieder, das er einst gemißhandelt, und dem er sein kleines Erbtheil schmählich entwendet hatte. Er mußte wieder daran denken, in welcher Wuth er sie einst eine ganze Nacht hindurch gesucht, und wie er ihr Rache geschworen, und nun stand das Kind, aus dem er eine Zwergin oder eine Blödsinnige hatte machen wollen, vor ihm, groß, schön und gut, von Freunden und Beschützern umgeben. Und was war indessen aus ihm, dem schlauen Schurken, geworden, der mit Gewandtheit und List selbst seine treuen Gefährten übervortheilt hatte? Arm, krank und ein Krüppel, mußte er bettelnd in den Straßen umher gehen und vom Erbarmen der Menschen leben. Diese Gedanken überwältigten den einst so riesenstarken Mann. Ein tiefer Seufzer rang sich aus seiner Brust hervor, und halb ohnmächtig sank er gegen die Mauer. Aber Ella kam ihm sogleich zu Hilfe.

»Komm, Vater Carlet, hilf mir,« rief sie bittend, »der Mann ist krank.«

Obgleich Vater Carlet wenig Lust dazu zeigte, so mußte er doch Ella's Bitte Folge leisten. Mit Johann's Hilfe brachte er den Bettler bis zu einer Bank und setzte ihn auf dieselbe nieder. Eiligen Schrittes sprang Ella indessen die Treppen hinauf, holte ein Glas Wein herbei, das noch für den König bereit stand und bot dasselbe liebevoll ihrem früheren Feinde zur Erquickung und Stärkung an. Sie hatte jetzt alle Furcht überwunden und war nur noch darauf bedacht, die erschöpften Kräfte des Armen wieder zu stärken, ihm Zutrauen einzuflößen und ihm durch Liebe und Fürsorge ihre Verzeihung zu beweisen. Dies alles gelang ihr auch vollständig; denn kaum hatte der Bettler das belebende Getränk an seine Lippen geführt und war wieder zu sich gekommen, so sah er das sanfte, mitleidige Gesicht des jungen Mädchen vor sich, das er sich vor Jahren zum Opfer für seine eigennützigen Zwecke ausersehen hatte. Da erbebte sein Herz; er neigte das Haupt auf die Brust herab und weinte.

Eine Viertelstunde später saß Scharf in Carlet's Zimmer zwischen dem guten Alten und seiner Tochter. Gierig aß er von den einfachen Speisen, die Ella ihm vorsetzte, und als er seinen Hunger gestillt hatte, erzählte er seine Geschichte. Während sich Ella und ihr Vater in all den Jahren mehr und mehr zu Glück und Wohlstand emporgearbeitet hatten, war er von Stufe zu Stufe immer tiefer gesunken. Mit dem Nachlasse von Ellas Mutter hatte er in verschiedenen Städten versucht Geld zu gewinnen. Aber nirgends war es ihm gelungen, und er machte überall so schlechte Geschäfte, daß er endlich die Bude verkaufen mußte und sich in einem Circus als Clown engagiren ließ. Aber auch dorthin folgte ihm das Unglück bald. Ein Pferd, das ein unvorsichtiger Schlag seiner Hand zur äußersten Wuth gereizt hatte, warf ihn eines Abends bei der Vorstellung zu Boden. Verstümmelt und dem Tode nahe wurde der unglückliche Mann unter den Hufen des wüthenden Thieres hervorgezogen; lange Zeit schwebte sein Leben in großer Gefahr, und nach Monaten erst konnte er das Hospital verlassen. Aber was war in dieser Zeit aus dem sonst so kräftigen und gewandten Manne geworden! Er war lahm und entstellt, der linke Arm fehlte ihm, und er war nicht mehr im Stande, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Als Bettler ging er von Stadt zu Stadt, von Dorf zu Dorf und suchte Nachts in den Scheunen Schutz, wenn er sie offen fand, oder in einem Graben, wenn er kein anderes Obdach hatte. Wie ein Hund würde er eines Tages an der offnen Straße sterben müssen, von keinem Menschen beweint, von niemand betrauert.

Erst spät am Abend verließ der unglückliche Mann Vater Carlet's Zimmer. Sorgsam führte ihn Ella die Treppen hinab und geleitete ihn bis auf die Straße hinaus. Als sie aber eben die Thür hinter ihm schließen wollte, wandte er sich noch einmal zu dem jungen Mädchen zurück. Längst vergessene Worte, die er seit Jahren nicht mehr über die Lippen gebracht hatte, stiegen in seinem Gedächtniß herauf; zögernd ergriff er Ella's Hand und murmelte leise:

»Gott segne dich!«

Seit diesem Tage war der Bettler oftmals ein Gast an Vater Carlet's Tische. Eines Abends aber erschien statt seiner ein Bote, der das junge Mädchen bat, in das Hospital zu kommen, wo ein Kranker dringend nach ihr verlange. Sogleich machte sie sich auf den Weg, und die ganze Nacht hindurch wachte sie treu an dem Lager des alten Kunstreiters, der am andern Morgen in ihren Armen seinen letzten Seufzer aushauchte. Nicht einsam und verlassen, wie er gefürchtet hatte, war er gestorben, kein schlechter Gedanke hatte seine letzte Stunde entweiht; von treuer Hand gepflegt, schied er getröstet und mit Gott versöhnt aus dem Leben.

.


 << zurück weiter >>