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Wie fleißig Du mir hilfst.

Elftes Kapitel.
Die kleine Gehilfin

Am andern Morgen floß der Regen in Strömen hernieder, und traurig sah Ella auf die nassen Dächer vor ihrem Fenster. Aber sogleich hellten sich die Mienen des Kindes auf, als Carlet ihr zurief:

»Heut bleibe ich den ganzen Tag bei dir. Wenn es regnet, kann ich meine kleinen Mühlen nicht umher tragen. Jetzt will ich erst zu Mutter Günther gehen und unser Frühstück holen, und auch gleich etwas Brod und Fleisch mitbringen, damit wir den Tag über nicht Hunger leiden. Dann aber muß ich fleißig sein. Mein Stock ist beinah leer, und da muß ich mir neue Mühlen machen.«

Kurze Zeit darauf saß Carlet an seinem Tische, der ganz mit buntem Papier bedeckt war. Ella hatte ihren Schemel dicht neben den seinen gerückt, und mit aufmerksamen Blicken beobachtete sie, wie der Alte die einzelnen Theile einer Mühle aus Papier schnitt und dann an einem Stäbchen befestigte. Zaghaft streckte die Kleine endlich das Händchen aus und reichte Carlet ein Stückchen Papier nach dem andern hin. Sie hatte wohl aufgemerkt; es war immer das richtige Stück, welches er gerade brauchte. Dann griff sie nach dem großen, alten Messer und glättete die Stäbchen, an denen die Mühlen befestigt wurden, und zuletzt wagte sie sogar, die Scheere zu nehmen und die Flügel der Mühlen aus dem Papier zu schneiden. Ella war glücklich, dem Alten behülflich zu sein, und ihr Gesichtchen strahlte froh bei der Arbeit, die sie so gut und sorgfältig ausführte; Carlet selbst hätte es nicht besser machen können.

»Wie fleißig hilfst du mir, mein gutes, kleines Mädchen,« sagte Carlet lächelnd und strich ihr zärtlich über das weiche Haar. »So viel wie heut habe ich noch nie fertig bekommen.«

Carlet hatte Recht; als es dunkelte, war nicht nur sein Stock wieder auf's schönste geschmückt, sondern er hatte auch außerdem noch einen so großen Vorrath seiner zierlichen Waare, daß sie mindestens für eine Woche ausreichte. Und doch waren ihm die Stunden noch nie so rasch verflossen, und als der Abend hereinbrach, hatte er bei dem Geplauder des Kindes weder Müdigkeit noch Langeweile verspürt.

Wie anders war das sonst gewesen, wenn er an einem Regentage allein in seinem Zimmerchen bei der Arbeit saß! Wie hatte er den Abend herbeigesehnt, der der Einsamkeit und Langenweile ein Ende machte.

An einem solchen Abend hatte der Zufall ihm das kleine Mädchen zugeführt; er hatte sie aus Mitleid in seiner Wohnung aufgenommen, nur, wie er dachte, um sie eine Nacht vor dem Froste zu schützen. Nun war sie aber mehrere Tage bei ihm geblieben, und er hatte sie in der kurzen Zeit lieb gewonnen, wie sein eigenes Kind. In ihrer Gesellschaft fühlte er sich glücklich und zufrieden, und er dachte nicht mehr daran, sich von ihr zu trennen, denn der Gedanke, dann wieder ganz allein zu sein, war ihm schrecklich. Noch waren nicht drei Tage vergangen, seit Ella sich bei ihm aufhielt; aber es erschien ihm wie eben so viele Jahre, und er hätte sie um keinen Preis wieder von sich gelassen. Ohne sie, wieder ganz allein in der Welt, was sollte da aus ihm werden? O nein, nun und nimmermehr! Freilich überlegte er zuweilen voll stiller Angst, was er jetzt alles anschaffen müsse, woran er bisher nie gedacht hatte, und ob seine kleinen Einnahmen für ihn und das Kind auch hinreichen könnten. Aber rasch verbannte er stets diese Gedanken, wenn er an das Leben des armen Kindes im Waisenhause und an seine eigne Verlassenheit dachte.

Als am andern Morgen die Sonne wieder klar in das Fenster schien, war Carlet's erster Gang nach dem Bretagneplatz. Die Bude der Kunstreiter war in der Nacht verschwunden, aber er bemerkte Strobel, der beim Abreißen einer andern Bude behülflich war. Leise schlich Carlet in die Nähe der Männer und hörte, wie die beiden von ihrer bevorstehenden Abreise sprachen.

Dann kam die Rede auch auf Scharf, und Strobel's Gesicht nahm einen zornigen Ausdruck an. Voller Entrüstung erzählte er seinem Gefährten, daß Scharf in der letzten Nacht mit der ganzen Habe der verstorbenen Directorin durchgegangen sei, nachdem er doch kurz zuvor versprochen hatte, die Thiere mit ihm zu theilen.

»Er hat sie alle mitgenommen,« sagte er mit Thränen im Auge, und seine Stimme zitterte heftig, »auch meinen Polly, mein gutes Aeffchen, mit dem ich seit zehn Jahren zusammen war; um das arme Thier ist mir's am meisten leid. Springer ist nun auch um sein Theil gekommen, aber das ist mir gleichgültig; den wüsten Gesellen mochte ich nie leiden, und ich beneide die Gesellschaft in der großen Bude nicht, die ihn engagirt hat. Sie sind heut in der Frühe nach R... gezogen.«

Carlet ließ seine Blicke über den Platz schweifen und bemerkte, daß die große Bude allerdings auch verschwunden war. Freudig eilte er mit dieser frohen Botschaft nach Hause. Ella jubelte laut auf, als sie hörte, daß ihre Verfolger Nantes verlassen hatten, und sie eilte nun, die neuen Kleider anzulegen, um den Alten auf seiner Wanderung durch die Stadt zu begleiten. Das Kleid von Pauline war sehr lang und weit für die schmächtige Gestalt des Kindes, aber um so wärmer umschloß es die kleinen Glieder; auch die Schuhe waren zu groß für Ella, und doch erschienen sie ihr tausendmal schöner, als die rothen Stiefelchen, die sie bisher getragen hatte. Als die Toilette beendet war, ging Ella stolz im Zimmer auf und ab; sie hielt die Händchen in den Taschen der Schürze und kam sich in ihrem langen Röckchen wie ein kleines Fräulein vor.

Endlich war auch Carlet bereit und öffnete nun die Thür. Wie ein Vögelchen, das dem Käfig entflieht, huschte Ella über die Schwelle und sprang singend die Treppen hinab, die kein Ende zu haben schienen. Dann legte sie ihre kleine Hand in die des Alten, trippelte lustig neben ihm her, indem sie immer drei Schritte machte, wenn Carlet einmal ausschritt und wiederholte mit ihrer feinen Stimme die Worte, die der Alte in gewohnter Weise sang:

»Kommt, Kinder, kommt; ich bring euch hier
»Die schönsten Mühlen von Papier.«

Verwundert folgten die Blicke der Vorübergehenden dem Paare. Ein jeder, der Vater Carlet kannte, blieb stehen, blickte erstaunt auf das Kind, kaufte eine Mühle und richtete dabei rasch eine neugierige Frage an den Alten. Mit anmuthiger Verbeugung überreichte Ella dann dem Käufer die Mühle, nahm das Geld in Empfang und sagte freundlich: »Ich danke, mein Herr!« »Vielen Dank, meine Dame!«

Unzählige Male wurde Carlet heut auf diese Weise angehalten, ehe er das Ziel seiner Wanderung, den Markt erreichte. Aber bevor er sich mit seiner Kleinen in das bunte Gewirr hineinmischte, setzte er sich auf die Stufen des Museums nieder und zählte seine Baarschaft. Noch niemals hatte er so gute Geschäfte gemacht, wie heut.

»Ich brauche keine Angst zu haben,« sagte er zufrieden vor sich hin, »das Kind bringt reichlich ein, was es kostet. Nehme ich viel Geld ein, so kann ich ja ohne Sorge auch viel ausgeben. Hoho, Vater Carlet, nur nicht ängstlich, die Sache wird sich schon machen!«

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