Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

.

Was heulst du denn, du dummes Ding.

Fünfzehntes Kapitel.
Ein Tag in der Schule

An einem schönen Maitage trat Ella zum ersten Male den Weg zur Schule an. Sie war sehr unglücklich, daß sie nicht mehr mit Vater Carlet umherstreifen sollte, und erst als ihr der Alte von den kleinen Spielgefährten erzählte und von der guten Lehrerin, die den Kindern schöne Geschichten vorliest, hellte sich ihr Gesichtchen etwas auf.

So trat Ella denn zitternd, aber doch guten Muthes, ihr Körbchen am Arme, in den großen, gelbgetünchten Saal, in welchem bereits mehr als fünfzig kleine Mädchen beisammen saßen. Neugierig richteten sich die fünfzig Paar Augen auf die Eintretende, die unter all diesen Blicken verlegen das Köpfchen senkte und sich still auf den Platz setzte, den die Lehrerin ihr anwies. Ihr Körbchen stellte sie neben die Bank an die Erde. Niemand richtete ein freundliches Wort an die Kleine; nur ein halblautes Flüstern ging durch den Saal, und Ella hörte, wie die Mädchen über »die Neue« sprachen und lachten. Es wurde ihr ganz ängstlich zu Muthe und die Thränen stiegen ihr in die Augen.

Während dessen rief die Lehrerin ein Kind nach dem andern zum Lesen auf und ermahnte die kleine Neueingetretene dazwischen, ja recht aufzumerken. Ella hörte gespannt zu und versuchte, etwas von alledem zu begreifen, was sie hörte; aber vergebens! Je mehr sie sich anstrengte, desto verwirrter wurde es in ihrem Köpfchen. Dazu schwirrten die Fliegen summend gegen die Scheiben, die Sonne brannte durch die Fenster herein, und die eintönigen Stimmen der Kinder, die gemeinsam eine Aufgabe hersagten, lullten endlich wie ein Wiegenlied das ermüdete Kind in den Schlaf. Sie dachte noch einmal daran, wie heiter Vater Carlet jetzt durch die belebten Straßen wanderte, während seine arme Ella in diesem wüsten Zimmer unter lauter fremden Kindern sitzen mußte, die Thränen traten ihr wieder in die Augen, dann aber dachte sie an nichts mehr. Ihr Köpfchen senkte sich bis auf den Tisch herab, – sie war eingeschlafen.

Ein unsanfter Stoß mit dem Ellenbogen erweckte sie aus ihrem Schlummer. Sie konnte sich im Augenblick nicht recht besinnen, wo sie sich befand, hörte auch nicht das leise Kichern ihrer kleinen Nachbarin, sondern sprang rasch auf, rieb sich die Augen und rief: »Hier bin ich, Vater Carlet, was soll ich denn?«

Lautes Gelächter der ganzen Klasse folgte auf Ella's Frage, und mit strengem Blick wandte sich die Lehrerin zu dem Kinde, das sein Gesicht jetzt beschämt in den Händen verbarg.

»Pfui, du unartiges Mädchen,« rief sie erzürnt, »gleich am ersten Tage störst du die andern Kinder. Geh, stelle dich dort in die Ecke; da kannst du wenigstens niemand stören.«

Die arme Ella gehorchte schweigend. Sie hörte nicht mehr, was um sie her vorging, sondern suchte nur ihr Schluchzen zu unterdrücken.

Endlich war die Stunde beendet, und die Kinder nahmen ihr Frühstück und eilten hinaus aus den Hof.

»Willst du allein hier in der Klasse bleiben?« fragte die Lehrerin barsch, und rasch ergriff Ella ihr Körbchen und verließ mit schnellen Schritten das Zimmer. Aber sie wagte nicht, sich unter ihre Mitschülerinnen zu mischen.

In einem Winkel des Hofes setzte sie sich nieder und holte, noch immer schluchzend, ihr Brod und etwas Obst hervor. Niemand näherte sich ihr; keins der Kinder forderte sie auf, an den gemeinsamen Spielen Theil zu nehmen, und nur hie und da drangen einige Worte der Unterhaltung bis zu ihr hin.

»Sie ist eine kleine Hexe.«

»Ist das wahr, ist sie wirklich eine Hexe?«

»Nun sie geht ja immer mit Besen durch die Straßen,« erwiederte ein boshaftes, kleines Ding. »Die Hexen haben immer einen Besen.«

»Meine Mutter sagt, Vater Carlet habe sie irgendwo gestohlen.«

»Das ist nicht wahr! Sie ist aus der Luft gefallen, dem Alten gerade aus die Schultern, als er eines Abends am Schlosse spazieren ging. Seitdem kann er sie nicht wieder los werden.«

Alle begannen zu lachen.

»Wir wollen sie selbst fragen, sie wird es ja wissen. Sie muß uns ihre Geschichte erzählen.«

»Der Vorschlag ist gut, sie muß erzählen.«

Bei diesen Worten eilte die Schaar der Kinder auf Ella zu und umdrängte neugierig das kleine Mädchen, das sich ängstlich gegen die Wand drückte.

»Kleine, wie heißt du?« begann eine der größeren Schülerinnen das Verhör.

»Elisabeth Carlet,« erwiederte das Kind mit zitternder Stimme.

»Ist denn der alte Carlet dein Vater?«

»Nein, mein rechter Vater ist todt; er fiel vom Seile.«

»Hieß denn deine Mutter Frau Carlet?« fragte eine der kleineren naseweis dazwischen.

»Sei still, Grethe,« sagte das große Mädchen in verweisendem Tone, und zu Ella gewendet, fuhr sie fort: »Was machte denn deine Mutter?«

»Meine Mutter spielte Comödie auf den Jahrmärkten,« antwortete Ella unbefangen.

Lautes Gelächter folgte diesen Worten. Ella hatte bisher noch niemals mit besonderer Liebe an ihre Eltern zurückgedacht. Aber bei den Fragen der Kinder trat plötzlich das Bild ihrer sanften, bleichen Mutter wieder vor ihr Auge. Sie erinnerte sich, wie sorgsam die Mutter sie stets am Abend nach der Vorstellung entkleidet hatte, noch ehe sie selbst ihren Putz abgelegt. Es war ihr, als ob sie wieder ihren Kuß auf der Stirn fühlte, und das spöttische Lächeln der Kinder verletzte sie so tief, daß sie von neuem in Thränen ausbrach.

»Was heulst du denn, du dummes Ding? Ist das ein albernes Mädchen!« riefen sie jetzt alle durcheinander. »Wir wollen gar nicht mehr mit ihr reden. Laßt das dumme Ding in Ruhe!«

Die Kinder fingen wieder an zu spielen und achteten nicht mehr auf Ella, und kurze Zeit daraus rief die Lehrerin sie alle in die Klasse zurück. Ella gab sich jetzt die größte Mühe, aufmerksam zu sein; aber sie mußte immer wieder daran denken, daß die andern Kinder nicht freundlich mit ihr spielen wollten, und die Lehrerin keine schönen Geschichten erzählte, und doch hatte Vater Carlet ihr dies alles versprochen. Hatte er sie vielleicht nur hierher gelockt, um sie dann zu verlassen? Dieser Gedanke verfolgte sie während des Vormittags unablässig, und angstvoll eilte sie nach dem Schlusse der Stunden auf die Straße. Sie hatte sicher erwartet, Vater Carlet dort zu finden, aber vergebens blickte sie nach ihm aus.

»Ob er mich wirklich verlassen hat?« sagte die Kleine traurig vor sich hin und blieb ein Weilchen wartend an der Thüre stehen. Endlich aber entschloß sie sich doch, den Weg nach Hause allein anzutreten, als zwei ausgebreitete Arme ihr den Weg versperrten.

»Hast du endlich aufgehört zu weinen?« fragte eine spöttische Stimme, und Ella sah eine ihrer Mitschülerinnen vor sich stehen. Alle Angst, aller Kummer kehrten sogleich wieder in das Herz des Kindes zurück, und ihre Thränen begannen von neuem zu fließen.

»Seht doch, sie heult schon wieder,« rief das große Mädchen ihren Gefährtinnen zu, und in wenigen Sekunden umdrängte die ganze rohe Schaar das geängstigte Kind.

.

Ihr kleinen Rangen, habt ihr denn gar kein Herz?

»Es hat so lange nicht geregnet, sie besprengt die Straßen.«

»Oder sie hat gehört, daß die Leute hier gern einen Brunnen haben wollen.«

»Ach bewahre, die Hexen können ja das Wasser nicht leiden.«

»Kleine Hexe, wo ist dein Besen?«

»Verstehst du auch Comödie zu spielen? Geschwind, zeige einmal, was du kannst.«

»Tanze rasch einen schönen Tanz.«

»Ja, das ist wahr! Du tanzest in der Mitte und wir um dich herum.«

Die Mädchen faßten sich bei den Händen, schlossen einen Kreis und umtanzten in wilden Sprüngen die arme Ella, die vergeblich zu entfliehen suchte. Lachend und singend hielten sie die Kleine in ihrer Mitte gefangen, stießen, zupften und neckten sie und riefen ihr dabei die verschiedensten Spottnamen zu.

»Seiltänzerin! Kunstreiterin! Hexe! Besenhändlerin!« tönte es von allen Seiten.

Trotz aller Anstrengung konnte sich Ella nicht mit Gewalt von ihren Peinigern befreien, und so bat sie denn endlich, an allen Gliedern bebend, mit flehender Stimme:

»Ich bitte euch, lasset mich los; ich muß ja nach Hause gehen, mein Vater wartet auf mich.«

Aber vergebens! Immer von neuem wirbelte der wilde Tanz um sie her. Sie hatte jeden Gedanken an Flucht aufgegeben, verbarg ihr Gesicht in den kleinen Händen und flehte leise mit thränenerstickter Stimme:

»Ach, Vater Carlet, komme doch! Komm, Vater Carlet, und hilf deiner kleinen Ella!«

Da plötzlich hielten die Kinder im Tanzen inne, der wüste Lärm verstummte, und eilige Schritte näherten sich der wilden Schaar. Ella blickte auf und sah Vater Carlet vor sich, dessen sonst so sanfte Stimme vor Zorn bebte, als er die Kinder anrief.

»Ihr kleinen Rangen, habt ihr denn gar kein Herz? Kennt ihr kein Mitleid mit diesem armen Kinde, das weder Vater noch Mutter besitzt? Schämt ihr euch nicht, ein kleines, verlassnes Mädchen so abscheulich zu verhöhnen und zu quälen? Mein armes Schäfchen!« fuhr er dann zu Ella gewandt fort und trocknete ihr die Thränen von den Wangen, »weine nur nicht mehr. Ich hatte dir freilich versprochen, sie würden dich lieb haben und mit dir spielen. O, ihr bösen, ihr abscheulichen Kinder! Aber der liebe Gott wird euch dafür strafen!«

Schnell hob er nun das Körbchen von der Erde auf, das Ella in ihrer Angst verloren hatte, nahm die Kleine an die Hand und zog sie mit sich fort, indem er noch einen letzten, zornigen Blick aus die Kinder warf, die ihm verwundert und eingeschüchtert nachschauten.

.


 << zurück weiter >>