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»Wollen wir uns hier auf die steinerne Bank setzen?«

Achtundzwanzigstes Kapitel.
Not und Hilfe.

Draußen ist es herbstlich trübe,
Auch mein Herz ist trüb' und schwer:
Aller Fleiß und alle Liebe
Hält nicht fern die Sorge mehr!

Doch wie ich so trostlos klage,
Sieh! da tritt ein Freund heran,
Und es ist mit einem Schlage
Alle Sorge abgethan!

Wieder einmal war der November herangekommen, und trotz einzelner freundlicher Strahlen, welche der »Alte Weibersommer« über die Natur warf, schienen doch tausend leise Stimmen daran zu mahnen, daß der Winter nicht mehr fern sei. Die Schwalben und die kleinen Singvögel waren fortgeflogen, die wilden Enten, die Möwen und Taucher, die in langen Zügen oder dichten Schwärmen über Trentemoult hinzogen, riefen den Bewohnern zu: Der Winter kommt! Der Nordwind, der das schwärzliche Geäst der fast entlaubten Bäume durchbrauste, die Wellen der Loire, welche schäumend an das Ufer schlugen, und die grauen Wolken, welche wie ein langer Regenmantel den Himmel verhüllten, sie alle riefen: Der Winter kommt!

Es lag etwas Melancholisches in der Luft und mehr noch in Magdalenens Herzen. Hauptmann Bauqueur hatte im letzten Winter viel an der Gicht gelitten, und wenn die Sommerwärme ihm auch einige Linderung gebracht hatte, so waren mit dem schlechten Wetter die alten Schmerzen doch wiedergekehrt und fesselten ihn in diesem Augenblick an das Bett. Das junge Mädchen hatte einen Arzt zu Rate gezogen, obgleich die Ausgabe ihre schmale Kasse sehr belastete; sie wollte ohnehin kaum noch für die täglichen Bedürfnisse hinreichen, da ihr Vormund die Küche nicht mehr mit Fischen versorgen konnte. Der Arzt hatte ihr wenig Trost gegeben; er hatte zwar eine Arznei verschrieben, schien aber selbst nicht recht an einen Erfolg zu glauben. Sie ging mit ihm hinaus und fragte ihn, was er von dem Kranken denke. »Giebt es nichts, was ihm Heilung oder wenigstens wesentliche Besserung bringen könnte, Herr Doktor?« fragte sie mit Thränen in den Augen.

»Nichts? das wäre zu viel gesagt, mein Fräulein, aber sehen Sie, manche Leiden hängen eng mit den Verhältnissen zusammen. Trentemoult mit seinem feuchten, schwammigen Boden, die Nähe des Flusses, die Nebel, die er erzeugt – das alles ist Gift für rheumatisch beanlagte Personen. Ortsveränderung wäre das einzige Mittel – hier ist nicht viel Hoffnung vorhanden.«

Er grüßte und sprang in das Boot, das ihn nach Nantes zurückbringen sollte.

Traurig schlug Magdalene den Rückweg nach ihrer Wohnung ein, und ihre Gedanken bewegten sich um die Frage, wie es möglich wäre, Trentemoult zu verlassen. Hätte es sich nur darum gehandelt, die Einwilligung ihres Pflegevaters zu erlangen, so wäre das freilich nicht schwer gewesen; sie brauchte nur anzudeuten, daß es ihr hier nicht gefiele, so hätte er sofort einen Widerwillen gegen das Dorf gefaßt und wäre ihr gern bis ans Ende der Welt gefolgt. Aber wovon sollten sie leben? Hier gehörte so wenig dazu, aber an keinem andern Orte würden ihre Mittel hinreichen. Freilich war sie seit zwei Tagen mündig, sie konnte sich ihr kleines Kapital auszahlen lassen und eine Wohnung in Nantes mieten; sie konnte suchen, Unterricht zu erteilen und inzwischen von ihrem Gelde leben. Aber würde sie auch ausreichende Stunden erhalten? Und wer sollte für den lieben, alten Mann sorgen, wenn sie nicht zu Hause wäre? Eine Magd konnte sie nicht halten und vielleicht würde er sich deren Pflege nicht einmal gefallen lassen.

Während die arme Magdalene sich diesen schweren Gedanken überließ und keinen Ausweg aus diesen bitteren Sorgen fand, hatte sie nicht gemerkt, daß ihr ein junger Mann folgte, der sich schon während ihrer Unterredung mit dem Arzt ganz in der Nähe befunden hatte. Er war stattlicher und kräftiger gewachsen als die meisten jungen Herren, und sein neuer städtischer Anzug gab ihm ein feines Ansehen. Ehe das junge Mädchen die Thür öffnete, trat er schnell auf sie zu und fragte mit einer ehrerbietigen Verbeugung: »Habe ich das Vergnügen, Fräulein Magdalene Garay zu sprechen?«

»Ja, mein Herr,« versetzte sie sehr überrascht; sie erhob ihre Augen zu seinem Gesicht, und ein heller Freudenschimmer flog wie ein Sonnenstrahl über das ihrige. »Lorenz!« rief sie und reichte ihm beide Hände.

»Sie kennen mich noch!« sagte er hocherfreut.

»Ich habe Sie gleich erkannt – und doch haben Sie sich sehr verändert, Sie sehen dem Schüler, den ich im Wäldchen traf, gar nicht mehr ähnlich – ach, mein liebes, kleines Wäldchen!«

»Sie sagen mit Recht: mein Wäldchen, denn es gehört Ihnen.«

»Mir? Sie scherzen.«

»Ja, Ihnen, Fräulein Magdalene, nebst vielen anderen Dingen, und ich bin dazu hergekommen, um mit Ihnen von diesen Angelegenheiten zu reden. Können Sie mir einige Augenblicke schenken?«

»Sehr gern, aber ich kann Sie leider nicht nach oben führen, denn mein Vormund ist krank, und wenn er eingeschlafen wäre, würde unser Gespräch ihn stören. Wollen wir uns hier auf die steinerne Bank setzen? Es ist heute nicht kalt.«

»So hören Sie denn, Fräulein Magdalene. Wenn ich nicht früher gekommen bin, um Ihnen das mitzuteilen, was ich Ihnen zu sagen habe, so geschah es, weil ich meinem geliebten Vater – Gott sei seiner Seele gnädig – versprechen mußte, Ihre Mündigkeit abzuwarten …«

»Michel ist tot?« fiel Magdalene erschrocken ein, »o, wie traure ich mit Ihnen um diesen lieben, wahrhaft guten Mann! Und wie trägt Ihre Mutter diesen herben Verlust?«

»Sie hat ihn schmerzlich beweint, aber sie befindet sich wohl und lebt jetzt mit Ludwig und mir allein.«

»Wie ist das gekommen?«

Lorenz erzählte ihr in kurzen Zügen alles, was sich seit ihrem Scheiden in Schloß Doué zugetragen hatte. In ihrem Innern beklagte sie es zwar, daß Lorenz wieder ein Bauer geworden sei, dennoch konnte sie ihn nicht für unglücklich halten, denn er lebte ja auf jenem stillen Fleckchen der Bretagne, das ihr einst so viele bittere Thränen gekostet hatte, und das ihr doch schon seit lange wie ein kleines Paradies erschien. Er sah auf ihrem Gesicht die Freude aufblitzen, als er die Schätze aufzählte, die dort ihr Eigentum waren. Sie, die arme Waise, die mühsam durch ihrer Hände Arbeit so viel zu erwerben suchte, um für jeden Tag eine dürftige Mahlzeit zu besorgen, sie besaß Kühe und Schafe, Hühner, Tauben und Bienen, verschiedene Felder und ein Wäldchen?! Wenn Lorenz ihr alle Schätze Indiens zu Füßen gelegt hätte, sie hätte nicht froher und beglückter sein können als jetzt!

»So bringe ich Ihnen denn heute Ihren Besitztitel,« schloß der junge Mann seinen Bericht, »und bitte Sie zugleich, mich ferner als Ihren Pächter zu behalten – ich glaube, Sie werden keinen finden, der Ihre Interessen treuer im Auge hat …«

»Nein, gewiß nicht,« erwiderte sie mit Wärme. »Lorenz, Sie mein Pächter – und ehemals mein Lehrer – haben Sie denn auch Bücher, in denen Sie nach der Arbeit Erholung finden?«

»Ich besitze einige und werde mir hoffentlich noch mehr anschaffen können, wenn es mir gelingt, immer bessere Erfolge zu erzielen; Sie sollen sehen, Fräulein Magdalene, daß meine Studien mich nicht zum Landmann verdorben haben. Hier bringe ich Ihnen den ersten Pachtzins; bis dahin haben wir den Ertrag Ihrer Ländereien stets zu neuen Anschaffungen verwendet.«

»O Lorenz, wie soll ich Ihnen danken! Sie wissen und verstehen alles; welch ein Geschäftsmann sind Sie neben allem andern noch geworden! Sie können sich nicht denken, wie hochwillkommen mir dies Geld ist: nun kann ich meinen Vormund von hier fortbringen, wo ihm die Luft so schlecht bekommt, ich kann eine gesunde Wohnung in Nantes mieten und eine Pflegerin für ihn nehmen, während ich in der Stadt Unterricht erteile.«

»Sie wollen Stunden geben?«

»Ja, ich will mich nach Kräften darum bemühen. Wir können in Nantes nicht von unserem kleinen Einkommen leben, selbst mit Hilfe des Geldes nicht, das Sie für mich erwerben; ich muß eine lohnende Beschäftigung suchen.«

»In Nantes – so – so – aber vielleicht würde Ihnen ein Aufenthalt auf dem Lande nicht gar zu unangenehm sein – in dem Hause, das ich gebaut habe, sind zwei hübsche, sonnige Zimmer, die leer stehen – ich wagte zu hoffen – ich dachte, Sie würden vielleicht einmal hinauskommen, um sich Ihr Eigentum anzusehen. Ich habe mit niemand darüber gesprochen, aber Ludwig hat es in seiner Herzenseinfalt erraten, er schmückt das hübscheste der beiden Zimmer immer mit Blumen, als ob er Sie alle Tage erwarte – Ihr Patient würde in der Landluft vielleicht schneller genesen – wollen Sie nicht kommen? Wollen Sie Ihrer alten Amme nicht diese Freude machen? Ludwig würde so glücklich sein, und Sie müssen doch sehen, ob Klaudine Sie noch wiedererkennt –!«

Er suchte in einem leichten, scherzhaften Tone zu sprechen, um seine Rührung zu verbergen, fühlte er doch, daß seine Stimme zitterte und die Thränen ihm in die Augen stiegen: so sehnlich wünschte er, daß Magdalene seine Bitte erfüllen möchte!

Sie reichte ihm die Hand. »Lieber Lorenz,« sagte sie gerührt, »Sie sind so gut und treu wie Ihre Mutter! Ja, wir kommen! Ich bin überzeugt, daß mein Pflegevater gern Ihrer liebevollen Einladung folgen wird. Ich will sehen, ob er aufgewacht ist, dann wollen wir gleich die Sache mit ihm besprechen. Sobald er fähig ist, die Reise zu machen, werden wir kommen – o wie gern!«

Sie sprang leichtfüßig die Treppe hinauf, während Lorenz den Blick zum Himmel erhob und ein stilles Dankgebet hinaufsendete – das Sehnen und Verlangen vieler Jahre sollte endlich Erhörung finden!

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