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In seinen Mußestunden schnitzte der alte Herr kleine Figuren.

Fünfundzwanzigstes Kapitel.
Zerbrochene Fesseln.

Glück auf! Die Stunde der Befreiung schlägt,
Und endlich hat die Sklaverei ein Ende!
In meinem Herzen sich's wie Jubel regt,
Da diesem Hause ich den Rücken wende.
Ihr machtet mir das Maß des Leides voll!
Doch laßt mich zieh'n in Frieden – ohne Groll.

Als Hauptmann Bauqueur die beiden Brüder bis ans Ufer begleitet und einen warmen Abschied von ihnen genommen hatte, kehrte er mit großen Schritten in sein Feldlager zurück, wie er es zu nennen pflegte. Dasselbe bestand aus zwei Stuben im ersten Stock; in der einen stand seine eiserne Bettstelle, die so eng und hart war, wie es ein echtes Soldatenbett nur sein kann, die andere stellte sein Wohnzimmer vor, ohne irgend einen Gegenstand aufzuweisen, der zur Behaglichkeit dienen konnte. Ein paar Tische und Rohrstühle bildeten die ganze Einrichtung; die weiß getünchten Wände waren mit allen Gerätschaften des Fischfanges und mit einer schönen Zusammenstellung von Waffen und Epauletten geschmückt, die der alte Soldat jeden Tag mit eigener Hand abstäubte. Vor dem Bett und dem Kamin lagen Teppiche, d. h. sie waren nur auf die Dielen gemalt; das sah doch hübsch aus, wenn es auch die Füße nicht eben wärmte. Der große Tisch in der Mitte diente zur Werkstätte, dort saß der alte Herr in seinen Mußestunden und schnitzte kleine Figuren, phantastische Tiere oder Menschengestalten, wozu er Holz, Muscheln, Fischgräten und bunte Federn verwendete. Diese kleinen Kunstwerke, die freilich ihre Bedeutung nicht immer ganz klar erkennen ließen, wurden von den Kindern in Trentemoult sehr bewundert, und der Hauptmann gewann sich durch solche Geschenke viele kleine Herzen.

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Jetzt holte er aus seinem Koffer, der zugleich die Stelle eines Schrankes vertrat, seinen Staatsanzug – denselben, den er schon vor drei Jahren getragen, als er Magdalene während des Examens beschützt hatte –, suchte einen ledernen Geldbeutel hervor, dessen Inhalt er in zwei gleiche Teile sonderte, wovon er einen wieder in der Tiefe des Koffers sorgfältig verbarg, und zog sich mit ungewöhnlicher Sorgfalt an. Zuweilen trat er ans Fenster und prüfte die Aussicht, oder er öffnete die Thür der kleinen Dachkammer, um sie mit den Augen auszumessen, und dabei nickte und brummte er ganz zufrieden vor sich hin. Endlich ging er zu seiner Wirtin, der wackern Frau Logerou, hinunter, um ein ernstes Zwiegespräch mit ihr zu halten. Die brave Frau, die den Hauptmann sehr verehrte und auf einen so vornehmen Mieter nicht wenig stolz war, ließ sofort ihre Arbeit stehen, schickte ihr Häuflein Kinder, das sie abwechselnd mit Küssen, Ohrfeigen und Butterbroten zu traktieren pflegte, hinaus und hörte ihm aufmerksam zu. Die beiden mußten wohl zu einem befriedigenden Resultat gekommen sein, denn ihre Unterhaltung schloß mit den Worten: »Haben Sie besten Dank, meine gute Frau Logerou,« und »Gar keine Ursache, Herr Kapitän!«

Darauf begab sich der Hauptmann nach Nantes und in das Haus des Notars, den er auf der Treppe antraf. »Bitte tausendmal um Entschuldigung,« sagte der letztere, »mein Wagen wartet, ich muß in einer dringenden Angelegenheit nach Ancenis. Steigen Sie mit mir ein, und erzählen Sie mir auf dem Wege zum Bahnhof, was Sie begehren; ich darf den Zug nicht versäumen. Vielleicht kann ich Ihr Mündel aufsuchen; haben Sie etwas an sie zu bestellen?«

»Das ist gerade der Punkt, um den es sich handelt, ich bin eben selbst auf dem Wege dorthin. Ich fürchte, es geht dort nicht alles, wie es soll; das Kind fühlt sich nicht glücklich.«

»O wirklich? Sie hat dessen in ihren Briefen nie erwähnt.«

Der Hauptmann erzählte unterwegs, was er von Ludwig erfahren hatte, aber der Notar lächelte nur: was ein halb blödsinniger Knabe berichte, könne wohl nicht maßgebend sein. Er wolle aber zuerst zu Reichmanns mitgehen, sicher würden sie dann beide sich überzeugen können, daß die ganze Sorge unbegründet sei.

»Wie steht es mit der Erbschaft meines Mündels?« fragte der Hauptmann, als die Herren schon an der Thür des Reichmannschen Hauses standen.

»O recht gut; die 6000 Franken haben sich bis auf 8000 vermehrt und sind so vorteilhaft angelegt, daß sie jährlich vierhundert Franken Zinsen bringen.«

»Vierhundert?« sagte der Hauptmann mit einem vergnügten Brummen, »dazu meine Pension, geringe Miete, Möbel hat sie – ich denke, es wird sich machen.«

Er zog die Klingel; Annette öffnete die Thür mit dem liebenswürdigen Ausdruck eines Drachens, der seinen Feind verschlingen will. Es war nämlich heute der Empfangstag von Frau Reichmann, und dieser versetzte das Mädchen stets in die übelste Laune: dann mußte sie sich morgens doppelt beeilen, mußte den Saal »aus dem Grunde« aufräumen, wie sie es nannte, statt ihn nur in der Mitte überzufegen und mit dem Staubbesen sehr oberflächlich über die Möbel zu fahren; dann half ihr niemand bei ihrer Arbeit, denn die Damen zogen sich früher als sonst an, und sie mußte sowohl die Küche versehen, als auch den Besuchern die Thür öffnen. Jetzt war die eigentliche Besuchsstunde noch gar nicht gekommen und Annette noch nicht im Glanz ihrer weißen Schürze; sie hieß daher die Herren sehr mürrisch in den Empfangssalon eintreten, und ohne den Damen zu melden, daß jemand gekommen sei, floh sie in die Küche zurück, der ein brenzliger Geruch entströmte.

Der Saal war leer; die Familie befand sich im anstoßenden Zimmer, dessen Thür halb offen stand, aber obgleich der Hauptmann nicht gerade den leichten Schritt einer Sylphe besaß, so wurde der Eintritt der beiden doch nicht bemerkt. Es herrschte ein tüchtiger Lärm nebenan, die Zwillinge weinten und jammerten, und die schrille Stimme ihrer Mutter klang so laut dazwischen, daß den Besuchern kein Wort entgehen konnte.

»Ist da ein Menschenverstand darin,« eiferte Frau Reichmann, »ein paar unschuldige Kinder um solcher Kleinigkeit willen zu bestrafen? Du bist doch durch deinen Vater genug verzogen worden, um auch gegen andere Nachsicht zu üben.«

»Ich soll sie unterrichten,« erwiderte Magdalene mit einem Ton, dem man die mühsam unterdrückten Thränen anmerkte, »aber sie wollen nichts thun.«

»Du verstehst eben nichts davon! Alle kleinen Mädchen ihres Alters sind weiter als sie.«

»Wenn ich nur etwas mehr Unterstützung fände …«

»Ach was! Wenn die Eltern alle Mühe auf sich nehmen sollen, brauchen sie sich nicht mit einer Erzieherin zu plagen. Wissen meine Kinder schon etwas von Geologie und Chemie? von Mathematik und Litteratur? Andere Mädchen lernen das alles, aber freilich haben sie auch keine Cousine im Hause! Und eine Cousine sollte doch wie eine Schwester sein, die Kleinen lieben, sich für ihre Fortschritte interessieren! Aber du hast gar kein Herz.«

»Ich habe schon oft gesagt, daß sie besser lernen würden, wenn ich mehr Gewalt über sie hätte. Aber sie lernen nie ihre Aufgaben, und wenn ich strenge sein will, so antworten sie mir mit Ungezogenheiten. Sehen Sie hier: diese Decke war eine Arbeit meiner seligen Mama – sie war mir so lieb …«

Der Hauptmann sah durch die Thürspalte, wie Magdalene eine zierliche Decke von feiner Häkelarbeit vor Frau Reichmann ausbreitete, sie war durch lange Tintenspuren zebraartig gestreift.

»Nun, nun, wahrscheinlich war ein kleines Mißgeschick, ein umgefallenes Tintenfaß schuld daran,« bemerkte die Dame in mildem Ton. »Wie ging es zu, meine lieben Kleinen? Erzählt mir's offen, ich werde nicht böse sein.«

Die lieben Kleinen stillten ihre Thränen und kicherten boshaft vor sich hin. »Die kleine Spritze, die Esther bei ihrem kranken Ohr gebrauchte,« fing Nanny an – »Mathilde füllte sie mit Tinte …«

»Aber du hast sie losgedrückt,« fiel Mathilde ein.

»Ja, einmal, aber nachher nahmst du sie …«

»Ihr kleinen Äffchen!« sagte die Mutter zärtlich und drohte ihnen scherzhaft mit dem Finger. »Du siehst nun wohl, Magdalene, daß dies nur ein harmloser Kinderstreich war, den ein vernünftiger Mensch unmöglich übelnehmen kann.«

In diesem Augenblick knarrten die Stiefel des Hauptmanns so drohend, daß Frau Reichmann sie nicht mehr überhören konnte. Sie riß die Thür nach dem Korridor auf. »Annette,« rief sie im schärfsten Ton, »wie kannst du dich unterstehen, jemand in den Saal einzulassen, ohne es zu melden?«

»Herr Gott,« schrie Annette zurück, »ich habe einen Braten auf dem Feuer, man kann doch nicht überall zugleich sein.«

Inzwischen waren die Zwillinge verstummt, und Magdalene, die sich tief beschämt fühlte, daß ein Fremder Zeuge dieser Scene gewesen war, wollte sich geräuschlos entfernen. Aber der Hauptmann konnte sich nicht länger halten, er setzte all seine sonstige Höflichkeit aus den Augen, riß die Thür weit auf und rief: »Magdalene!«

Ein Freudenschrei antwortete ihm, und stürmisch warf sich das junge Mädchen in seine Arme. Sie küßte ihn leidenschaftlich und ließ ihren Thränen freien Lauf, wie ein armes, verfolgtes Geschöpf, das den bittern Zwang nicht länger ertragen kann. Der Notar trat hinzu und erklärte feierlich, er habe sich überzeugt, daß Fräulein Garay bei ihren Verwandten keineswegs so gut aufgehoben gewesen sei, wie er angenommen habe. Jetzt traten die Damen des Hauses ein und machten durch ihr Erscheinen der überwältigenden Rührung des ersten Begegnens ein Ende. Der Hauptmann fuhr sich mit dem Ärmel schnell über die nassen Augen, und indem er seinen Arm fest um Magdalene schlang, wendete er sich an Frau Reichmann. »Wenn ich bedenke,« begann er mit mühsam beherrschtem Zorn, »daß dies nun schon drei Jahre so fortgeht, und daß dies arme Kind nie ein Wort der Klage ausgesprochen hat, so bedauere ich nur, daß Sie nicht ein alter Soldat sind, damit ich die Genugthuung haben könnte, Ihnen in ehrlichem Zweikampf die Knochen zu zerbrechen – aber ein alter Soldat hätte freilich nie so gehandelt! Ich sage kein Wort mehr. Magdalene wird ihre Sachen packen, und ich werde sie nebst allem, was ihr gehört, mit mir nehmen. Sie kann gehen, wohin sie will, und sich eine Stellung suchen, wo es ihr gefällt, inzwischen wird sie bei mir besser daran sein als bei Ihnen.«

Frau Reichmann wollte protestieren, aber der Notar setzte ihr auseinander, daß sie sich dem Willen des Vormundes fügen müsse, und daß sie dem Familienrat über die Art, wie sie ihre junge Verwandte behandelt, Rechenschaft schuldig sei. Er empfahl sich; Magdalene ging sogleich an die Vorbereitungen zur Abreise, und Hauptmann Bauqueur machte sich auf den Weg, um eine passende Beförderung für ihr kleines Mobiliar zu suchen.

Er wollte auf den Bahnhof gehen, wurde aber unterwegs dadurch aufgehalten, daß die Brücke über die Loire aufgezogen war, um verschiedene Schiffe durchzulassen. Während er dem Treiben am Ufer zusah, wo sich eine dichte Menge anstaute, redete ihn ein Schiffer an, der eben einen mit Holz beladenen Kahn ablud.

»Ha, guten Tag, Kapitän, wie kommen Sie hierher? Hätte ich das gewußt, daß Sie in Ancenis zu thun haben, so hätte ich Ihnen einen Platz an Bord angeboten; es geht zwar nicht so flink wie mit der Eisenbahn, aber es kostet auch nichts.«

»Danke, danke, mein braver Pitaud! Ich wußte heute früh selbst noch nicht, daß ich reisen würde. Werdet Ihr heute noch fertig?«

»In einer halben Stunde; wir fahren nachher mit der Ebbe zurück. Haben Sie keine Ladung für mich?«

»Jawohl!« rief der Hauptmann, dem eine plötzliche Idee kam. »Könnt Ihr Möbel, Koffer und dergleichen Sachen mitnehmen? Die Eisenbahn ist umständlich und teuer.«

»Natürlich, Kapitän, und dann müssen Sie die Sachen vom Bahnhof noch nach Trentemoult bringen lassen und können bei gewöhnlicher Fracht ein paar Tage darauf warten, wogegen ich sie Ihnen morgen früh vor die Thür bringe. Nein, nein, die Eisenbahn ist ein mangelhaftes Institut und kann sich mit unserem Wassertransport gar nicht messen! In einer Stunde hole ich die Sachen ab.«

So konnte Magdalene noch an demselben Tage mit ihrem Hab und Gut, soweit es in drei Jahren nicht verdorben oder zertrümmert worden war, das Haus verlassen. Sie hatte Mühe, all ihre Sachen zusammenzusuchen, denn niemand half ihr dabei, und man gönnte ihr kaum ein Wort des Abschiedes. Herr Reichmann war der einzige, der ihr herzlich Lebewohl sagte, doch auch er wagte nicht, sie auf den Bahnhof zu begleiten, denn ein Zornesblick seiner Gattin, die über seine Zumutung, den Hauptmann zu Mittag einzuladen, tief empört war, hielt ihn zurück. Magdalene und ihr Beschützer nahmen in einem kleinen Hotel ein vergnügtes Mahl ein und fuhren dann nach Nantes, wo sie übernachteten, um am nächsten Morgen den Weg über die Werft zu Fuß zurückzulegen.

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