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»Auf Ehre, ich möchte die Kleine gern zu mir nehmen.«

Drittes Kapitel.
Der Familienrat.

O böse Stunde, wenn die falsche Welt
Ihr wahres Antlitz zeigt und uns verläßt,
Weil uns das wandelbare Glück verließ!

Der Notar mit dem glatt rasierten Gesicht über der weißen Halsbinde war Magdalenen kaum bekannt; sie wußte nur, daß er Herr Daussier hieße und bei derselben Verwaltung angestellt sei, bei der ihr Vater den Vorsitz geführt hatte: wahrscheinlich hatte man ihn beauftragt, die Angelegenheiten des Verstorbenen zu ordnen. Hinter ihm trat eine alte Dame ein; sie war klein und spitz, die Haut auf ihren magern Wangen hatte die Farbe von altem Elfenbein, und ihr ganzes Auftreten trug ein altjüngferliches Gepräge. Der Notar redete sie denn auch mit »mein Fräulein« an, als er ihr einen Lehnstuhl hinschob, auf dem sie sich behutsam niederließ, während sie ihr altes schwarzes Kleid, das durch langes Tragen etwas rötlich geworden war, sorgfältig glatt strich. Nach ihr kam eine große, stattliche Dame mit lebhaft gerötetem Gesicht herein, die sich so breit auf das Sofa setzte, daß sie es ganz in Anspruch nahm; sie winkte dem schmächtigen, jungen Mann, der ihr mit schüchternem Anstand folgte, sich auf den Stuhl neben ihr zu setzen. Dann war noch ein wohlbeleibter Herr da, an dessen dicker Uhrkette eine Menge von goldenen Zieraten klimperte, und endlich eine blasse Dame, deren Anzug die äußerste Sparsamkeit verriet, und die mit unruhiger Spannung den Notar beobachtete, welcher mitten im Zimmer vor einem mit Papieren bedeckten Tisch saß.

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»Frau Burdelau?« fragte der Notar.

»Hier,« antwortete die stattliche Dame, indem sie sich halb vom Sofa erhob, welches unter ihr ächzte, als sie sich darauf zurücksinken ließ.

»Herr Burdelau junior?«

»So antworte doch, Aristides!« sagte die Dame, indem sie ihrem Sohn einen kräftigen Rippenstoß versetzte.

Der junge Mann fuhr zusammen und murmelte einige unverständliche Worte. Der Notar neigte den Kopf und wendete sich zu der blassen Dame.

»Frau Reichmann?«

Sie verbeugte sich. »Fräulein Himberg? Herr Ratier? – So fehlt uns also nur noch Hauptmann Bauqueur.«

»Ist hier,« sagte eine tiefe Stimme; ein großer Mann von aufrechter Haltung, in einem Überzieher von militärischem Schnitt, war eingetreten und machte der Versammlung eine Verbeugung, die den alten Soldaten erkennen ließ. Er nahm neben Herrn Ratier Platz.

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»Meine Damen und Herren,« begann der Notar, »ich habe Sie hierher gebeten, um mit Ihnen über die Zukunft der minderjährigen Tochter Ihres geschätzten Verwandten, Herrn Garay, zu sprechen. Es handelt sich vor allem darum, zu entscheiden, wer von Ihnen die Vormundschaft übernehmen möchte, denn da Herr Garay bei seinem plötzlichen Tode kein Testament hinterlassen, noch einen Vormund ernannt hat, so muß der Familienrat an seine Stelle treten.«

»Kein Testament!« flüsterte Frau Reichmann, und ihr langes Gesicht wurde noch länger vor Enttäuschung.

»Ehe wir über die Vormundschaft verhandeln,« sagte Frau Burdelau, »müssen wir doch etwas über die Verhältnisse unseres verstorbenen Vetters erfahren – denn er war mit uns allen mehr oder weniger nah verwandt, nicht wahr?«

»Gewiß,« bestätigte Herr Ratier, »sein Vater war der Großneffe meines Urgroßvaters.«

»Ich weiß nur,« nahm Fräulein Himberg das Wort, »daß ich seine Cousine bin, wenigstens habe ich es so von meiner verstorbenen Mutter gehört; die Verwandtschaft dürfte schwer nachzuweisen sein, aber man hält sie aus alter Gewohnheit fest.«

»Der Grad hat nichts mit der Sache zu schaffen!« unterbrach sie Hauptmann Bauqueur, »die Frage ist die: welches Vermögen bleibt der Kleinen?«

»Es liegt noch eine wichtigere vor,« sagte der Notar, »das ist die, wer von Ihnen das junge Mädchen in seine Obhut nehmen möchte. Frau Reichmann, Sie sind die Mutter einer Familie, bei Ihnen würde vielleicht …«

»Gewiß, Herr Notar; meine fünf Töchter werden ihr wie Schwestern entgegenkommen. Wir hatten zwar keinen Verkehr mit unserem lieben Vetter, aber wir standen auf sehr gutem Fuße; ich habe nie versäumt, ihm die Geburt meiner Kinder anzuzeigen, und er hat mir stets dazu Glück gewünscht und einen Becher oder ein Besteck für das Neugeborene mitgeschickt. Meine dritte Tochter Esther ist sogar sein Patchen, und wenn er nur Zeit gehabt hätte, ein Testament zu machen …«

»Ich zweifle nicht an seiner freundlichen Gesinnung für Fräulein Esther, gnädige Frau, aber für ein Legat war doch nur wenig Aussicht vorhanden. Aus der Prüfung der Papiere des Verstorbenen geht hervor, daß er seine bedeutenden Einkünfte stets ganz verbrauchte, und da kein eigenes Vermögen vorhanden ist, so ist nichts weiter zurückgeblieben, als der Wert seiner Möbel und sonstigen beweglichen Sachen.«

Der Notar ließ seine Augen über den Familienrat schweifen, um den Eindruck seiner Worte zu beobachten. Es war, als hätte der Blitz in die Versammlung eingeschlagen – zuerst ein totenähnliches Schweigen, dann brach der Sturm los.

»Welche Gewissenlosigkeit!«

»Seiner Tochter keinen Groschen zu hinterlassen! Welch schlechter Vater!«

»Garay war immer ein Verschwender, ein Egoist!«

»Sein ganzes Einkommen auszugeben!«

»Es wäre groß genug gewesen, um zehn Familien zu ernähren!«

»Er hat seine Tochter wie eine Prinzessin erzogen.«

»Ja wohl, Klavier spielen, sticken, Wissenschaften treiben, das lernt man, aber wer weiß, ob sie imstande ist, sich ein paar Strümpfe auszubessern,« bemerkte Fräulein Himberg.

»Es ist sehr traurig!« sagte Frau Reichmann. »Auf diese Weise erzieht man Mädchen, welche ihre Männer an den Bettelstab bringen, wie sie es mit ihren Vätern gethan haben! Da wollte ich, liebes Fräulein, ich könnte Ihnen meine Töchter zeigen, die sind ein Schatz für jedes Haus. Wenn Sie einmal Idas Kochkunst kennen gelernt hätten, so würde es Ihnen nirgend mehr schmecken, selbst nicht in der feinsten Restauration, und dabei verbraucht sie so wenig Butter! Und Klara fertigt alle Kleider allein an, wie die beste Schneiderin. Esther, das Patchen des unglücklichen Herrn Garay, plättet alle Wäsche des Hauses, sie stärkt und fältelt, daß es ein wahres Vergnügen ist. Die Kleinen haben noch kein spezielles Fach, doch zeigt Nanny bereits ein hübsches Talent, um Kupfersachen zu putzen, und Mathilde …«

»Aber darum handelt es sich hier ja gar nicht!« unterbrach Frau Burdelau sie ungeduldig, »wir verlieren ja unnütz unsere Zeit. Der Herr Notar hat uns hierher berufen, um uns eine Vormundschaft anzutragen, worüber denn? Das Mündel hat ja nichts!«

»Meine Damen und Herren,« sagte der Notar in dringendem Ton, »Sie können trotzdem Ihre junge Verwandte nicht ganz verlassen. Sie ist fünfzehn Jahre alt und soll sehr gut unterrichtet sein, in wenigen Jahren kann sie ihr Examen machen und für sich selbst sorgen; es handelt sich also nur um eine kurze Zeit. Frau Reichmann, in Ihrem Hause hat ein Kind mehr nicht viel zu bedeuten – Sie sagten ja vorhin, daß Ihre Töchter ihr schwesterlich entgegenkommen würden …«

»Ja, aber ich wußte nicht – – diese Erziehung ist meinen eigenen Prinzipien so ganz entgegengesetzt. – – Sie wissen, ein fauler Apfel kann den ganzen Vorrat verderben – ich müßte befürchten, daß ein so schlecht erzogenes Mädchen meinen eigenen Kindern ein böses Beispiel gäbe, und meine Töchter sind so ordentlich, so sparsam, so geschickt – sie werden ihre Männer so glücklich machen …«

Der Notar unterbrach ziemlich rücksichtslos die ferneren Lobpreisungen der fünf Fräulein Reichmann. »Fräulein Himberg, Sie leben allein, wäre es nicht schön für Sie, eine junge, liebenswürdige, gebildete Gesellschafterin um sich zu haben, die Ihnen Ihr einsames Leben erheitert? Bei Ihrem Vermögen …«

»Mein Vermögen!« rief das alte Fräulein in schrillem Tone, »ich möchte wissen, wer Ihnen ein Recht giebt, von meinem Vermögen zu sprechen! Wenn ich mir solche Ausgaben gestattet hätte, wie andere Leute, so könnte ich jetzt auf Stroh schlafen, und nun soll ich die unterstützen, die ihr Hab und Gut vergeudet haben? Nein, rechnen Sie nicht auf mich, ich habe mit der Reise hierher wahrlich genug gethan.«

»Sie kam hierher,« flüsterte der Hauptmann Herrn Ratier ins Ohr, »weil sie hoffte, es würde etwas für sie abfallen. Wenn das Mündel reich wäre, würde die alte Person aus einem andern Ton pfeifen, glauben Sie mir das!«

Der Hauptmann Bauqueur hatte eine Art, Leuten etwas ins Ohr zu flüstern, bei der man auf zehn Schritt in der Runde jedes Wort deutlich verstehen konnte. Fräulein Himberg schleuderte ihm einen wütenden Blick zu, der zur Hälfte auch Herrn Ratier galt.

Der Notar wandte sich jetzt im Ton der Überredung an Frau Burdelau. »Nicht wahr, gnädige Frau, Sie werden dies gute Werk übernehmen? Und bald wird die Zeit kommen, wo es Ihnen Segen bringen wird. Sie sind Witwe, und Ihr Herr Sohn, der Ihnen jetzt gewiß noch angenehme Gesellschaft leistet, wird nicht immer bei Ihnen bleiben. Ihnen fehlt eine Tochter, adoptieren Sie das junge Mädchen, Sie werden es nicht bereuen.«

Frau Burdelau nahm eine strenge Miene an. »Sie vergessen die Sitte, die Etikette, mein Herr. Wie kann ich ein junges Mädchen in das Haus eines jungen Mannes bringen? Denn Aristides ist der Herr des Hauses. Unmöglich, ganz undenkbar. – – Nun, was soll's?«

Die letzten, sehr ärgerlich gesprochenen Worte galten dem armen Aristides, welcher schon seit einer Weile vergeblich versucht hatte, die Aufmerksamkeit seiner Mutter durch Husten und Hin- und Herrücken auf seinem Stuhl auf sich zu ziehen; jetzt streckte er kühnlich seine Hand aus und kniff sie leise in den Arm. Er errötete wie ein ertappter Schulbube und flüsterte ihr zu:

»Aber Mama, was soll denn nun aus meiner armen Cousine werden?«

»Aus deiner Cousine? O, es ist nur eine sehr entfernte Verwandtschaft, kaum noch nachzuweisen – mag aus ihr werden, was da will.«

»Aber sie ist allerliebst – ich habe sie auf einer Gesellschaft getroffen und mit ihr getanzt. Du schienst damals sehr damit einverstanden und wolltest mir Einladungen in dieselben Häuser verschaffen, in denen Garays verkehrten – –«

»Damals, ja das war eine andere Sache! damals war Garay ein angesehener Mann – wer konnte denken, daß er seiner Tochter keinen Pfennig hinterlassen würde. Mische dich nicht in die Angelegenheit, Aristides; wenn ich das junge Mädchen zu mir nähme, so würde man denken, ich wollte sie mir ausdrücklich zur Schwiegertochter erziehen, und das könnte dich hindern, eine Frau nach meinem Sinn zu finden. Ich hab es mir in den Kopf gesetzt, daß du eine Erbin heiraten sollst, verstehst du?«

Wenn Aristides flüsterte, so sprach seine Mutter um so lauter, und der unglücklichen Magdalene war kein einziges Wort entgangen. All diese grausamen, egoistischen Reden zerrissen ihr das Herz und zeigten ihr, daß es auch nach dem Tode des geliebten Vaters noch zucken und bluten könne. Daß sie gänzlich mittellos war, kümmerte sie in diesem Augenblick weniger; aber sich zwischen diesen Menschen hin und her gestoßen zu fühlen, wie eine Bettlerin, nach der niemand fragt, das Andenken ihres teuren, abgöttisch verehrten Vaters mit Schimpf und Schande bedeckt zu sehen – das war mehr, als sie ertragen konnte. Sie hätte fliehen und ihre Augen für immer schließen mögen; sie hatte ein Gefühl, als ob ihre Sinne sie verließen und dunkle Wolken sie einhüllten, aber sie durfte sich nicht rühren, denn sie meinte vor Scham sterben zu müssen, wenn ihre herzlosen Verwandten sie auf ihrem Lauscherposten entdeckt hätten. So unterdrückte sie ihr Schluchzen und klammerte sich krampfhaft an den Vorhang fest, um nicht zu Boden zu fallen; sie sah nicht mehr, was im Saale vorging, dennoch hörte sie, wie der Notar sich nun an die Herren wandte. Sie vernahm auch die rauhe Stimme des Hauptmanns, die ihm antwortete: »Auf Ehre, mein Herr, ich möchte die Kleine gern zu mir nehmen, obgleich sie bei mir nicht viel Vergnügen finden würde, denn ich bin keiner von euren feinen Salonherren. Aber sehen Sie, ich habe nur gerade so viel, um von meiner Pension zu leben, es bleibt am Ende des Jahres nichts übrig. Wenn die verehrten Anwesenden sich alle zusammen thun wollten – vielleicht könnte ich mir den Kaffee und das Gläschen Likör abgewöhnen, auch die Pfeife und dann meinen Teil beitragen …«

Aber die anderen widersprachen lebhaft, und Herr Ratier sagte: »Ich habe nie geheiratet, um mir nicht die Sorge für eine Familie aufzuladen, und soll jetzt für fremde Kinder sorgen? Ich kann meine Ausgaben nicht vergrößern, und es wäre auch zu viel verlangt, wenn die vorsichtigen Leute für die Thorheiten der Leichtsinnigen eintreten müßten!«

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