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Ludwig dachte in seiner Weise über die Ereignisse nach.

Dreiundzwanzigstes Kapitel.
Flucht.

Sie ist nicht mit mir gekommen – o weh!
Es hält sie gefangen die böse Fee.
Ich muß sie entführen zu schönerem Ort,
Doch brauche ich Hilfe – drum auf und fort!

Magdalene blieb am Fenster stehen und sah im Schutz der Gardine Ludwig so lange nach, wie sie seine Gestalt mit dem trübselig gesenkten Kopf erblicken konnte. Frau Reichmann, die zu glauben schien, daß ihre Aufmerksamkeit dem jungen Burdelau gälte, nahm ihre unterbrochene Strafpredigt wieder auf und donnerte gegen die Koketterie und das empörende Benehmen gewisser junger Mädchen, aber Magdalene achtete nicht darauf, sie hatte Kopf und Herz zu voll von Gedanken und Empfindungen, die durch das plötzliche Erscheinen ihres einfältigen Freundes erweckt waren. Wie schön, wie sonnig und friedlich erschienen ihrem innern Blick die ländlichen Fluren, wie verschwanden aus ihrer Erinnerung alle Kümmernisse, alles Drückende, was sie dort empfunden, um nur das Andenken an alles Gute übrig zu lassen: an Katharinas Liebe, Michels bescheidene Güte, die Stunden mit Lorenz, die Zärtlichkeit des armen Knaben, der sie nicht vergessen konnte und die weite Wanderung unternommen hatte, um sie wiederzusehen! Wie sehnte sie sich nach der frischen, freien Luft, nach dem blauen Himmel mit seinen zarten Morgennebeln, nach dem Wohlgeruch der blühenden Sträucher! Sie sah die wohlbekannten Tiere vor sich, Klaudine, die ihr aus der Hand fraß, die Hühner, die sich auf ihren Ruf um sie sammelten; sie dachte an das Gehölz, wo sie stille Augenblicke friedevoller Einsamkeit verlebt, an ihr Feld, auf dem das Getreide wuchs, dessen erste Körner sie selbst einst gesammelt hatte. All diese Bilder, diese Gestalten schienen eine Stimme anzunehmen und ihr zuzurufen: »Komm zu uns! kehre zu uns zurück!« O wie gern wäre sie dem Ruf gefolgt, hätte ihr Bündel geschnürt und dies Haus verlassen, wo nichts sie hielt! Aber sie wußte wohl, daß nicht alle im Schlosse sie liebten und ihre Rückkehr gern sehen würden. Die alten Tregans würden murren, die rote Stube war von Anna und ihrem Manne bewohnt; vielleicht konnten nicht einmal Michel und Katharina sie rückhaltlos willkommen heißen, denn sie war ja für sie eine stete Quelle des Ärgers und der Kämpfe in ihrem eigenen Hause gewesen. Arme Magdalene, wo gab es für sie eine Heimat? Hier bei Reichmanns gewiß nicht. Sie hätte gern schon längst an den Notar geschrieben und ihn gebeten, ihr irgend eine andere Stelle zu verschaffen; jetzt, wo sie bald zwanzig Jahre alt wurde, konnte man sie doch nicht mehr für zu jung halten. Aber wenn sie sich über die hiesigen Verhältnisse beklagte, so konnte das leicht an das Ohr ihrer Tante gelangen, und die Folge davon würde nur eine noch schlechtere Behandlung sein. Mündlich wäre es leichter gewesen, aber der Notar kam nie nach Ancenis, und Magdalene hatte niemand, gegen den sie einmal ihr Herz hätte ausschütten können, denn nicht um die Welt hätte sie den braven Hauptmann Bauqueur, an den sie zuweilen schrieb, mit nutzlosen Klagen belästigen mögen.

Während ihre Gedanken trauernd umherschweiften und doch endlich wieder in stiller Ergebung in die freudlose Gegenwart zurückkehrten, saß Ludwig in einem Coupé erster Klasse Aristides gegenüber und dachte in seiner Weise über die eben durchlebten Ereignisse nach. Magdalene hatte ihn fortgeschickt, ihn, der gekommen war, um sie abzuholen, der ihr ein eigenes Haus gebaut hatte! Sie hatte ihm zwar versprochen, nachzukommen, aber würde sie auch Wort halten? Würde die böse Dame sie nicht daran verhindern? Denn die Dame war schlecht, sie hatte harte Worte zu Magdalene gesprochen und sie mit bösen Augen angesehen. Magdalene hätte ihn gern bei sich behalten und im Speicher auf Stroh schlafen lassen, aber die grimmige Dame hatte es nicht erlaubt, sie hatte ihn also fortgeschickt und seiner Freundin Kummer bereitet. Diese konnte dort gar nicht glücklich sein; sie würde sich in seinem Häuschen besser befinden: dieser Gedanke tröstete ihn etwas, aber seine Besorgnisse waren noch nicht ganz beruhigt. Er wußte aus seinen Liedern und Legenden, daß böse Feen und Hexen wehrlose Christenkinder zuweilen gefangen hielten und quälten – vielleicht war diese Dame eine von ihnen und zu ähnlichem Thun fähig!

Ludwig dachte eifrig darüber nach, wie er Magdalene aus dieser Gefangenschaft befreien könne, und ihm fiel plötzlich der Name des Hauptmanns Bauqueur in Trentemoult ein. »Es liegt Nantes gegenüber am andern Ufer der Loire, und man findet immer einen Kahn, der einen übersetzt,« hatte Peter Kado gesagt. Ein Hauptmann war gewiß ein mächtiger Mann, Ludwig hatte auf seinem Marsche gesehen, daß alle Soldaten ihrem Hauptmann gehorsam waren; vielleicht würde dieser die Macht haben, Magdalene zu befreien, er wollte ihn sogleich aufsuchen und ihm ihre Not klagen. Als er zu diesem Entschluß gekommen war, lief der Zug eben in den Bahnhof von Nantes ein.

»Warte hier auf mich,« sagte Aristides zu seinem Schützling, als sie ausgestiegen waren, »ich will mich erkundigen, ob du gleich weiter fahren kannst, oder ob du vielleicht die Nacht hier bleiben mußt. Ich bin in fünf Minuten wieder da.«

Als der junge Mann zurückkehrte, war Ludwig verschwunden. Er suchte, rief, erkundigte sich, aber niemand hatte den Flüchtling gesehen. »Weiß Gott, es ist nicht meine Schuld,« brummte Aristides, »mag er hinlaufen, wohin er will, ich kann ihn nicht halten.« Damit verließ er den Bahnhof.

Sobald Ludwig sich allein gesehen, hatte er seine Freiheit benutzt und war davon gelaufen, so schnell ihn seine Beine tragen wollten. Als er endlich nicht mehr weiter konnte, hielt er atemlos ein und sah sich angstvoll nach seinem Begleiter um, aber keine Spur war von ihm zu erblicken. So ging er ruhiger weiter, immer das Ufer entlang, wo zu seiner Rechten die Schienen der Eisenbahn fortliefen, zu seiner Linken tief unten die Wasser der Loire hinströmten, die mit Ruderkähnen, Segelbooten und Dampfschiffen bedeckt waren. Auf der ersten Treppe, die er fand, stieg er zum Ufer hinab, um eine Gelegenheit zum Übersetzen zu suchen, aber er fand an dieser Stelle nur größere Schiffe, die festgekettet waren und sanft von den Fluten geschaukelt wurden. So wanderte er fort; der Uferrand wurde breiter, er traf auf Schiffe, welche noch im Bau waren: von manchen war erst der Kiel gelegt, bei anderen war der Rumpf vollendet, aber noch unbekleidet, so daß sie aussahen wie die Skelette ungeheurer Fische, noch andere waren eben fertig geworden, und ihre gerundeten Wände trieften noch von frischem Teer. Aber jetzt herrschte Schweigen auf der Werft, kein Hammerschlag eines Zimmermanns, kein Ruf eines Arbeiters ließ sich hören, denn es war Feierabend; höchstens einige Frauen und Kinder waren zu sehen, die ihre Säcke mit Hobelspänen füllten oder die umherliegenden Holzstückchen in Körbe sammelten. Sie achteten nicht auf Ludwig, denn sie hatten genug damit zu thun, ihre Last fortzuschleppen. Und immer noch war nichts von Trentemoult zu sehen, wo blieb es nur? Dem müden Knaben fing der Mut zu sinken an. Ein Junge ging pfeifend seines Weges, Ludwig näherte sich ihm schüchtern und sagte halblaut in fragendem Tone: »Trentemoult?«

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Der andere blieb stehen. »Willst du dorthin, Kamerad? Siehst du denn nicht, daß alle Kähne am Lande liegen? Leg dich schlafen, morgen setzt man dich über.«

»Morgen!« sagte Ludwig betrübt, doch faßte er sich schnell, denn er sah wenigstens, daß er nicht weit vom Ziele war. »Wo liegt das Schiff, das nach Trentemoult fährt?« fragte er.

»Etwas weiter unten; sieh nur, da drüben liegt der Ort – aber nein, es ist schon zu finster. Morgen fahren Kähne genug hinüber; du brauchst nur mit Sonnenaufgang hier zu sein, da nimmt dich schon einer mit.«

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Der Bursche nickte und ging pfeifend von dannen.

»Morgen mit Sonnenaufgang!« dachte Ludwig, aber jetzt war es dunkel, und er war sehr hungrig. Wie ein verirrter Hund suchte er sich einen Winkel für die Nacht und kroch in die tiefste Ecke eines noch unfertigen Bootes. Dort lag ein tüchtiger Haufen Hobelspäne, von denen er sich eine Lagerstatt zurecht machte; mit der Arbeitsjacke, die der Zimmermann dort vergessen hatte, deckte er sich zu und genoß die letzten Brotkrumen, die er zur Wegzehrung für Magdalene aufbewahrt hatte. Er faltete seine Hände zum Gebet und schlief dann ruhig ein, eingelullt durch das sanfte Rauschen der Wellen, welche wenige Schritte von ihm das Ufer bespülten.

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Katharina rief mit steigender Angst seinen Namen in die Dunkelheit hinaus.


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