Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

.

Sie streichelte dankbar Klaudinens rotes, glattes Fell.

Fünftes Kapitel.
Der erste Tag im Schlosse.

O teures Vaterhaus, o Kinderglück,
Wie konntet ihr so schnell entschwinden?
Die Thräne trübt den müden Blick –
Wie soll ich einen Ausweg finden
Aus diesem Labyrinth von Weh?
Ach, spitze Dornen nur, wohin ich seh'!

Der erste Tag brachte so viel Neues, daß Magdalene kaum Zeit behielt, sich ihrem Kummer hinzugeben. Man führte sie in das rote Zimmer, welches in dem oberen Stock eines Turmes lag und für besonders schön gehalten wurde, denn der Fußboden war statt des Estrichs mit Steinfliesen belegt, und über dem riesigen Kamin, in dem wohl lange kein Feuer gebrannt hatte, war ein alter Spiegel mit vergoldetem Rahmen in die Mauer eingelassen, aber freilich durch Fliegen und Feuchtigkeit längst alles Glanzes beraubt. Ein anderer Gegenstand des Stolzes war das Bett, das nicht, wie die anderen, in einem Wandschrank verborgen war, sondern einen Baldachin und eine Steppdecke von weiß und rot karriertem Kattun hatte. Von demselben Stoff waren auch die Gardinen am Fenster, welches in Anbetracht seiner dicken grünlichen Scheiben kaum eines schützenden Vorhanges bedurft hätte. Die fernere Einrichtung des Zimmers bestand aus einem hohen Schrank und einer alten Kommode, die durch die lange Thätigkeit der Holzwürmer fast durchsichtig geworden waren, aus einem Tisch und zwei Stühlen von stark gedunkeltem Holz. Bündel verschiedener Kräuter, die man hier zum Trocknen aufgehängt hatte, verbreiteten einen würzigen Geruch, welcher sich sonderbar mit dem leisen Moderduft mischte, den man stets in lang verschlossenen Räumen findet.

Wie das Traumbild eines verlorenen Paradieses stieg ihr bisheriges, weiß und rosenrot ausgestattetes Stübchen vor Magdalenens Erinnerung auf, aber sie verscheuchte es schnell und räumte ihre Kleider und Bücher, so gut es gehen wollte, in die Schränke ein. Anna half ihr beim Auspacken ihres Koffers; sie bewunderte jedes Stück und that wunderliche Fragen über den Zweck einzelner Gegenstände, ließ sich aber durch kleine Geschenke an Bändern und bunten Schächtelchen in helles Entzücken versetzen und bot Magdalenen zum Dank an, sie durch alle Räume des Hofes zu führen.

Als sie den Stall verließen, wo gewisse grunzende Geschöpfe sich auf den Opfertod des Weihnachtsfestes vorbereiteten, wurde Anna abgerufen; Magdalene folgte ihr langsam, sie war froh, einmal allein zu sein. Als sie um die Ecke bog, hörte sie zwei Stimmen, die sich lebhaft unterhielten; sie blieb unwillkürlich stehen und horchte auf, als ihr Name an ihr Ohr schlug.

»Ich sage dir, das ist ganz unmöglich; das Mädchen hat nichts, warum konnte deine Frau sie nicht ruhig in Nantes lassen? Ich will in meinem Hause niemand dulden, der sein Brot nicht durch seiner Hände Arbeit verdient.«

Magdalene erkannte sofort die Stimme des alten Tregan, dann erwiderte Michel mit der größten Sanftmut:

»Meine Frau liebt sie aber so sehr! Wenn unsere eigene kleine Magdalene nicht im Himmel wäre, so hätten wir jetzt auch zwei Töchter; an ihrer Stelle können wir wohl das Fräulein aufnehmen. Ihr Vater hat uns geholfen, weil das liebe, kleine Herzchen für uns gebeten hat; ohne sie hätten wir jetzt nichts, Vater, das laß uns nicht vergessen.«

»Wenn sie deine Tochter wäre, würde sie arbeiten, wie Anna, aber was kann solch eine Prinzessin leisten? Kaum die Ziegen melken oder die Hühner füttern. Ich sage dir, sie kostet uns Geld und bringt nichts ein, und dabei ist nicht einmal ein Ende abzusehen! – Aber was ist das?« setzte er ganz erstaunt hinzu.

Vom Hohlwege her kam ein Bauer auf den Hof zu, der eine große, rote Kuh am Strick führte; das Tier brüllte zufrieden, als ob es wüßte, daß es am Ziel seiner Reise sei. Katharina mußte es auch gesehen haben, denn sie kam eilig aus dem Hause und rief: »Magdalene, Magdalene, wo bist du? Da kommt Klaudine!«

Das junge Mädchen ging um das ganze Haus herum und kam erst von der andern Seite herbei, so daß sie schon die ganze Familie um die Kuh versammelt fand. Alle waren entzückt über das schöne Tier; der alte Jakob betrachtete es mit zufriedenem Kennerblick, Michel schlug es energisch auf den Rücken, was eine Liebkosung bedeuten sollte, Monika kraute ihm die Stirn, Anna und Ludwig brachten ihm Hände voll Salz, und alle um die Wette rühmten seine Größe und Schönheit. Katharina wollte der Kuh Futter holen, aber der Bauer, der sie hergeführt hatte, meinte, sie brauchte nichts, sie habe unterwegs genug gefressen und bedürfe nur der Ruhe. »Es ist eine Prachtkuh!« sagte er, »von Questembert bis hierher habe ich nichts als Lobsprüche über sie gehört. Das Fräulein hat wirklich das große Los gewonnen.«

Magdalene trat hinzu; die Worte, die sie erst belauscht, klangen ihr noch im Ohre nach und beunruhigten sie nicht wenig, aber der alte Jakob trat ganz ehrerbietig zur Seite und nahm seine Mütze ab: für ihn war sie als Besitzerin einer Kuh eine ganz andere Person als vorher. Das junge Mädchen streichelte dankbar Klaudinens rotes, glattes Fell und erkannte nun erst die Bedeutung ihres Lotteriegewinnes. Bis zum Schlafengehen sprach man im Hofe nur von der schönen, neuen Kuh.

Magdalene war so müde, so zerschlagen von der Reise und all den heftigen Gemütsbewegungen, daß sie trotz ihres Kummers in tiefen Schlaf versank und erst am andern Morgen aufwachte. Als sie die Augen aufschlug und in der trüben Dämmerung die nackten Mauern und armseligen Möbel ihrer Stube erblickte, glaubte sie sich noch immer von einem häßlichen Traum befangen, aber bald erkannte sie nur zu deutlich, daß sie nicht mehr träume, denn unter ihr war es schon lebendig, die Frauen kamen und gingen, und die scheltende Stimme des alten Tregan war deutlich vernehmbar. Sie war also wirklich im Schlosse Doué – für wie lange, und was sollte sie hier anfangen? Das arme Kind wußte es nicht, aber eins war ihr traurig klar: daß ihr Leben völlig verändert sei, daß all ihre früheren Bestrebungen, Hoffnungen und Aussichten nur noch der Erinnerung angehörten. In der Welt, in der sie bisher gelebt, war kein Platz mehr für sie; man hatte ihr unbarmherzig den Rücken gewendet. Unter all den Verwandten, die oft genug die Börse oder den Einfluß ihres Vaters in Anspruch genommen hatten, war keiner, der seiner unmündigen Tochter eine hilfreiche Hand geboten hätte! Der einzige, der sich für ihr trauriges Schicksal interessiert hatte, war der ärmste von allen gewesen. Vor ihrem innern Auge tauchte die wunderliche Gestalt des Hauptmanns Bauqueur auf, die ihr früher einmal so unwiderstehlich komisch erschienen war, als er seinem Vetter Garay einen feierlichen Besuch gemacht hatte. Die Erinnerung rührte sie zu Thränen, und sie weinte eine lange Zeit; dann öffnete sie das Fenster und kühlte ihre heißen Augen in der frischen Morgenluft. Die Sonne stieg herauf, die Tröpfchen an den Zweigen funkelten wie Edelsteine in ihren Strahlen; die kleinen Vögel zirpten und flatterten auf den Hecken umher, um sich die letzten Beeren zu suchen; weiterhin folgten die Raben der Spur des Pfluges und des Ochsengespanns auf dem Brachfelde und pickten aus den frischen Furchen ihre Nahrung auf.

Unten auf dem Hofe gackerten die Hühner, der Hahn warf sich stolz in die Brust, wiegte seinen goldig glänzenden Schweif und ließ sein Kikeriki ertönen; vom Teiche her klang das Geschnatter der Enten und das Geräusch der Wäscheschlägel, und von Zeit zu Zeit mischte sich das Blöken der Schafe oder das dumpfe Brüllen einer Kuh wie eine tiefe Baßnote in dies Stimmengewirr. Alles atmete Frieden und Ruhe! Wäre Magdalene noch das glückliche Kind von früher gewesen, wäre sie nur zu ihrem Vergnügen nach Schloß Doué gekommen, dann hätte sie dies harmlose Bild reizend gefunden, dann wäre sie herabgeeilt und hätte mit wahrer Lust geholfen, die Kühe zu melken und das Federvieh zu versorgen. Aber sie war zu unglücklich, um den stillen Reiz der ländlichen Umgebung zu würdigen, und der heitere Friede der Natur bildete einen zu grellen Kontrast gegen die trübe Stimmung ihrer Seele – schmerzlich bewegt schlug sie das Fenster zu.

Bei diesem Ton erhoben sich drei Köpfe, um heraufzusehen; Mutter Monika, Katharina und Anna saßen auf der Schwelle und bereiteten das Futter für die Schweine und Hühner vor.

»Sie ist aufgewacht!« sagte Anna.

»Es ist auch Zeit,« brummte die Alte, »das ist auch so eine Prinzessinnen-Angewohnheit, bis an den hellen Morgen zu schlafen!«

»Ich will einmal sehen, wie es ihr geht,« sagte Katharina schnell.

»Ja, und bringe ihr doch gleich ihr Frühstück ans Bett,« höhnte Monika. »Du hast sie hergebracht, dein Mann will sie behalten, weil ihr Vater uns vor langer Zeit einmal etwas Geld geliehen hat – ich denke, damit ists genug, und du brauchst sie nicht noch zu bedienen. Kann sie nicht leben wie wir? Wir sind doch auch keine Hunde!«

»Hab' nur ein bißchen Geduld, Mutter, sie wird sich schon gewöhnen …«

Katharina ließ der Alten keine Zeit zu weiteren Reden, sie stieg die Treppe hinauf und klopfte an Magdalenens Thür. Ihr gutes Gesicht glänzte von Zärtlichkeit, als sie das junge Mädchen begrüßte und küßte; sie fragte sie teilnehmend, ob sie gut geschlafen habe, ob das Bett bequem gewesen sei, ob sie sich auch wohl fühle, und bot ihr etwas zögernd an, ihr Milch und Klöße, die sie ihr verwahrt habe, heraufzubringen. Magdalene dankte; sie hatte zwar Monikas Scheltworte nicht gehört, aber sie fühlte, daß sich das nicht für sie passe, sie wollte lieber herunter kommen und am Feuer frühstücken.

»Du hättest mich wecken sollen,« sagte sie, »denn ich bin jetzt deine Tochter wie Anna.« Die Worte brachten sie zu Thränen, sie fühlte so lebhaft, daß sie jetzt niemandes Tochter mehr sei, aber sie faßte sich und sagte nur leise: »Mein armer, lieber Vater!«

Michel war nicht mehr zu Hause, als sie herunterkam, er arbeitete auf dem Felde und hatte Ludwig mitgenommen, der wenigstens die Ochsen durch seinen Gesang antreiben konnte. Der alte Tregan saß unter dem überhängenden Mantel des Herdes und wärmte seine Füße an dem spärlichen Feuer; er erwiderte den Gruß des jungen Mädchens kaum, und seine Frau folgte seinem Beispiel. Anna war höflicher; sie nahm die Milch vom Feuer, goß sie über das geschnittene Schwarzbrot und sagte, indem sie die geblümte Schüssel vor Magdalene hinsetzte: »Das ist Klaudinens Milch.« Es that dem armen Kinde wohl, zu denken, daß wenigstens die Milch ihr eigen sei und obgleich das Brot hart und die Klöße auch kein Leckerbissen waren, so aß sie doch mit gutem Appetit. Das Frühstück war von dem in ihrem Vaterhause weit verschieden, aber mit fünfzehn Jahren ißt man, was einem geboten wird, wenn man Hunger hat.

.

»Das ist Klaudinens Milch«

Während sie aß, blickte sie um sich. Der Raum, in dem die Familie sich aufhielt, diente zugleich als Küche und Eßzimmer, auch schliefen die beiden Alten und Ludwig darin. Jetzt waren die Betten in ihre Schränke geschlossen, der Fußboden gefegt, die Möbel abgestäubt; es war zwar nicht die Sauberkeit einer städtischen Wohnung, aber für ein Bauernhaus in der Bretagne sah es reinlich und ordentlich genug aus. Mutter Monika saß am Fenster und spann, ihr Mann, der nichts mehr thun konnte, rauchte seine Pfeife; Katharina packte ein Bündel Wäsche ein, während ihre Tochter die übrigen Gerätschaften zum Waschen zusammentrug. Ehe die beiden Frauen das Haus verließen, wandte sich Katharina um und sagte zu Magdalene: »Laß dir die Zeit nicht lang werden, mein Herzchen, wir gehen an den Doué und kommen zu Mittag zurück.«

.


 << zurück weiter >>