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Er betrachtete sein Werk als vollendet.

Einundzwanzigstes Kapitel.
Ludwigs Plan.

So arm an Geist, und doch an Lieb' so reich!
O Einfalt! was kommt deiner Treue gleich?

Katharina hatte ihren Sohn ganz richtig beurteilt: Magdalene übte, ob in seiner Nähe oder von ihm entfernt, einen wunderbaren Einfluß auf Ludwig aus. Der arme Knabe hatte geglaubt, sie für immer verloren zu haben, denn wenn er auch noch täglich dem vorüberfahrenden Omnibus auflauerte, so geschah es doch mehr aus alter Gewohnheit, als in der wirklichen Hoffnung, sie wiederzufinden. Aber Lorenz' Bericht zeigte seinen Träumen plötzlich eine greifbare, lebendige Wirklichkeit: Magdalene lebte und war gesund; sie wohnte in der Stadt Ancenis bei Frau Reichmann; Lorenz hatte einen gesehen, der sie kannte und Briefe an sie schrieb. Hätte er selbst nur schreiben können, wie schnell würde er sie gebeten haben, zurückzukehren! Aber er konnte gehen und sie suchen; er wanderte oft den ganzen Tag auf den Feldern umher, und wenn er viele Tage lang weiter ging, mußte er doch endlich nach Ancenis gelangen. Er beschloß also, sich auf die Reise zu machen und Magdalene nach Schloß Doué zurückzuführen. Aber wo sollte sie dort wohnen? Anna und Peter Kado brauchten die rote Stube für sich und ihr Kind, für jene war also kein Platz vorhanden. Als Ludwig mit seinen Gedanken an diesem Punkt angekommen war, überfiel ihn eine tiefe Traurigkeit, die mehrere Tage dauerte; aber Liebe und Sehnsucht lehrten ihn, weiter zu denken. Magdalene besaß Felder, Wiesen, zwei Kühe, denn Klaudinens Tochter gab schon ebensoviel Milch wie sie selbst; warum sollte sie nicht auch ein Haus besitzen? Der Knabe beschloß, eins für sie zu bauen; sobald er damit fertig wäre, wollte er nach Ancenis gehen und sie abholen. An eine Einrichtung, an Möbel und dergleichen dachte er nicht; sein Geist war nicht klar genug, um so viele Ideen auf einmal zu fassen.

Ganz von seinem Plan erfüllt, ging er zuerst daran, einen Platz zu wählen, und er traf keine schlechte Wahl. Zwischen dem Abhang, auf dem das Getreide so schön gedieh, und dem Gehölz, das allmählich zu einem wirklichen Wäldchen heranwuchs, lag ein kleiner Streif Landes, der noch nicht urbar gemacht war. Ludwig riß die Ginsterbüsche aus, säuberte die Stelle, so gut er konnte, von den Wurzeln und trug die großen Steine ab, von denen er nur einen liegen ließ, zunächst weil es über seine Kräfte ging, ihn fortzuschaffen, dann aber auch, weil er groß und hoch genug war, um eine Seite des Hauses zu bilden.

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Seine nächste Sorge war darauf gerichtet, sich die nötigen Bausteine zu verschaffen; er trug in seiner Bluse alle herbei, die er in der Nähe fand, aber sie genügten kaum zu einer der drei Mauern. Er dachte daran, von den Steinhaufen, die zur Ausbesserung der Landstraße zu beiden Seiten aufgeschichtet lagen, seinen Bedarf zu entnehmen – es fiel ihm auch nicht ein, daß das ein Unrecht sein und ihm Strafe zuziehen könne –, aber sie waren zu klein und zu unbequem. Nach langem Suchen und Sinnen fand er einen alten Steinbruch, in dem noch eine Menge loser Steine umherlagen; mit Hilfe einer alten Karre holte er sie herauf und machte so viele Fuhren damit, daß er oft erst bei sinkender Nacht todmüde im Schlosse ankam, was ihn nicht hinderte, am nächsten Morgen mit neuem Eifer ans Werk zu gehen.

Endlich hatte er Steine genug gesammelt und fing zu bauen an; er hatte oft den Maurern zugesehen und suchte es ihnen nachzumachen. Sein Mörtel war zwar nicht ganz kunstgerecht, die Steine lagen nicht genau nach der Schnur, aber er brachte doch etwas Mauerähnliches zustande, und mit Hilfe seiner Karre, auf die er stieg, wurde die Wand beinahe mannshoch, denn Magdalene sollte in ihrem Hause aufrecht stehen können. In der letzten Mauer ließ er Raum für eine Thür; an ein Fenster hatte er nicht gedacht, aber die Thür ließ auch Licht genug hinein, denn sie war ebenso hoch wie das ganze Haus. Aus ineinander geflochtenen Zweigen, Stroh und Heu stellte er ein Dach her, das dicht genug war, um den Himmel zu verdecken; einige alte Bretter, deren Spalten er sorgfältig mit trockenem Moos verstopfte, bildeten die Thür, die in notdürftigen Angeln hing und das Haus einigermaßen abschloß. Dann errichtete er in einer Ecke einen Sitz, häufte in der andern Moos und Heu auf, die als Lager dienen sollten, und betrachtete sein großes Werk als vollendet. Katharina, die einmal zufällig daran vorüberkam, geriet über Ludwigs Geschicklichkeit in wahres Entzücken, ohne seine Absicht auch nur im entferntesten zu durchschauen; sie betrachtete sein Gebäude nur als Spiel und Zeitvertreib.

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Jetzt galt es, Magdalene aufzusuchen, doch hütete er sich wohl, von seinem Plane zu sprechen, sondern ging mit dem Mißtrauen und der Schlauheit zu Werke, welche allen Wesen von beschränkter Geisteskraft eigen sind. Eines Morgens, als die erste Dämmerung kaum den Himmel erhellte, stand er geräuschlos auf, nahm seine Holzschuhe in die Hand, schnitt sich ein großes Stück Brot ab, das er in ein Tuch einwickelte, und verließ leise das Haus. Katharina wachte halb und halb auf, sie merkte, daß er hinausging, aber da er in der letzten Zeit immer früh aufgestanden war, so beunruhigte sie sich nicht darüber, sondern schlief wieder ein. Der Knabe schritt auf dem Wege nach Muzillac tüchtig fort; er kannte ihn und wußte, daß man von dort nach Nantes kommen könne. Doch schon nach kurzer Zeit kam ihm ein neuer Gedanke: wie, wenn man ihm folgte, ihn ausfragte, wohin er ginge, und es nicht zugeben wollte, daß er Magdalene hole? Die Großeltern und Anna liebten sie nicht, und Peter sprach immer genau wie seine Frau. Er erschrak über die Möglichkeit, daß man ihn an seiner Reise hindern könne, und schnell schlug er am nächsten Kreuzweg eine andere Richtung ein.

Ein glücklicher Zufall brachte ihn nach mehrstündiger Wanderung in einen Flecken, der ihm fremd war; er machte ihm den Eindruck einer großen Stadt, und er bildete sich ein, Ancenis schon erreicht zu haben. Als er sich nach jemand umsah, der ihm Auskunft geben könne, hörte er plötzlich wunderbare Töne, so als ob alle Dudelsackpfeifer der ganzen Bretagne sich vereinigt hätten; mit Erstaunen sah er auf einem andern Wege einen großen Haufen Menschen herankommen, die in dichte Staubwolken eingehüllt waren. Voran marschierte ein Trupp, den Ludwig genauer erkennen konnte, es waren Soldaten, welche auf verschiedenen Instrumenten spielten. Die Musik entzückte ihn, er hatte nie etwas Ähnliches gehört, denn die des Dudelsacks war bisher die einzige gewesen, die er kannte. Das Musikkorps zog an ihm vorüber, in kurzer Entfernung folgte ihm das Regiment; die Soldaten sahen müde und staubig aus, richteten sich aber strammer auf, um einen stattlichen Eindruck beim Einzuge in das Städtchen zu machen, wo Landleute und Straßenjungen Spalier bildeten und die Leute aus allen Fenstern hinabsahen. Die Jugend, welche nichts zu versäumen hatte, folgte den Soldaten in militärischem Schritt, und Ludwig schloß sich ihnen an.

Auf dem Marktplatze machte die Truppe halt; ein Teil empfing Quartierbillets und suchte sein Unterkommen bei den Einwohnern, ein anderer lagerte sich, um unter freiem Himmel abzukochen. Ludwig blieb bei diesen und betrachtete mit unendlichem Interesse die geschäftige Szene, die von Lachen und Scherzen begleitet war. Bald dampften die Kochtöpfe, und der Geruch erschien dem hungrigen Knaben, der heute nur ein Stück Brot gegessen und Wasser aus dem Bach getrunken hatte, höchst anlockend. Sein Gesicht sprach dies so lebhaft aus, daß ein Soldat, der eben seine Suppe ausgoß und die sehnsüchtigen Augen und den offenen Mund vor ihm gewahr wurde, ihm lachend zurief: »Das riecht gut, mein Junge, nicht wahr? Möchtest du auch davon essen?«

Ludwigs ganze Antwort bestand in seiner ausgestreckten Hand und dem strahlenden Gesicht, was die Heiterkeit des Kriegers noch vermehrte.

»Bist du stumm, Bursche? Wenn du essen willst, mußt du's verdienen. Singe uns etwas vor, ihr Bretonen könnt alle singen.«

Ludwig ließ sich nicht lange bitten, er warf die langen, blonden Locken zurück, die der Wind ihm ins Gesicht wehte, und sang mit seiner hellen, lieblichen Stimme:

»Hört mich, ihr Christen alle, und stimmet ein mit mir,
Sankt Michael, den Helden des Himmels, preisen wir.
Er trat mit kräft'gem Tritte dem Drachen auf das Haupt,
Der durfte ihn nicht beißen, ihm war die Kraft geraubt.
Dann stürzt' er von den Höhen hinab den bösen Feind
Bis in die tiefste Tiefe, wohin kein Sternlein scheint.
Und als er so bezwungen der Feinde Trotz und Hohn,
Warf er demütig nieder sich vor des Höchsten Thron:
›Du, Herr, hast mir gegeben die stolze Heldenkraft,
Dich bet' ich an, der Wunder durch meinen Arm geschafft.‹
Da sprach mit seiner Stimme, so stark wie Donnerschall,
Und doch so süß und lieblich wie Sang der Nachtigall,
Der Herr mit sanftem Lächeln: ›Steh' auf, du Kämpe mein,
Du sollst den Himmelsheeren ein starker Führer sein.
Mit deinem Arm von Eisen und demutsvoller Seel'
Hast du mir wohlgefallen, mein Diener Michael.
Und eine starke Rüstung sei dir fortan verliehn:
Dein Schwert soll heller blinken, als dort die Blitze sprühn.
Der Glanz von deinem Küraß beschämt der Sonne Schein,
Und strahlender, als beide, soll deine Schönheit sein.
So zieh den Himmelsscharen voran, du starker Held,
Dann suchen deine Hilfe die Krieger in der Welt.
Und wer am treusten rufet, dem hilf in heißer Schlacht,
Dann jauchzen sie: Sankt Michael hat uns den Sieg gebracht!‹«

»Bravo! bravo! kleiner Sänger!« riefen die Soldaten.

»Singe uns noch eins, mein Junge, dann erhältst du die doppelte Ration.«

Aber zuerst mußte Ludwig essen und mit Heißhunger verzehrte er den Inhalt des Gefäßes, das man ihm gereicht hatte. Sobald er fertig war, begann er wieder zu singen, um sich dankbar zu zeigen; die Soldaten waren nicht weniger großmütig und füllten seine Hände mit Brot und Obst, so daß er für mehrere Tage genug daran hatte. Als sie des Singens müde waren, wollten sie ihn zum Reden bringen, aber dabei stießen sie auf Widerstand; er wollte niemandem sagen, wohin er ginge, und antwortete kaum auf die Fragen. Plötzlich schlug der Name Ancenis an sein Ohr.

»Geht ihr nach Ancenis?« fragte er einen Soldaten.

»Ja, mein braver Bursche, willst du vielleicht in unser Regiment eintreten?«

»Kommt ihr noch heute dorthin?« fragte Ludwig weiter.

»Heute? Nein, das wäre nicht möglich; unsere Beine haben noch genug von dem Morgenmarsch. Heute putzen wir nur unsere Sachen, aber morgen früh, wenn's noch kühl ist, da brechen wir auf.«

»Nach Ancenis?«

»Nein, nach Redon; bis Ancenis ist's noch weit, denkst du, der Oberst will seine Leute zu Grunde richten? Zuletzt kommen wir auch nach Ancenis, aber weder morgen noch übermorgen. Wenn du dorthin willst, so brauchst du immer nur hinter uns drein zu marschieren.«

Der Soldat scherzte, aber Ludwig nahm die Sache sehr ernsthaft; es war ihm ganz recht, daß er künftig nicht mehr nach dem Wege fragen, sondern nur dem Regiment folgen dürfe. Er trieb sich den Tag über in der Stadt umher und legte sich abends in einen Graben an der Straße, die nach Ancenis führte, damit er am andern Morgen von den Tritten der vorüberziehenden Soldaten erweckt werde. Aber er war der erste, der sich vom Schlafe erhob; er rieb sich die Augen, dehnte die erstarrten Glieder, schüttelte den Tau von seinen Kleidern und lief nach dem Markt, in der zitternden Angst, daß er ihn leer finden könne. Aber seine guten Freunde waren noch da und bereiteten eben ihren Morgenkaffee; ohne auch nur ein Lied zu verlangen, reichten sie ihm einen Becher, der ihn angenehm erwärmte.

So gelangte Ludwig, von einem Tagemarsch zum andern, endlich mit dem Regiment nach Ancenis, wo er mit den leise gemurmelten Worten einzog: »Magdalene ist bei Frau Reichmann in der alten Wallstraße.«

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