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Lehrer und Schülerin gingen hinaus.

Fünfzehntes Kapitel.
Lehrer und Schülerin.

Er spricht zu dir so hell und klar,
Und alle deine Zweifel schwinden,
Doch wenn er geht, wo wirst du da
In deinen Nöten Hilfe finden?

Er ist so zart, so treu gesinnt,
Ihm liegt dein Wohl so warm am Herzen;
Und wenn er geht, du armes Kind,
wie wirst du den Verlust verschmerzen?

Als die Ernte beendet, das Stroh in einen haushohen Schober getürmt und das Getreide im Speicher aufgeschüttet war, dachte Magdalene, welche mit Aufbietung all ihrer Kräfte bei den Arbeiten geholfen hatte, wieder an ihre Studien. Sie wagte nicht, Lorenz an sein Versprechen zu erinnern, aber es bedurfte dessen auch nicht, denn als er sie zum erstenmal mit einem Buch in der Hand fand, trat er sofort mit der Anfrage an sie heran, ob sie seiner bedürfe. Mit dem Eifer und der Sicherheit eines gewiegten Professors begann er seinen Unterricht, und sie war über seine Art und Weise nicht wenig erstaunt: so kurz und klar war er in seinen Erklärungen, so genau erriet er alle Punkte, die ihr Schwierigkeiten machten. Dank seiner Hilfe klärte sich die Dunkelheit, welche bisher die Rechenaufgaben bedeckt hatte, allmählich auf, und als er sah, daß es ihr förderlich sein konnte, prüfte er sie auch in Geschichte, Geographie und Grammatik, brachte Ordnung in ihre Kenntnisse und Klarheit in ihre Begriffe. Wenn diese Stunden im Hause stattfanden, so hatten die beiden einen Kreis erstaunter Zuhörer um sich; Michel, Katharina, selbst die alten Tregans hörten mit Bewunderung zu und begriffen nicht, wie menschliche Köpfe so vieles beherbergen konnten. Aber öfter noch gingen Lehrer und Schülerin hinaus und saßen im Gemüsegarten unter den mit lachenden Früchten bedeckten Obstbäumen oder auf der Wiese im Schatten einer Eiche oder eines Dornbusches. Dort hatten sie keinen andern Zuhörer als Ludwig, der ihnen überall folgte und mit träumerischem Ausdruck lauschte, ohne je ein Wort zu sagen. Mit Erstaunen hörte Magdalene eines Tages seine Stimme auf einem verborgenen Plätzchen hinter dem Taubenschlage ertönen; sie schlich leise näher und sah den Knaben auf einem Stein sitzen, die große Katze auf dem Schoße haltend, der er in zusammenhängenden Sätzen die Geschichte von den Kindern Clodomirs erzählte. Sie hörte lange zu und überzeugte sich, daß er von dem, was er mit angehört, alle tragischen und poetischen Züge aufgefaßt hatte; zuweilen vermischte er mehrere Erzählungen oder flocht auch Personen aus seinen Legenden ein. Sie erzählte Lorenz, welche Früchte Ludwig aus ihren Unterrichtsstunden ernte.

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»Der liebe Junge!« sagte er lächelnd. »Gott hat ihm das helle Licht der Vernunft versagt, aber dennoch hat er ihm die Mittel verliehen, um durchs Leben zu kommen. Wenn er schwere Arbeit nicht leisten kann, so wird er von Ort zu Ort ziehen, seine Lieder und Legenden singen, und ein wandernder Sänger kann in der ganzen Bretagne eines freundlichen Empfanges sicher sein. Wer weiß, ob nicht nach hundert Jahren die Gelehrten, welche unsere volkstümlichen Überlieferungen studieren, mit Erstaunen die historischen Züge darin finden werden, die Sie jetzt zu Ihrem Examen wiederholen; vielleicht werden sie dicke Bände voll geistreicher Untersuchungen über diesen Punkt schreiben, und das alles, weil ein armer, einfältiger Knabe sie in bretonische Verse gebracht hat.«

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Magdalene fand diese Idee sehr hübsch und originell, fühlte sich aber etwas verletzt, daß auch Lorenz seinem Bruder so leicht das Los eines Bettlers zuerkannte; sie konnte nicht umhin, ihm das auszusprechen.

»Was nennen Sie einen Bettler?« versetzte Lorenz lebhaft. »Ein Bettler ist doch nur der, welcher ein Almosen empfängt, ohne etwas dagegen zu geben, aber Jean Kerlo, der singen und erzählen kann und dafür gastfreundliche Aufnahme, eine Mahlzeit oder ein Kleidungsstück als Bezahlung annimmt, ist keiner. Haben Sie nicht in den großen Städten Leute, welche singen, die Flöte oder Violine spielen, Vorträge halten und dafür sehr hoch bezahlt werden? Das eine ist im großen ganz dasselbe wie das andere im kleinen, denn der Arme schätzt seine Künstler ebenso hoch wie der Reiche.«

Magdalene konnte hierauf nichts erwidern; sie fand, daß Lorenz manchmal wunderliche Ansichten habe, aber es war ihr darum nicht weniger interessant, sich mit ihm zu unterhalten – war er doch der einzige im Hause, der die Sprache der gebildeten Welt mit ihr redete, der die Interessen ihres frühern Lebens mit ihr teilte. Er wußte viel mehr als sie, wenigstens in allen Dingen, die man aus Büchern lernen kann, aber dafür war sie ihm in allen Fragen der Kunst überlegen. Das Geschichtsbuch, das sie zu ihrem Studium benutzte, gab am Ende jedes Abschnittes einen kurzen Abriß über den Fortschritt der Künste; das war für Lorenz nur ein Verzeichnis toter Namen, denn er hatte nichts aus diesem Gebiete gesehen, während Magdalene das Museum in Nantes häufig in Gesellschaft ihres Vaters besucht, kleine Reisen gemacht, einige Denkmäler und viele Abbildungen gesehen hatte. Hierin konnte sie ihn belehren, und Lorenz hörte ihr mit gespannter Aufmerksamkeit zu; er suchte in seiner Erinnerung nach Beispielen für das, was sie erzählte: manch altes Haus oder ein Kirchturm, ein Kreuzesberg mit altertümlichen Figuren, ein verräuchertes Gemälde im Gewölbe einer alten Kirche tauchten vor seinem geistigen Auge auf und verklärten sich in der neuen Beleuchtung zu ungeahnter Schönheit. Dann ging es wie ein Sonnenstrahl über sein Gesicht, er hatte die Sache erfaßt und erklärte Magdalenen, daß er ähnliches gesehen und in seiner Seele bewahrt habe, obgleich ihm niemand gesagt und er selbst nicht gewußt habe, daß es schön sei. Das junge Mädchen war mit ihrem Schüler ebenso zufrieden wie mit ihrem Lehrer und dachte nicht mehr daran, ihr Leben trübselig und einförmig zu finden.

Die zwei Ferienmonate vergingen wie im Fluge, und es erschien Magdalene, als erwachte sie aus einem lieblichen Traume, als sie eines Tages gewahr wurde, daß Katharina die Winterkleider für Lorenz aus der Truhe nahm und alles für seine Abreise rüstete. Als sie hörte, daß er schon morgen wandern wolle, kam es ihr vor, als würde er ihre ganze Weisheit mit sich nehmen, und da sie fürchtete, durch ein weinerliches Gesicht ihre Gedanken zu verraten, so flüchtete sie in den Garten, um sich zu fassen: in diesem Augenblick wäre sie nicht imstande gewesen, ihr Einmaleins richtig herzusagen.

Sie war kaum zehn Minuten dort, als Lorenz erschien. »Ich suchte Sie eben, Fräulein Magdalene,« sagte er, »ich möchte Ihnen etwas zeigen, wollen Sie mit mir kommen? Aber was ist Ihnen, Sie sind doch nicht krank?«

»Nein, das nicht, Lorenz, aber als ich von Ihrer Abreise hörte, überfiel mich eine Todesangst. Ich weiß nicht, ob ich ohne Ihre Hilfe durch das Examen kommen werde – und wenn ich durchfalle, was dann?«

»Es hat keine Gefahr damit, Sie brauchen mich jetzt sicher nicht mehr! Ich will heute auch nicht mehr von Exempeln reden, obgleich es sich um Kaufen und Verkaufen handelt. Kommen Sie nur mit.«

Sie folgte ihm, und er führte sie weit hinaus, zwischen ihr liebes, kleines Gehölz, in dem sie ihn schlafend gefunden, und den Bach, der unten im Thal durch die Wiese plätscherte. Dort wies er auf ein frisch geackertes Stück Land und sagte: »Begrüßen Sie diesen Acker als Ihr Eigentum, Fräulein Magdalene, er ist mit Ihrem Gelde gekauft und bezahlt.«

»Mein Eigentum, Lorenz?« rief sie, »Sie treiben Ihren Scherz mit mir! Ich habe kein Geld, wie kann ich etwas kaufen? Was wollen Sie damit sagen?«

»Ich dachte wohl,« versetzte er lachend, »daß Sie sich wundern würden, aber hören Sie nur zu. Sie erinnern sich des Kalbes der Klaudine?«

»Gewiß, es hat noch heute früh aus meiner Hand gefressen – o, jetzt verstehe ich, mein armes Tier! – Lorenz, das haben Sie mir doch nicht angethan – Sie haben es doch nicht an den Fleischer verkauft?«

»Nein, nicht an den Fleischer, das hätte Ihnen zu weh gethan. Wir haben es an Vater Flobert verkauft; er wird es aufziehen, denn er hat noch kein Tier dieser Rasse und hat es gut bezahlt. Von diesem Gelde haben wir das Stückchen Land gekauft; ich habe es so weit bearbeitet, wie Sie hier sehen, das übrige bleibt als Wiese liegen. Klaudine wird diesen Winter Ihr Heu fressen, denn die Wiese ist gut und wird ein vortreffliches Grummet geben.«

»Und was soll aus dem geackerten Stück werden?« fragte Magdalene, deren Augen bei dem Gedanken an einen eigenen Besitz vor Vergnügen blitzten.

»Sie erinnern sich Ihrer Garbe, nicht wahr?«

»Jawohl, und was ist aus dem Korn geworden, das ich Ihnen geben mußte?«

»Noch nichts; ich habe das kleine Feld nur urbar machen können, aber mein Vater wird die Furchen ziehen und Ihr Getreide darauf aussäen. Verstehen Sie nun? Der Boden und sein Ertrag gehört Ihnen allein.«

»Guter Lorenz! Wie sind Sie nur auf diese reizende Idee gekommen?«

»Vielleicht wollte ich Ihnen dadurch Liebe für meinen heimischen Boden einflößen! oder vielmehr ich sagte mir: Fräulein Garay leidet unter der Verbindlichkeit, die sie uns schuldig zu sein glaubt, aber wenn sie eine Kuh, ein Getreidefeld und eine Wiese besitzen wird, so kann sie von ihrem eigenen Besitz leben und wird von jeder drückenden Dankbarkeit gegen uns befreit sein.«

»Aber ich will mich nicht davon befreien!« rief Magdalene unter Thränen, »und wenn ich Millionen besäße, so würde meine Dankbarkeit immer dieselbe bleiben; ich leide auch nicht darunter, denn ich liebe Ihre Eltern! Sie sagen mir harte Dinge, Lorenz, und nach all der Mühe, die Sie sich um mich und meine Studien gegeben, dachte ich doch, daß Sie mein Freund wären!«

»Verzeihen Sie mir, Fräulein Magdalene, ich wollte Sie nicht kränken! Ich weiß nicht, wie sich Ihr Leben gestalten wird, wenn Sie Ihr Examen glücklich bestanden haben; ich wünsche Ihnen von Herzen alles Gute. Aber wenn Sie jemals des Lebens draußen müde werden, wenn Sie sich je nach der Ruhe einer ländlichen Umgebung sehnen, dann denken Sie daran, daß Sie hier in der Bretagne einen Platz besitzen, der Ihnen gehört; so klein er ist, so bietet er doch eine sichere Zufluchtsstätte, und mit der Zeit wird er größer werden. Sie sehen, daß wir die besten Absichten dabei hatten.«

»O ja, ich weiß es, haben Sie tausend Dank dafür, lieber, guter Lorenz! Bewahren Sie mir ein gutes Andenken – wir scheiden als treue Freunde, nicht wahr? Und was denken Sie nun zu thun?«

»Ich werde mein Studium vollenden, und dann – nun, ich habe noch ein Jahr zur Überlegung vor mir. Ich werde schon irgend einen Platz für mich finden – ich brauche nicht viel zum Leben.«

Am nächsten Morgen nahm Lorenz Abschied von Schloß Doué.

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