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»Mein Liebling! mein kleines Mädchen!«

Viertes Kapitel.
Ein Hauptgewinn.

Du arme Waise, zage nicht,
Es sorgt für dich ein treuer Gott.
Er hält gewiß, was er verspricht,
Und schickt dir Freunde in der Not.

Magdalene konnte einen tiefen Seufzer nicht unterdrücken, aber niemand beachtete ihn, denn eben öffnete sich die Thür, ein Geräusch von derben Schritten ließ sich hören, und eine kräftige Stimme rief: »Wo ist mein armes, geliebtes Kind? Verzeihen Sie, meine Herrschaften, ich suche meine kleine Magdalene; ich bin ihre Amme gewesen und auf die Nachricht ihres Unglücks herbeigeeilt; das arme Lämmchen hat ja keine Mutter mehr, da muß ich ihr wenigstens beistehen. Bitte, sagen Sie mir, wo sie ist, liebe Dame; sie ist doch nicht ertrunken? Sie ist doch ganz gewiß aus dem Wasser gezogen?«

Katharina hatte ihre Frage an Frau Burdelau gerichtet, welche ihr die hervorragendste Persönlichkeit zu sein schien, aber diese wendete ihr stolz den Rücken. Der Notar erklärte der Bäuerin die Lage der Dinge, doch konnte sie schwer begreifen, daß ein Mann, wie Herr Garay, der ein so schönes Haus und so feine Sachen besessen, seine Tochter ohne alle Mittel zurückgelassen haben sollte. Aber noch weniger begriff sie, daß all diese vornehmen Leute einer armen Waise, die mit ihnen verwandt war, nicht Obdach und Unterhalt gewähren wollten.

»Sie haben alle kein Herz in der Brust, trotz Ihrer schönen Kleider,« rief sie erzürnt. »Ich bin nur eine schlichte Bäuerin und kann nicht einmal lesen, aber ich will das arme Kind gern zu mir nehmen und mein Brot mit ihm teilen. Wo ist sie nur? Ich möchte sie so gern aus der Nähe dieser bösen Menschen fortbringen!«

Magdalene erhob sich, die Laute dieser wohlbekannten Stimme beruhigten plötzlich den wilden Sturm in ihrer Brust, sie vergaß alles Beschämende, Demütigende ihrer Lage und empfand nur noch eine tiefe Verachtung gegen diese elenden Egoisten. Sie schlug den Vorhang zurück, trat ins Zimmer und rief mit zitterndem Tone: »Katharina!«

Die Bäuerin wandte sich schnell nach ihr um und lief auf sie zu; sie nahm sie in ihre Arme, bedeckte ihre Wangen, ihre Haare, ihre Hände mit zärtlichen Küssen und rief unter Lachen und Weinen: »Mein Liebling, mein kleines Mädchen! Wie groß und schön bist du geworden! Ein wenig blaß, das macht der Kummer und die schlechte Luft in den Straßen; bei uns wirst du bald rote Backen bekommen! Geschwinde, packe deine Sachen ein, ich nehme dich mit mir, wie will ich dich lieben, und Michel wird es auch thun – – das heißt, wenn du Lust hast, mitzukommen, aber das wirst du deiner alten Amme doch nicht abschlagen. Früher hattest du uns lieb, und es würde mir solch eine Freude sein!«

Katharina bedachte plötzlich, daß das junge Mädchen vielleicht noch nichts von seiner Armut wüßte, und statt ihr den Aufenthalt auf Schloß Doué als einen Zufluchtsort in der Not anzubieten, bat sie sich ihr Kommen als eine Gefälligkeit aus. Aber Magdalene wußte alles und konnte das Zartgefühl ihrer einfachen Freundin vollkommen verstehen; sie legte den Arm um ihren Hals und blickte stolz auf die Mitglieder des Familienrates, die sich bei ihrem Erscheinen erschrocken erhoben hatten und mit etwas kläglichen Gesichtern dreinschauten.

»Sie war dort im Kabinett!« sagte Aristides halblaut in großer Verwirrung.

»Was geht es dich an!« versetzte seine Mutter, »schweige du nur ganz still.«

»Glauben Sie, daß sie irgend etwas gehört hat?« flüsterte Frau Reichmann ihrem Nachbar ins Ohr.

»Wahrscheinlich alles,« gab er achselzuckend zurück.

Fräulein Himberg suchte ihre magere Gestalt hinter dem mächtigen Rücken der Frau Burdelau zu verbergen. Der Hauptmann sagte nichts, er betrachtete Katharina und Magdalene mit gerührten Blicken, in seinem Gesicht zuckte eine starke Bewegung, und sein grauer Schnurrbart verschwand fast ganz zwischen seinen Lippen.

Magdalene schritt mit hocherhobenem Haupt zwischen ihnen durch, dem Hauptmann reichte sie die Hand, ohne ein Wort zu sagen. Er ergriff sie vorsichtig, als fürchtete er, sie zu zerbrechen, und beugte seinen Kopf darüber, um sie zu küssen; er hätte gern ein paar tröstende Worte zu der Waise gesagt, aber Beredsamkeit war nicht seine Sache, und er fürchtete, von seiner Rührung überwältigt zu werden, was sich für einen alten Soldaten doch nicht geschickt hätte. Erst als Magdalene das Zimmer verlassen hatte, wendete er sich wieder an den Notar.

»Mein Herr,« sagte er, »Sie scheinen ein redlicher Mann zu sein und verstehen sich auf Geldgeschäfte. Thun Sie Ihr Bestes; ich denke, wenn all diese Sachen verkauft werden, muß doch etwas für die Kleine übrig bleiben. Was den Kaffee, den Likör und vielleicht auch die Pfeife betrifft, so bleibt es bei dem, was ich gesagt habe.« Er grüßte den Notar mit geflissentlicher Höflichkeit, drehte sich kurz um und verließ, ohne sich von der übrigen Gesellschaft zu verabschieden, das Zimmer.

Unterdessen kniete Katharina vor einem großen Koffer und faltete sorgfältig die Wäsche und Kleidungsstücke zusammen, die Magdalene ihr zureichte, wobei sie fortwährend sprach, um die kummervollen Gedanken der Waise zu zerstreuen. Ein Mädchen kam, um zu melden, daß jemand das Fräulein zu sprechen wünsche. »Es ist ein Kind aus der Armenschule,« sagte sie, »es scheint, daß Fräulein Magdalene ein Los in der Lotterie gewonnen hat; der Junge will es selbst abgeben.« Magdalene folgte dem Ruf; als sie zurückkam, lachte sie, brach aber gleich darauf in Thränen aus.

»Es lacht sich schlecht mit Kummer im Herzen!« klagte sie, »und doch konnte ich mir nicht helfen! wenn du wüßtest, Katharina, was ich gewonnen habe!«

»Was ist es denn?«

»Sieh hier das Los: eine Milchkuh! Was soll ich wohl mit einer Kuh anfangen?«

»Eine Kuh, mein Herzchen? Das ist ja ein wahres Glück! Wie prächtig, daß du gerade eine Kuh gewonnen hast! Ich glaubte, man könnte nur Stutzuhren in solch einer Lotterie gewinnen, die sind zwar schön anzusehen, aber sie bringen nichts ein. Aber eine Kuh, das ist eine ganz andere Sache! Wo kann man sie bekommen?«

»Hier steht die Adresse, es ist nicht weit von hier. Sie ist erst am Tage der Ziehung direkt vom Lande hereingebracht worden.«

»Ich will mich gleich danach umsehen. Eine Milchkuh! Kind, sei getrost, es wird alles gut werden; der liebe Gott selbst erbarmt sich deiner und sendet dir dieses Glück!«

Magdalene konnte die Begeisterung der wackern Bäuerin zwar nicht ganz begreifen, doch war sie froh, jene so befriedigt zu sehen, und gab sich Mühe, den wortreichen Schilderungen, die Katharina bei ihrer Rückkehr entwarf, mit Interesse zu folgen. Die Kuh war jung und kräftig; sie hatte sie sofort gemolken, um sich von ihren Eigenschaften zu überzeugen, ihre Milch war die reine Sahne gewesen! Solch eine Kuh war ein Schatz! Sie hatte sie gleich auf den Bahnhof gebracht, damit sie mit demselben Zuge, wie die beiden Frauen, abreisen könne; in Questembert fände man gewiß einen Bekannten, der sie in seine Obhut nähme, denn dem Omnibus konnte sie freilich nicht folgen. Katharina besuchte Klaudine auf jeder Station – die Kuh hieß nämlich Klaudine, weil sie am Tage des heiligen Klaudius geboren war.

Am nächsten Morgen hielt der Omnibus wieder am Eingang des Hohlweges still, Magdalene stieg mit ihrer Begleiterin aus; beide waren müde und matt von ihrer nächtlichen Reise. Das junge Mädchen betrachtete wehmütig die Felder und Hecken, die kahlen Baumgruppen und die bläulichen Rauchwolken, die sich hier und da emporkräuselten, und Erinnerungen an ihre glückliche Kindheit stiegen in ihrer Seele auf. Damals war ein Besuch auf dem Bauernhof immer ein Vergnügen gewesen; sie hatte diesen Weg an der Hand ihres Vaters unter Lachen und Scherzen zurückgelegt; sie war bald hier, bald dahin gesprungen, um Beeren und Blumen zu pflücken, und hatte sich den frohen Empfang im Hause schon im voraus ausgemalt. Nun war alles anders geworden; so sehr ihr Stolz sich dagegen sträubte, so mußte sie es sich doch eingestehen, daß sie als Bittende nach Schloß Doué käme. Früher hatte sie jedesmal reiche Geschenke mitgebracht, es hatte sie gefreut, unter diesen einfachen Leuten wie eine wohlthätige Fee auftreten zu können – jetzt sollte sie selbst die Empfangende sein, und was sie erbat, war die wirkliche Notdurft des Lebens, das tägliche Brot, das man ihr vielleicht noch mißgönnen würde, denn Katharina war ja nicht allein in ihrem Hause. Das arme Kind hatte während der langen Nachtfahrt Muße gehabt, seine Lage zu überdenken und sich all das klar zu machen, was sie gestern mit angehört hatte. Wenn ihr auch der Notar vor ihrer Abreise Mut zugesprochen und sie damit getröstet hatte, daß der Verkauf der Sachen leicht mehr einbringen könne, als man jetzt denke; wenn er ihr auch den Aufenthalt auf dem Lande als eine vorübergehende Notwendigkeit dargestellt hatte, der bessere Zeiten folgen würden: sie wußte es doch nur zu gut, daß sie ohne Mittel sei und von den Wohlthaten anderer leben mußte. Sie hatte alle ihre Bücher mitgenommen und wollte tüchtig studieren; in einem Jahre konnte sie vielleicht ihr Examen machen und eine bescheidene Stelle als Lehrerin annehmen. Das Herz sank ihr bei diesem Gedanken – mit wie anderen Erwartungen hatte sie früher ins Leben gesehen!

Dennoch wollte sie dies Los mutig auf sich nehmen, Gott hatte es ihr auferlegt, und sie wollte ihm nicht widerstreben. Aber bis sie imstande war, für sich selbst zu sorgen, lag noch ein Jahr vor ihr, und wenn man jung und unglücklich ist, erscheint die Zeit so endlos lang – wie würde sich dies Jahr für sie gestalten? –

Bei ihrem Eintritt in das Haus hätte sie freilich glauben können es sei alles noch, wie es gewesen; der alte Jakob erhob sich und hieß sie willkommen, Mutter Monika warf eine Hand voll Reisig ins Feuer, damit es heller brenne, Anna wischte mit dem Zipfel ihrer Schürze einen Schemel ab und schob ihn der Ermüdeten hin, und Michel, der draußen arbeitete, kam angelaufen, so schnell es ihm seine Holzschuhe erlaubten. Er küßte seine Frau auf beide Backen und bat Magdalene um Erlaubnis, ihr in seiner Eigenschaft als Pflegevater ein gleiches thun zu dürfen; dann betrachtete er sie, stieß einen tiefen Seufzer aus und stammelte errötend: »Arme Kleine – armes Fräulein – Sie sind ja Ihrer Amme schon über den Kopf gewachsen! Im Namen des ganzen Hauses danke ich Ihnen, daß Sie zu uns gekommen sind – es ist eine große Ehre für uns – wir können nicht viele schöne Worte machen, aber wir wollen Sie alle herzlich lieb haben – mehr kann ich nicht sagen – –«

Magdalenens Herz that sich weit auf bei diesem freundlichen Empfange; sie erwiderte Michels Liebkosungen so warm, wie zu der Zeit, wo sie als Gast im Bauernhof gewesen und ihn Papa Michel genannt hatte. Die heiße Milch, die Anna ihr brachte, und das flackernde Feuer erwärmten sie allmählich, und als sie sich etwas gestärkt fühlte, war sie bereit, auf Michels schüchtern vorgebrachte Erkundigung, wie es denn eigentlich bei dem Schiffbruch zugegangen sei, ausführliche Antwort zu geben. Sie schilderte den dichten Nebel, in dem kein Leuchtfeuer zu sehen gewesen, das furchtbare Getöse, mit welchem der große Dampfer in voller Geschwindigkeit auf sie zugekommen, den darauf folgenden Krach, das Entsetzen der Passagiere und den letzten Angstruf ihres Vaters, als das Postschiff versank; sie erzählte, wie das eiskalte Wasser sie ergriffen und wie sie sich unwillkürlich an eine treibende Planke geklammert hätte; sie beschrieb ihre Verzweiflung, als sie an Bord des Sauvage erwacht sei und ihren Vater vermißt habe, und den noch größern Jammer, als sie seinen Leichnam erblickt hätte und ihre letzte Hoffnung auf seine Rettung zerstört gewesen wäre. Sie vergoß viele heiße Thränen, und ihre Zuhörer ließen es an Teilnahme bei der herzzerreißenden Schilderung nicht fehlen; Mutter Monika hatte die Hände gefaltet und murmelte einmal über das andere: »Jesus Maria, heilige Anna, erbarme dich!« Selbst der alte Jakob war ganz gerührt, Katharina schluchzte laut, und der brave Michel weinte so heftig, daß der Tisch vor ihm von seinen Thränen überschwemmt war. Als Magdalene schwieg, rief er mit Begeisterung: »Daraus würde Jean Kerlo den schönsten Gesang machen, den man je gehört hat!«

»O Mutter, Großmutter, seht doch!« rief Anna plötzliche »Ludwig weint auch!«

Alle Blicke richteten sich auf den Knaben, auf den bisher niemand geachtet hatte. Er hatte sich langsam Magdalenen genähert und sich zu ihren Füßen hingekauert, dort saß er regungslos und heftete die Augen auf ihr bleiches Gesicht, während über seine Wangen große Thränen herabrollten, die noch nie jemand an ihm gesehen hatte.

»Was ist dir, mein Ludwig?« fragte Katharina, indem sie ihn in ihre Arme nahm.

Der Knabe machte sich sanft von ihr los; er holte die Harzfackel, welche abends den Spinnerinnen zu leuchten pflegte, zündete sie an und knieete vor Magdalenen nieder.

»Was meint er?« fragte sie erstaunt.

»Die heilige Anna weint!« sagte der Kleine in feierlichem Ton. »Gute, heilige Frau Anna, bitte für uns!«

»Er ist einfältig, der arme Junge,« sagte Michel zu Magdalene. »Fürchten Sie sich nicht vor ihm, er ist sehr gutartig, thut niemand etwas zu leide und liebt alle, die freundlich zu ihm sind. Er hat noch nie etwas so Schönes gesehen, wie Sie, daher hält er Sie für die heilige Anna und zündet Ihnen eine Kerze an, um Sie zu trösten.«

Magdalene betrachtete den Knaben, und seine Schönheit rührte sie. Er sah in diesem Augenblick nicht schwachsinnig aus, seine großen Augen glänzten von Andacht und Bewunderung, und sie beugte sich über ihn, um seine Stirn zu küssen. Er lächelte entzückt, als hätte er eine Vision, dann fielen ihm plötzlich die Augen zu, die Kerze entsank seiner Hand, und er wäre zu Boden gefallen, wenn ihn seine Mutter nicht aufgefangen hätte.

»Erschrecken Sie nicht,« sagte Michel ruhig, »es passiert ihm zuweilen, daß er in Ohnmacht fällt, wie eine feine Dame; man braucht ihn nur an die Luft zu bringen, so geht es vorüber.«

Wirklich kam Ludwig bald wieder zu sich, er setzte sich auf die kleine Bank am Herde und versank wieder in sein gewohntes, träumerisches Wesen. Erst als Magdalene, die mit Anna und Katharina das ganze Haus besehen hatte, wieder ins Zimmer trat, hob er schnell den Kopf und verfolgte das junge Mädchen mit aufmerksamen Blicken.

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