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Sie lehnte ihr müdes Haupt an den Stamm der Eiche und weinte bitterlich.

Zehntes Kapitel.
Frühlingswehen.

Der Frühling ist gekommen
Mit sonnenhellem Glanz,
Er schmücket Wald und Auen
Mit Grün und Blütenkranz.

Aus deinem Todesschlummer
Erwach' auch du, mein Herz,
Mit den beschwingten Sängern
Steig' jubelnd himmelwärts.

Soll's in dir Frühling bleiben,
So nimm eins wohl in acht:
Es ist allein die Liebe,
Die alles sonnig macht!

Magdalene war nicht so ruhig, wie sie erschien; sie glaubte, ersticken zu müssen, und ihr einziger Wunsch war der, sich irgendwo zu verbergen, wo sie ganz allein war und ihr schweres Herz ausweinen konnte. Sie ging nicht in ihre Stube hinauf, denn sie fühlte sich dort nicht heimisch genug; sie eilte hinaus unter Gottes freien Himmel, das einzige Dach in der Welt, das sie ihr eigen nennen konnte. Atemlos lief sie weiter und ließ die Wiesen und Felder hinter sich, wo sie noch Menschen treffen konnte, bis sie in ein kleines Gehölz kam, in dessen stille Tiefe kein menschlicher Laut drang. Dort, ganz allein inmitten des sprossenden Grüns, setzte sie sich auf den Boden nieder, lehnte ihr müdes Haupt an den Stamm einer weithin ragenden Eiche und weinte bitterlich.

Es giebt Augenblicke, in denen man seine Thränen gewaltsam zurückdrängen muß, weil man fühlt, daß sie das Auge versengen und den Schmerz nur vermehren würden; aber es giebt auch andere, wo sie den Kummer lindern und den schweren Druck vom Herzen nehmen. So weinen Kinder ihre Kümmernisse aus, und Magdalene war ja auch noch ein Kind. Ihre Thränen erleichterten die Bürde, die sie drückte, sie fühlte sich beruhigt, trocknete ihre Augen und blickte um sich.

Das Gehölz stellte einen Wald im kleinen dar und war so frisch und lieblich, daß man sich nichts Reizenderes denken konnte. Es war nicht die düstere Schönheit eines alten Waldes, wo die dichten Laubmassen einen undurchdringlichen Schatten werfen, in dem man in scheuer Ehrfurcht umherwandert wie in einer Kirche und unwillkürlich die Stimme dämpft: es war vielmehr die heitere Grazie der Kindheit, welche sich in diesen jungen Stämmchen abspiegelte, die in dichtem Gedränge wuchsen, sich gegenseitig stützten, miteinander gen Himmel strebten und sich mit einem durchsichtigen Schleier des zartesten Grüns bedeckten, welches noch kaum einen Schatten auf den Boden warf.

Die heiteren Strahlen der Frühlingssonne fielen auf das Netzwerk von jungen Zweigen und ließen hier das leuchtende Weiß eines Birkenstammes, dort die dunkelgrünen Nadeln einer drei Fuß hohen Tanne oder die rötlichen Sprossen einer jungen Eiche schärfer hervortreten. Der Himmel war von einer sanften, durchsichtigen Bläue, die Sinne und Gedanken erquickte; im Grase, auf dem noch hier und da der Morgentau erglänzte, hoben die Schlüsselblumen ihre gelben Köpfchen empor, die Veilchen hauchten süßen Wohlgeruch aus, der Ehrenpreis öffnete die blauen Augen, die Sternblumen wiegten ihre silbernen Blüten auf dem feinen Stengel, und eine Grasmücke sang von einem blühenden Dornbusch herab ihr Lied zum Preise des Frühlings und der neuerwachten Freude, der Schönheit der Natur und der Güte Gottes.

Magdalene sah und hörte das alles, ohne es anfangs zu beachten, aber allmählich drang dieser Friede, diese Lieblichkeit in ihre einsame, verbitterte Seele ein. Sie fühlte auf einmal, sie wußte selbst nicht wie, daß ihr Leben noch nicht am Ziel, die Hoffnung für sie noch nicht erstorben sei, daß in irgend einer verborgenen Falte die Zukunft auch für sie noch ein Glück aufbewahren könne. Und während ihr Gemüt sich der Hoffnung erschloß, erwachte auch die Liebe darin; Annas Beleidigungen erschienen ihr nicht mehr so furchtbar, sie konnte sich darüber hinwegsetzen und ruhiger als bisher darüber nachdenken. Eine himmlische Stimme ließ sich in ihrem Herzen hören, und sie lauschte ihr andächtig.

»Sei auf deiner Hut!« sagte die Stimme. »Dein Unglück ist groß und schwer, aber es giebt viele Menschen außer dir, die leiden müssen, und kein Unglück giebt uns ein Recht, selbstsüchtig und ungerecht zu sein. Ist es nicht Selbstsucht, wenn du niemals um dich schaust und fragst, wie du anderen eine Freude machen könntest? Ist es nicht ungerecht, wenn du diese armen, unwissenden Menschen tadelst, weil sie das Zartgefühl und die Großmut nicht besitzen, die doch selbst in bevorzugteren Kreisen nicht immer zu finden sind? Wie schwer ist ihr arbeitsvolles Los! Wie mühsam müssen sie das Geld, das sie so festhalten, erwerben! Zeigst du das wahre Zartgefühl, wenn du dich durch ihr Benehmen verletzen läßt und darüber den Dank für ihre Wohlthaten vergißt? Wo solltest du eine Zuflucht finden, wenn du sie nicht hättest? Ihre Gastfreundschaft ist rauh, und du würdest an ihrer Stelle vielleicht freundlicher handeln und reden wie sie; aber wer weiß, ob sie an der deinigen nicht mehr Mut zeigen würden wie du? Und an eins hast du noch nie gedacht, was deine Lage mildern könnte: dir Liebe zu erwerben!«

Magdalene beugte ihr Haupt unter diesen Vorwürfen ihres Gewissens; sie dachte an ihren Vater, der sie mit so viel Sorgfalt erzogen, der sich immer bemüht hatte, ihren Charakter zu stählen, und sie schämte sich, daß sie seinen Lehren so wenig entsprochen hatte. »Man lobte mich,« dachte sie, »so lange mir nichts abging, so lange ich nur hinzuleben brauchte und nie einen Stein auf meinem Wege fand; jetzt habe ich keinen Führer mehr, und ich weiß mich selbst nicht zu leiten. O mein Gott, führe du mich und lehre mich, deinen Willen treuer zu erfüllen als bisher, laß du mich so werden, wie es mein Vater wünschte!«

Magdalene erhob sich; sie wäre gern noch länger hier geblieben, wo sie sich so wohl fühlte, aber sie mußte ins Haus zurückkehren und suchen, sich nützlich zu machen; sie verließ das Gehölz und pflückte im Gehen ein Sträußchen Schlüsselblumen, das sie als eine Mahnung an ihre Vorsätze und einen Talisman gegen die wiederkehrende Versuchung mitnehmen wollte.

Niemand sprach zu ihr, als sie zurückkam; Katharina war hinausgegangen, um die Kühe zu melken, welche an schönen Tagen schon draußen weideten, und die alten Tregans hatten nicht die Gewohnheit, sie zuerst anzureden. Sie begrüßte sie höflich, nahm das Gemüse, das Monika zum Abendessen bereiten wollte, und putzte es flink und geschickt; dann holte sie Wasser, zündete das Feuer an und fragte freundlich, ob sie sonst noch etwas brauche, was die Alte so überraschte, daß sie unwillkürlich sagte: »Vielen Dank, liebes Fräulein.« Magdalene achtete nicht darauf, sie hatte eine andere Idee, die sie ganz erfüllte.

Sie ging in ihre Stube und setzte ihr Sträußchen ins Wasser; es verbreitete einen leisen Honigduft, der sie an die liebliche Stelle erinnerte, wo sie es gepflückt hatte. Dann durchsuchte sie ihre Schubladen, die noch mit einer Menge von Sachen aus ihrer besseren Zeit angefüllt waren, mit Spitzen, Bändern und anderen Dingen, die sie vielleicht nie mehr gebrauchen würde, denn sie dachte nicht daran, je ihre Trauerkleidung abzulegen. Sie nahm ein Stück hübscher Spitzen und verschiedene Knäulchen bunter Seide und Wolle heraus, schlich in die Küche zurück, nahm heimlich aus Annas Truhe das verachtete Jäckchen, den besten Kragen und ein Häubchen und trug sie so verstohlen in ihr Zimmer, als ob sie einen Diebstahl beginge.

Am Abend vor Ostern ging Anna seufzend an ihre Truhe, um ihre Sachen herauszunehmen und ihnen noch einen Strich mit der Bürste oder dem Plätteisen zu teil werden zu lassen, während ihre Mutter ihr eine eindringliche Rede über neue Kleider, leere Beutel und verlassene Waisen hielt. Magdalene beobachtete Anna, sie sah dieselbe den Kasten öffnen und erstaunt zurückfahren: »Mutter, Großmutter!« rief sie, »was ist das für eine Schachtel? O Himmel, eine Haube mit Spitzen und ein Spitzenkragen und darunter – ach was ist das?«

Sie ließ die Sachen fallen und blieb entzückt mit gefalteten Händen vor ihrem Jäckchen stehen, das kaum wieder zu erkennen war, im Glanz seiner bunten Stickerei, die mit Gold- und Silberfäden durchschossen war.

»Wer hat das gethan?« fragte sie und sah die Ihrigen an, aber sie erkannte bald, daß diese ebenso überrascht waren wie sie selbst. Sie warf einen Blick auf die lächelnde Magdalene und wurde so rot wie eine Päonie. »Sie, Fräulein?« stammelte sie sehr beschämt.

»Ich verstehe mich ein wenig auf Handarbeit, nicht wahr, Anna?« sagte Magdalene heiter. »Ich rede nicht von den Spitzen, die habe ich nur angenäht, aber ich habe mir alle Mühe gegeben, die Stickerei ebenso hübsch zu machen, wie die Mariens war; ist es mir gelungen?«

Anna ergriff ihre Hände und drückte sie an sich, dann küßte sie das gestickte Jäckchen, als wäre es ein lebendes Wesen, und stotterte nur immer: »O Fräulein Magdalene, Fräulein Magdalene!«

»Ich bin sehr, sehr froh, dir eine Freude gemacht zu haben, meine gute Anna,« sagte das junge Mädchen herzlich, indem sie jene umarmte und auf die Stirn küßte. Das war zu viel für Anna; sie fühlte wohl, wie wenig sie diese Freundlichkeit verdient habe, schlang ihren Arm um Magdalene und ließ ihre Thränen strömen wie einen Wasserfall – zum größten Erstaunen der alten Monika, die nicht begriff, weshalb sie eigentlich weine, während ihr doch all ihre Wünsche erfüllt seien. Katharina verstand sie besser und dankte ihrer »lieben Kleinen« aus tiefstem Herzen.

Der nächste Tag brachte Anna einen großen Triumph; im Schmuck ihres Spitzenhäubchens, ihrer schönen Jacke und ihrer strahlenden Miene war sie in der Kirche und beim Ablaß, auf dem Wege und beim Tanz die Schönste von allen. Auch Mutter Monika war stolz und glücklich: Peter Kado, der zweite Sohn des reichen Bauern von Chenaie, wich den ganzen Tag nicht von Annas Seite. Der Bursche war eine gute Partie; da er einen älteren Bruder hatte, so brauchte man ihn zu Hause nicht; heiratete er, so erhielt er seinen Erbanteil in klingendem Gelde ausgezahlt. Wenn er Anna zur Frau wählte, so konnte er mit ihr im Schlosse Doué wohnen, und von seinem Vermögen ließ sich die Feldmark erweitern und abrunden. Monika baute die schönsten Luftschlösser und übertrug ihre gute Laune sogar auf Magdalene, die ihren Liebling so schön geschmückt hatte. Der brave Michel hielt sie für eine gute Fee und bewunderte sie noch mehr als früher, nur der alte Jakob blieb ungerührt; er liebte es nicht, daß die Mädchen sich putzten, und hielt dafür, man solle das teure Geld lieber in den Schrank schließen, als es auf Flitterstaat verwenden, der nur den Geschmack an der Arbeit verdürbe.

Er war ein langweiliger Gefährte für Magdalene, die den ganzen Nachmittag mit ihm allein war. Während die anderen alle in Muzillac blieben, um die Freuden des Kirchweihfestes zu genießen, war sie mit Katharina zurückgekehrt, doch als diese ihrem Schwiegervater das Mittagessen besorgt und das Vieh versehen hatte, ließ sie sich gern überreden, noch einmal zum Fest zu gehen und Magdalene allein zurückzulassen.

Der einsame Tag war nicht ohne Reiz für das junge Mädchen; nachdem sie allerlei in der Wirtschaft besorgt hatte, setzte sie sich auf die steinerne Bank vor der Thür, nahm ein Buch zur Hand und genoß den stillen Frieden, der sie umgab. Die Sonne sank, und die Wolken färbten sich schon mit goldenem Schimmer, ein leichter Nebel stieg am Horizonte auf und wob einen durchsichtigen Schleier um die Ferne, während alle Gegenstände in der Nähe, die Bäume und Sträucher, die Häuser mit den roten Ziegel- oder Strohdächern, die mit tausend Blütensternen übersäten Ränder des Weges im sanften Lichte der untergehenden Sonne erglänzten. Das murmelnde Wasser des Brunnens, das Summen der Insekten, das Zirpen und Zwitschern der kleinen Vögel, die Moos und Wolle für ihre Nester suchten, das alles klang in einem leisen, harmonischen Akkord zusammen, welcher zu sagen schien: ist es hier nicht gut sein? ist das Leben nicht schön?

Magdalene ließ ihr Buch sinken und überließ sich einer süßen Träumerei; sie verwob Gegenwart und Vergangenheit, Phantasie und Wirklichkeit und malte sich ein ideales Dasein aus, inmitten einer Natur, die noch lieblicher und reizvoller sein mußte als die, welche sie umgab. Ihr geliebter Vater lebte wieder; an seinem Arm wandelte sie durch diese Fluren, über diese Hügel, indem sie wie ehemals mit ihm plauderte und ihm alle Gedanken, Sorgen und Zweifel mitteilte, ganz befriedigt und ohne Sehnsucht, wieder in das geräuschvolle Leben der Stadt zurückzukehren. »Dort,« dachte sie, »am Rande meines geliebten Wäldchens müßte ein Haus stehen, am Fuß des Hügels, der es vor dem Nordwinde schützt; ein sauberes, weißes Haus, nicht zu groß, aber anders als die Bauernhäuser. Darin müßten Bücher sein und ein Klavier und rundherum, statt der Ginsterbüsche, ein hübscher Blumengarten mit Wegen, die mit weißem Sand bestreut wären. Die Wirtschaftsgebäude und Ställe etwas entfernt, damit man nicht unter dem Geruch litte, und doch nah genug, um sie zu beaufsichtigen; Klaudine müßte ihren eigenen Stall bekommen, sie dürfte nie verkauft werden, auch nicht, wenn sie alt würde und keine Milch mehr gäbe. Mein teurer Vater sagte immer, er würde sich später gern aufs Land zurückziehen; ich lachte und begriff seinen Geschmack nicht, jetzt würde ich seine Ansicht teilen. O, wenn er noch lebte! Er würde die Leute lehren, bessere Häuser zu bauen, er würde Maschinen kommen lassen, für den Unterricht der Kinder sorgen – ach, wie glücklich würden wir sein!«

Magdalenens Gedanken wurden durch singende Stimmen unterbrochen, ohne Zweifel waren es die heimkehrenden Hausgenossen. Ohne sich mit schmerzlichen Betrachtungen über den Gegensatz zwischen Traum und Wirklichkeit aufzuhalten, sprang sie auf, setzte die Schüsseln zurecht und warf eine Hand voll Reisig ins Feuer, um die Suppe zu wärmen; sie hatte ein gutes Abendessen bereitet, Kohl, Kartoffeln und Speck sollten eine Mahlzeit bilden, ähnlich der einer städtischen Küche – Magdalene fing an, sich für ihre Obliegenheiten zu interessieren, das war das sicherste Mittel, sich glücklicher zu fühlen.

Sie war mit allem fertig, als die Familie eintrat und mit ihr Jean Kerlo, der in Muzillac gesungen und gebettelt hatte, denn wie er sagte, konnte er immer auf eine gute Ernte hoffen, wo so viele fromme Christen zusammen kämen, um zu beten und vergnügt zu sein. Er führte Ludwig an der Hand, der eine große Zuneigung für ihn hatte und ihm nicht von der Seite wich.

»Ludwig scheint Euer guter Freund zu sein, Kerlo,« sagte der alte Jakob.

»Gewiß,« erwiderte Jean, »der Junge liebt mich und meine Gesänge, und sobald ich den Mund aufthue, pflanzt er sich vor mir auf und hört aufmerksam zu. Ich wette, er könnte alles wiederholen, wenn er wollte. Singt er nie zu Hause?«

»O ja, oft. Höre, Ludwig, willst du nicht ein Lied für Jean Kerlo singen, weil er dein guter Freund ist?«

Der Knabe schien ihn nicht zu hören, er war ganz darin vertieft, Magdalenens Bewegungen zu beobachten.

»Welch Einfaltspinsel,« sagte Jakob achselzuckend. Plötzlich stand Ludwig auf, trat an Magdalene heran, ergriff ihre Hand und sang mit seiner klaren Stimme:

Es kann die arme Perrine nicht mit zum Feste gehn,
Man läßt sich in Alltagskleidern nicht unter den andern sehn.
Wohl hat sie im vorigen Winter begonnen mit emsiger Hand,
Zu nähn eine zierliche Haube und auch ein schmuckes Gewand.
Doch da ist die Krankheit gekommen und hat das Elend gebracht,
Es mußte die arme Perrine sich mühen bei Tag und bei Nacht.
Sie mußte die Kranken pflegen, das Haus und die Wirtschaft versehn,
Sie mußte waschen und backen, das Gras aus der Wiese mahn.
Wohl ließ sie die fleißigen Hände vom Morgen bis Abend nicht ruhn,
Doch konnt' an den Festtagskleidern kein einziges Stichlein sie thun.
Es hätte ihr freilich der Schneider geholfen, so viel ihr gefällt,
Doch woher nähme Perrine für solche Hilfe das Geld?
Nun sind ihre Eltern genesen, genug hat Perrine gewacht,
Auch du kannst zur Ruhe nun gehen, du treue Perrine, gut' Nacht.
Und als sie in Schlummer gesunken, da wird es auf einmal hell,
Und eine herrliche Fraue tritt über des Hauses Schwell'!
Es leuchtet ihr blauer Mantel, ihres weißen Kleides Glanz,
Sie trägt auf ihrem Haupte einen lichten Strahlenkranz.
Sie setzt sich auf die Truhe und nimmt in die zarte Hand
Perrinens ärmlich Jäckchen, ihr einfaches Gewand.
Es fliegen die weißen Finger, vollendet ist es im Nu,
Dann schwebt sie fort und lächelt Perrinen freundlich zu.
Perrine erwachte am Morgen: »Ihr Heil'gen, es träumte mir,
Die süße Jungfrau Maria sie wäre selber allhier.«
Du glückliche Perrine, es ist ja nimmer ein Traum,
Geh nur an deine Truhe, du traust deinen Augen kaum.
Da liegt ein zierlich Häubchen, wie aus Sommerfäden gemacht,
Es blühen auf deinem Jäckchen die Blumen in schönster Pracht;
Sie sind wohl nach dem Muster der Himmelsblumen gestickt.
– So ging Perrine zum Feste, am schönsten von allen geschmückt.

Magdalene, die den bretonischen Dialekt zu verstehen anfing, war sehr erstaunt über diesen Gesang und fragte Kerlo, ob er ihn Ludwig gelehrt habe.

»Ich habe ihn vor ihm gesungen, das ist gewiß,« erwiderte der Bettler, »aber der meinige war anders, er hat ihn sich selbst zurechtgestutzt und allerlei von seiner eigenen Erfindung hineingeflochten, das gestickte Jäckchen zum Beispiel. Es ist ein merkwürdiger Junge, einfältig in manchen Stücken und in anderen das Gegenteil. Vielleicht wird er nie etwas Rechtschaffenes arbeiten können, aber was thut das, wenn er singen und neue Lieder ausdenken kann? Es bleibt doch wahr, daß die einfältigen Herzen des lieben Gottes liebste Kinder sind!«

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