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»Da sitzt sie schon wieder und thut nichts!«

Neuntes Kapitel.
Ein einsamer Winter.

Draußen herrscht ein starrer Winter,
Innen auch ist's kalt und trübe.
Ach, mir frieren Herz und Hände
Ohne Sonnenschein und Liebe!

Magdalene hatte volle Zeit, sich zu erholen, ehe die Antwort des Notars eintraf: er hatte an mehr Dinge zu denken, als an die Garaysche Angelegenheit. Endlich schrieb er an sie, wünschte ihr Glück zu ihrem Aufenthalt in der gesunden Landluft und bat sie, es sich dort wohl sein zu lassen, da ihre Verhältnisse noch lange nicht geordnet wären. Es fiel ihm nicht ein, ihr mitzuteilen, ob etwas für sie übrig bleiben werde oder nicht; sie war ja minderjährig, und die Sache ging sie nach seiner Ansicht so wenig an, als ob sie erst sechs Monate alt gewesen wäre. Übrigens war er ein braver Mann, der im Interesse seiner Klientin sein Bestes that; er hatte sich sogar die Mühe gegeben, ihr außer dem Programm ein Verzeichnis all der Fragen zu verschaffen, welche in den letzten Jahren beim Lehrerinnenexamen gestellt worden waren; mit seiner Hilfe konnte sie sicher zum Ziel gelangen.

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Die arme Magdalene begrüßte dies kleine Heft wie einen Retter aus aller Not, denn sie fand das Leben traurig und die Tage sehr lang. Um sich zu beschäftigen und um sich für die Gastfreundschaft, die sie genoß, dankbar zu zeigen, hatte sie sich bei fast allen Arbeiten in Haus und Hof beteiligt, wenigstens so weit es Katharina gestattete, die immer noch davor zitterte, sie könnte von neuem krank werden. Aber wenn Katharina auf dem Felde war, fiel das junge Mädchen der alten Monika anheim, und diese fand ein boshaftes Vergnügen darin, das Fräulein zu allen Arbeiten einer Magd heranzuziehen. Magdalene gehorchte schweigend; sie holte in den schweren Henkelkrügen Wasser aus dem Brunnen, der zweihundert Schritte vom Hofe entfernt war; sie holte Holz, zersägte es sogar, lernte die Kühe melken, den Hühnerstall reinigen, das Futter für die Schweine zubereiten, die Wäsche auswinden und zusammenlegen. Abends war sie so müde, daß sie sich nur nach dem großen Bett in der roten Stube sehnte, sie schlief ein, ohne Zeit zu einem einzigen Gedanken zu haben, und erwachte beim ersten Hahnenschrei, um denselben eintönigen Kreislauf von neuem zu beginnen.

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Das Landleben hat einen großen Reiz für den, der es richtig aufzufassen versteht, aber welches Interesse sollte die arme Magdalene daran nehmen? Ihr gehörte nichts: die Getreidehaufen, die Wäschebündel, die Säcke voll Kartoffeln waren ihr unendlich gleichgültig, denn sie hatte keinen Teil daran. Die Tiere hätten sie mehr anziehen können, aber wie sollte sie eine Zuneigung zu dem Hühnervolk fassen, von dem man zu jedem Markttage die schönsten und schwersten Stücke aussuchte, um sie zu verkaufen? Oder zu den Schafen mit der schmutzigen Wolle, die sich immer auf dieselbe Weise im Stalle herumdrängten und ihn nie verließen, außer um zum Fleischer zu wandern? Magdalene konnte kein Vergnügen an ihrer Gesellschaft finden, aber auch die Hausgenossen flößten ihr kein größeres Interesse ein; die Schafe sagten zwar nichts, aber was die Menschen redeten, war doch auch ohne alle Bedeutung. Sie jammerten über Unglücksfälle, welche nicht der Rede wert, sie lachten über Scherze, die nicht witzig waren, und Magdalene mußte sich oft zusammennehmen, um ihnen nicht zu zeigen, wie tief sie solche Unterhaltungen verachte. Selbst Katharina fand trotz all ihrer Güte nicht immer Gnade vor den Augen des jungen Mädchens; sie war doch im Grunde gerade so wie die anderen. Das arme Kind fühlte sich grenzenlos einsam: nichts, nichts für Geist und Herz! So erwartete sie denn mit Ungeduld den Lehrplan, mit dessen Hilfe sie sich eine Zukunft schaffen wollte, und wenn die Aussicht auch nicht sehr verlockend war, so erschien sie ihr doch dem Leben auf dem Bauernhöfe gegenüber entschieden wichtiger.

Mit fieberhafter Spannung durchblätterte sie das »Verzeichnis der Aufgaben«, das ihr der Notar geschickt hatte, indem sie die Fragen beantwortete, so weit sie konnte, und diejenigen mit einem Kreuz versah, die ihr Schwierigkeiten machten. Eine Woche hindurch arbeitete sie vom Morgen bis zum Abend; sie fing mit der Dämmerung an und brachte abends ihr Buch an das Licht, bei welchem Monika spann und Katharina strickte. Doch schon vor Ablauf dieser Zeit konnte sie sich kaum verhehlen, daß ihre neue Beschäftigung die äußerste Unzufriedenheit erregte; man nahm wenig Anstand, sich in ihrer Gegenwart darüber auszusprechen, vermutlich in der Meinung, daß sie nichts höre, sobald sie in ihre Bücher vertieft sei.

»Da sitzt sie schon wieder und thut nichts!« sagte Mutter Monika.

»Ja,« versetzte Jakob, »da setzt sie die Füße recht bequem ans Feuer und steckt die Nase ins Buch, und du magst dich abquälen und die Suppe für sie kochen. Ich würde mich bedanken, ihr Suppe zu geben! Wer nicht arbeitet, der soll auch nicht essen, aber ihr seid viel zu gutmütig.«

»Aber die Damen sind dazu erzogen, um den ganzen Tag zu lesen,« warf Michel ein. »Es liegt ihnen im Blut, sie können nichts dafür.«

»Sie lernt aus ihren Büchern,« erklärte Katharina, »um das alles den Herren wieder zu erzählen, die sie danach fragen werden; wenn sie gut antworten kann, so erhält sie eine Stelle als Lehrerin. Dies ist ihre Lehrzeit; du weißt, Mutter, alle Mädchen müssen in die Lehre gehen, wenn sie schneidern oder plätten lernen.«

»O ja, und die Eltern bezahlen dafür, und sie müssen die Stuben aufräumen und die Einkäufe besorgen. Aber was thut dies schöne Fräulein für uns? Sie fing eben an, sich ein klein wenig nützlich zu machen, aber seit diese abscheulichen Bücher gekommen sind, ist sie zu nichts mehr zu gebrauchen. Ich wollte, die Leute hätten sie für sich behalten, statt sie hierher zu schicken.«

»Lorenz würde sich darüber freuen, er liebt Bücher so sehr.«

»Lorenz, ja, das ist auch so ein Nichtsthuer, aber wenn er einmal Pfarrer wird, so laß ich es gelten, sonst wären auch all seine Schriften zu nichts gut.«

Katharina war froh, daß das Gewitter an Magdalene vorüber zog und sich gegen Lorenz wendete; er konnte nicht darunter leiden, und das junge Mädchen hatte wenigstens für den Augenblick Ruhe. Aber diese fühlte trotzdem die unwilligen Mienen; sie hörte, wie mehr als einmal Anna ärgerlich sagte, sie sei wieder nicht fertig geworden, sie könne nicht alles ganz allein besorgen, wobei sie ihr einen sehr verständlichen Seitenblick zuwarf. So entschloß sie sich seufzend, ihren Wirten wieder bei ihrer Arbeit zu helfen und nur einzelne Stunden für sich zu benutzen, um schwierige Rechnungen zu lösen oder Geschichte und Grammatik zu studieren. Wenn die Wäsche glücklich in den Truhen untergebracht und alles Vieh besorgt war, dann gab es Ruhe, und besonders der Winter brachte um die Mitte des Tages jedem Hausgenossen seine Mußestunden: dann rauchte der alte Jakob seine ewige Pfeife, seine Frau rückte sich in die wärmste Ecke am Herde und nickte über ihrem Spinnrad sanft ein, während die Katze schnurrend in der warmen Asche lag und Ludwig daneben auf seinem kleinen Schemel saß und unbeweglich ins Leere starrte. Dann setzte sich Katharina ans Fenster, um allerlei zerrissene Kleidungsstücke auszubessern, und Anna vertrieb sich die Zeit damit, daß sie ihren Festtagsstaat aus der Truhe nahm, um ihn zu lüften und sich an seinem Anblick zu erfreuen. Michel klopfte Nägel zurecht oder stellte zerbrochene Geräte her, dazwischen gähnte er laut, ging hinaus, um nach dem Vieh zu sehen, und kehrte zurück, um sich im Schoße seiner Familie weiter zu langweilen. Zuweilen kamen Nachbarinnen mit ihrem Strickzeug zum Besuch; dann gab es ein Schwatzen und Klatschen, was kein Ende nahm. Magdalene haßte diesen Lärm, der ihr Kopfschmerzen verursachte, obgleich sie nicht viel von dem bretonischen Dialekt verstand; dann flüchtete sie in ihr Zimmer und suchte die Trübseligkeit ihres Lebens in angestrengtem Studium zu vergessen. Aber wie bitter kalt war es dort! Wenn sie sich auch in einen großen Shawl wickelte und sich ganz in ihre Bücher zu vertiefen suchte, um nicht daran zu denken, daß es draußen stark, und in ihrer Stube gelinde fror, so konnten ihre erstarrten Finger doch oft die Feder nicht halten, und ihr Atem reichte nicht aus, um sie wieder zu erwärmen. Und wie viele Schwierigkeiten begegneten ihr in ihren Aufgaben, wie schmerzlich vermißte sie jemand, der sie ihr erklären konnte! Früher, als ihr Vater noch lebte, war alles so leicht gewesen; wenn sie ihm sagte, daß sie etwas nicht verstünde, so half er ihr unmerklich auf den rechten Weg, und sie fand ohne Mühe das Richtige heraus. Alles, was er ihr sagte, war klar und verständlich; was sie von ihm gelernt hatte, das wußte sie genau und konnte es nie wieder vergessen. Jetzt fühlte sie sich bei jedem Schritte gehemmt, und bei jeder neuen Schwierigkeit empfand sie ihren unersetzlichen Verlust mit neuem Schmerz. Dann schob sie ihr Buch fort, weil ihr die aufsteigenden Thränen das Auge trübten, dann schluchzte und jammerte sie: »O Vater, Vater! warum muß ich ohne dich leben?« Arme Magdalene! sie fühlte sich so verlassen, als ob sie allein unter Wilden hauste.

Dennoch hatte sie eine bescheidene Freundin, die gewiß nicht ahnte, daß sie dem einsamen Mädchen wohlthat. Wenn Magdalene mit Anna zu den Kühen ging, um, je nach der Tageszeit, ihnen Futter zu bringen oder sie herauszulassen, so begrüßte sie stets Klaudine mit besonderer Aufmerksamkeit; war sie doch ihr Eigentum, ihre Ernährerin, der einzige Besitz, der sie davor bewahrte, wirklich eine Bettlerin zu sein. Sie hatte sich gewöhnt, die Kuh zu liebkosen, zuerst etwas furchtsam, bald aber mutiger, und jetzt klopfte und streichelte sie ihr das rote, glänzende Fell mit wahrer Zärtlichkeit und redete sie dabei mit sanften Schmeicheltönen an: meine gute Klaudine, mein braves, tüchtiges Tier. Die Kuh verstand sie auf ihre Art, wenigstens merkte sie, daß Magdalene es gut mit ihr meinte, und rieb zur Erwiderung ihren mächtigen Kopf an der liebkosenden Hand ihrer jungen Herrin. Trat diese in den Stall, so empfing sie dieselbe mit sanftem Gebrüll und erschien traurig, wenn sie einen ganzen Tag ausblieb; ja, im Freien erkannte die Kuh sie schon von weitem, lief ihr entgegen und folgte ihr bis zum Hofe, wie ein Hund. In den Tagen ihres Glückes hätte Magdalene wohl darüber gelacht, daß ihr die Liebe eines Tieres – und noch dazu einer Kuh, die nicht gerade wegen ihrer Klugheit berühmt ist – einen Trost gewähren könnte, jetzt war ihr diese Anhänglichkeit eine wahre Freude.

Aber trotz dieser Freundschaft und der ebenso einfältigen des kleinen Ludwig verlebte Magdalene doch einen traurigen Winter. Ihre Gesundheit freilich litt in der Folge weder unter der Kälte, noch unter der groben Nahrung; sie wuchs und kräftigte sich trotz Arbeit und Entbehrung, und als die Aprilsonne die letzten Eiszapfen zerschmelzen ließ und die ersten Maßliebchen hervorlockte, glich sie nicht mehr dem zarten, schmächtigen Kinde, das Katharina vor fünf Monaten nach Schloß Doué gebracht hatte. Sie trug sich so gerade wie eine junge Eiche und war so frisch wie eine Pfingstrose; ihre schwarzen Augen glänzten wie Sterne, und wenn auch ihr Teint etwas von seiner Weiße verloren hatte, so harmonierte doch diese warme Färbung so gut mit den roten Lippen und der dunklen Flechtenkrone auf ihrem Haupt, daß niemand es anders gewünscht haben würde. Katharina, welche ihre Blässe und ihren allzu schlanken Wuchs immer für ihren einzigen Fehler gehalten hatte, war entzückt von der vorteilhaften Veränderung und ließ es an Lobsprüchen ihrer Schönheit, die sie als ihr eigenes Werk ansah, nicht fehlen. Anna, welche diese zuweilen mit anhörte, fühlte sich sehr unangenehm dadurch berührt; der Spiegel, den sie eingehend zu Rate zog, sagte ihr gleichfalls, daß Magdalene hübscher sei, als sie selbst, und das machte ihr geringes Vergnügen. Nicht, daß sie in Fräulein Garay eine Nebenbuhlerin bei ländlichen Festen und Tänzen gefürchtet hätte – solch eine feine Dame tanzte nicht mit Bauernburschen, und diese hätten es wohl kaum gewagt, mit ihr zu sprechen –, aber sie zog doch die Blicke aller auf sich und that dadurch Anna Abbruch, die gern die erste Rolle spielte. – Sie fing daher an, Magdalene mit fortwährenden Nadelstichen zu verfolgen, und obgleich die letztere sich den Anschein gab, als ob sie dieselben nicht fühle, so entging ihr doch nicht einer, und oft war es nur der Stolz, der sie hinderte, in bittere Thränen auszubrechen. Zuweilen antwortete sie in gleichem Ton und machte jene dadurch still, aber solch ein Sieg war nur von kurzer Dauer.

Als Ostern näher kam, wurde Annas Laune immer schlechter; alle jungen Mädchen der Umgegend bekamen neue Kleider, aber Katharina erklärte, das Geflügel und die Eier hätten in diesem Winter keinen guten Preis gehabt, und man müsse sich mit den alten Sachen einrichten. Anna war entsetzt; ihr Rock war zur Not noch gut, aber ihre Jacke! solch ein armseliges Jäckchen ohne die geringste Verzierung am Rande und an den Armlöchern trugen nur alte Frauen, und sie wollte nicht für eine solche gehalten werden! Und nicht einmal eine neue Haube sollte sie bekommen? Die Spitzen an der ihrigen wären ja ganz zerrissen. Luise hätte sich einen neuen Tuchrock aus der Stadt kommen lassen, Lena besäße eine neue Spitzenhaube und Marie ein gesticktes Jäckchen, so schön wie kein zweites im Lande. Und sie sollte zur großen Ostermesse und zur Kirchweih mit lauter alten Sachen gehen, wie eine Bettlerin? Die Straßenjungen würden ihr nachlaufen und sie für eine Lumpensammlerin halten!

Sie regte sich immer mehr auf, während sie sprach, und hielt sich zuletzt für sehr unglücklich, umsomehr, als ihre Großmutter sie mitleidig ansah und mitunter ein bedeutsames Wort einwarf, wie »arme Anna, die Zeiten sind schlecht – und es giebt mehr Ausgaben als sonst – was man an der einen Ecke verschwendet, muß man an der andern ersparen.« Katharina war sehr ärgerlich und versuchte eben ihre Tochter zu beruhigen, ohne ihre Schwiegermutter zu erzürnen, als es an die Thür klopfte und ein junges Mädchen eintrat.

Es war Marie, die glückliche Besitzerin des gestickten Jäckchens; sie wollte es der Familie Tregan zeigen, teils um es bewundern zu lassen, teils um durch den Anblick Katharina anzuspornen, den Wunsch ihrer Tochter zu erfüllen. Aber Katharina bewunderte es nur, ohne etwas zu versprechen, und als Anna sah, daß ihre List gescheitert sei, hielt sie voll unterdrückter Wut das Kleidungsstück dicht vor Magdalenens Augen und sagte mit zitternder Stimme: »Da sehen Sie, wie schön das ist! und nur um Ihretwillen muß ich auf ein solches Stück verzichten!«

Sie hatte leise gesprochen, und die anderen konnten sie nicht verstehen, aber die alten Tregans errieten sehr wohl den Sinn ihrer Rede und wechselten einen triumphierenden Blick. Magdalene wurde blaß bei diesem offnen Vorwurf, aber sie erwiderte nichts, und mit einer Ruhe, die sie selbst in Erstaunen setzte, nahm sie das Jäckchen in die Hand, betrachtete es aufmerksam und gab es Marie zurück, indem sie freundlich sagte: »Es ist sehr hübsch, und die Stickerei ist reizend.« Dann stand sie auf und verließ das Zimmer.

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